Der Tod in Venedig - 4

Total number of words is 4231
Total number of unique words is 1859
32.5 of words are in the 2000 most common words
45.3 of words are in the 5000 most common words
51.7 of words are in the 8000 most common words
Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
unglaubliche Heiterkeit erschütterte von innen fast krampfhaft seine
Brust. Der Angestellte stürzte davon, um möglicherweise den Koffer
noch anzuhalten und kehrte, wie zu erwarten gewesen, unverrichteter
Dinge zurück. Da erklärte denn Aschenbach, daß er ohne sein Gepäck
nicht zu reisen wünsche, sondern umzukehren und das Wiedereintreffen
des Stückes im Bäderhotel zu erwarten entschlossen sei. Ob das
Motorboot der Gesellschaft am Bahnhof liege. Der Mann beteuerte,
es liege vor der Tür. Er bestimmte in italienischer Suade den
Schalterbeamten, den gelösten Fahrschein zurückzunehmen, er schwor,
daß depeschiert werden, daß nichts gespart und versäumt werden solle,
um den Koffer in Bälde zurückzugewinnen, und--so fand das Seltsame
statt, daß der Reisende, zwanzig Minuten nach seiner Ankunft am
Bahnhof, sich wieder im Großen Kanal auf dem Rückweg zum Lido sah.
Wunderlich unglaubhaftes, beschämendes, komisch traumartiges
Abenteuer: Stätten, von denen man eben in tiefster Wehmut Abschied auf
immer genommen, vom Schicksal umgewandt und zurückverschlagen, in
derselben Stunde noch wiederzusehen! Schaum vor dem Buge, drollig
behend zwischen Gondeln und Dampfern lavierend, schoß das kleine,
eilfertige Fahrzeug seinem Ziele zu, indes sein Passagier unter der
Maske ärgerlicher Resignation die ängstlich-übermütige Erregung eines
entlaufenen Knaben verbarg. Noch immer, von Zeit zu Zeit, ward seine
Brust bewegt von Lachen über dies Mißgeschick, das, wie er sich sagte,
ein Sonntagskind nicht gefälliger hätte heimsuchen können. Es waren
Erklärungen zu geben, erstaunte Gesichter zu bestehen,--dann war, so
sagte er sich, alles wieder gut, dann war ein Unglück verhütet, ein
schwerer Irrtum richtig gestellt, und alles, was er im Rücken zu
lassen geglaubt hatte, eröffnete sich ihm wieder, war auf beliebige
Zeit wieder sein... Täuschte ihn übrigens die rasche Fahrt oder kam
wirklich zum Überfluß der Wind nun dennoch vom Meere her?
Die Wellen schlugen gegen die betonierten Wände des schmalen Kanals,
der durch die Insel zum Hotel »Excelsior« gelegt ist. Ein automobiler
Omnibus erwartete dort den Wiederkehrenden und führte ihn oberhalb des
gekräuselten Meeres auf geradem Wege zum Bäder-Hotel. Der kleine
schnurrbärtige Manager im geschweiften Gehrock kam zur Begrüßung die
Freitreppe herab.
Leise schmeichelnd bedauerte er den Zwischenfall, nannte ihn äußerst
peinlich für ihn und das Institut, billigte aber mit Überzeugung
Aschenbachs Entschluß, das Gepäckstück hier zu erwarten. Freilich sei
sein Zimmer vergeben, ein anderes jedoch, nicht schlechter, sogleich
zur Verfügung. »Pas de chance, monsieur«, sagte der schweizerische
Liftführer lächelnd, als man hinaufglitt. Und so wurde der Flüchtling
wieder einquartiert, in einem Zimmer, das dem vorigen nach Lage und
Einrichtung fast vollkommen glich.
Ermüdet, betäubt von dem Wirbel dieses seltsamen Vormittags, ließ er
sich, nachdem er den Inhalt seiner Handtasche im Zimmer verteilt, in
einem Lehnstuhl am offenen Fenster nieder. Das Meer hatte eine
blaßgrüne Färbung angenommen, die Luft schien dünner und reiner, der
Strand mit seinen Hütten und Booten farbiger, obgleich der Himmel noch
grau war. Aschenbach blickte hinaus, die Hände im Schoß gefaltet,
zufrieden, wieder hier zu sein, kopfschüttelnd unzufrieden über seinen
Wankelmut, seine Unkenntnis der eigenen Wünsche. So saß er wohl eine
Stunde, ruhend und gedankenlos träumend. Um Mittag erblickte er
Tadzio, der in gestreiftem Leinenanzug mit roter Masche, vom Meere
her, durch die Strandsperre und die Bretterwege entlang zum Hotel
zurückkehrte. Aschenbach erkannte ihn aus seiner Höhe sofort, bevor er
ihn eigentlich ins Auge gefaßt, und wollte etwas denken, wie: »Sieh,
Tadzio, da bist ja auch du wieder!« Aber im gleichen Augenblick fühlte
er, wie der lässige Gruß vor der Wahrheit seines Herzens hinsank und
verstummte,--fühlte die Begeisterung seines Blutes, die Freude, den
Schmerz seiner Seele und erkannte, daß ihm um Tadzios willen der
Abschied so schwer geworden war.
Er saß ganz still, ganz ungesehen an seinem hohen Platze und blickte
in sich hinein. Seine Züge waren erwacht, seine Brauen stiegen, ein
aufmerksames, neugierig geistreiches Lächeln spannte seinen Mund. Dann
hob er den Kopf und beschrieb mit beiden, schlaff über die Lehne des
Sessels hinabhängenden Armen eine langsam drehende und hebende
Bewegung, die Handflächen vorwärts kehrend, so, als deute er ein
Öffnen und Ausbreiten der Arme an. Es war eine bereitwillig willkommen
heißende, gelassen aufnehmende Gebärde.


Viertes Kapitel

Nun lenkte Tag für Tag der Gott mit den hitzigen Wangen nackend sein
gluthauchendes Viergespann durch die Räume des Himmels und sein gelbes
Gelock flatterte im zugleich ausstürmenden Ostwind. Weißlich seidiger
Glanz lag auf den Weiten des träge wallenden Pontos. Der Sand glühte.
Unter der silbrig flirrenden Bläue des Äthers waren rostfarbene
Segeltücher vor den Strandhütten ausgespannt, und auf dem scharf
umgrenzten Schattenfleck, den sie boten, verbrachte man die
Vormittagsstunden. Aber köstlich war auch der Abend, wenn die Pflanzen
des Parks balsamisch dufteten, die Gestirne droben ihren Reigen
schritten und das Murmeln des umnachteten Meeres, leise
heraufdringend, die Seele besprach. Solch ein Abend trug in sich die
freudige Gewähr eines neuen Sonnentages von leicht geordneter Muße und
geschmückt mit zahllosen, dicht beieinander liegenden Möglichkeiten
lieblichen Zufalls.
Der Gast, den ein so gefügiges Mißgeschick hier festgehalten, war weit
entfernt, in der Rückgewinnung seiner Habe einen Grund zu erneutem
Aufbruch zu sehen. Er hatte zwei Tage lang einige Entbehrung dulden
und zu den Mahlzeiten im großen Speisesaal im Reiseanzug erscheinen
müssen. Dann, als man endlich die verirrte Last wieder in seinem
Zimmer niedersetzte, packte er gründlich aus und füllte Schrank und
Schubfächer mit dem Seinen, entschlossen zu vorläufig unabsehbarem
Verweilen, vergnügt, die Stunden des Strandes in seidenem Anzug
verbringen und beim Diner sich wieder in schicklicher Abendtracht an
seinem Tischchen zeigen zu können.
Der wohlige Gleichtakt dieses Daseins hatte ihn schon in seinen Bann
gezogen, die weiche und glänzende Milde dieser Lebensführung ihn rasch
berückt. Welch ein Aufenthalt in der Tat, der die Reize eines
gepflegten Badelebens an südlichem Strande mit der traulich bereiten
Nähe der wunderlich-wundersamen Stadt verbindet! Aschenbach liebte
nicht den Genuß. Wann immer und wo es galt, zu feiern, der Ruhe zu
pflegen, sich gute Tage zu machen, verlangte ihn bald--und namentlich
in jüngeren Jahren war dies so gewesen--mit Unruhe und Widerwillen
zurück in die hohe Mühsal, den heilig nüchternen Dienst seines
Alltags. Nur dieser Ort verzauberte ihn, entspannte sein Wollen,
machte ihn glücklich. Manchmal vormittags, unter dem Schattentuch
seiner Hütte, hinträumend über die Bläue des Südmeers, oder bei lauer
Nacht auch wohl, gelehnt in die Kissen der Gondel, die ihn vom
Markusplatz, wo er sich lange verweilt, unter dem groß gestirnten
Himmel heimwärts zum Lido führte--und die bunten Lichter, die
schmelzenden Klänge der Serenade blieben zurück,--erinnerte er sich
seines Landsitzes in den Bergen, der Stätte seines sommerlichen
Ringens, wo die Wolken tief durch den Garten zogen, fürchterliche
Gewitter am Abend das Licht des Hauses löschten und die Raben, die er
fütterte, sich in den Wipfeln der Fichten schwangen. Dann schien es
ihm wohl, als sei er entrückt ins elysische Land, an die Grenzen der
Erde, wo leichtestes Leben den Menschen beschert ist, wo nicht Schnee
ist und Winter noch Sturm und strömender Regen, sondern immer sanft
kühlenden Anhauch Okeanos aufsteigen läßt und in seliger Muße die Tage
verrinnen, mühelos, kampflos und ganz nur der Sonne und ihren Festen
geweiht.
Viel, fast beständig sah Aschenbach den Knaben Tadzio; ein
beschränkter Raum, eine jedem gegebene Lebensordnung brachten es mit
sich, daß der Schöne ihm tagüber mit kurzen Unterbrechungen nahe war.
Er sah, er traf ihn überall: in den unteren Räumen des Hotels, auf den
kühlenden Wasserfahrten zur Stadt und von dort zurück, im Gepränge des
Platzes selbst und oft noch zwischenein auf Wegen und Stegen, wenn der
Zufall ein Übriges tat. Hauptsächlich aber und mit der glücklichsten
Regelmäßigkeit bot ihm der Vormittag am Strande ausgedehnte
Gelegenheit, der holden Erscheinung Andacht und Studium zu widmen. Ja,
diese Gebundenheit des Glückes, diese täglich-gleichmäßig wieder
anbrechende Gunst der Umstände war es so recht, was ihn mit
Zufriedenheit und Lebensfreude erfüllte, was ihm den Aufenthalt teuer
machte und einen Sonnentag so gefällig hinhaltend sich an den anderen
reihen ließ.
Er war früh auf, wie sonst wohl bei pochendem Arbeitsdrange, und vor
den meisten am Strand, wenn die Sonne noch milde war und das Meer weiß
blendend in Morgenträumen lag. Er grüßte menschenfreundlich den
Wächter der Sperre, grüßte auch vertraulich den barfüßigen Weißbart,
der ihm die Stätte bereitet, das braune Schattentuch ausgespannt, die
Möbel der Hütte hinaus auf die Plattform gerückt hatte, und ließ sich
nieder. Drei Stunden oder vier waren dann sein, in denen die Sonne zur
Höhe stieg und furchtbare Macht gewann, in denen das Meer tiefer und
tiefer blaute und in denen er Tadzio sehen durfte.
Er sah ihn kommen, von links, am Rande des Meeres daher, sah ihn von
rückwärts zwischen den Hütten hervortreten oder fand auch wohl
plötzlich und nicht ohne ein frohes Erschrecken, daß er sein Kommen
versäumt und daß er schon da war, schon in dem blau und weißen
Badeanzug, der jetzt am Strand seine einzige Kleidung war, sein
gewohntes Treiben in Sonne und Sand wieder aufgenommen hatte,--dies
lieblich nichtige, müßig unstete Leben, das Spiel war und Ruhe, ein
Schlendern, Waten, Graben, Haschen, Lagern und Schwimmen, bewacht,
berufen von den Frauen auf der Plattform, die mit Kopfstimmen seinen
Namen ertönen ließen: »Tadziu! Tadziu!« und zu denen er mit eifrigem
Gebärdenspiel gelaufen kam, ihnen zu erzählen, was er erlebt, ihnen
zu zeigen, was er gefunden, gefangen: Muscheln, Seepferdchen, Quallen
und seitlich laufende Krebse. Aschenbach verstand nicht ein Wort von
dem, was er sagte, und mochte es das Alltäglichste sein, es war
verschwommener Wohllaut in seinem Ohr. So erhob Fremdheit des Knaben
Rede zur Musik, eine übermütige Sonne goß verschwenderischen Glanz
über ihn aus, und die erhabene Tiefsicht des Meeres war immer seiner
Erscheinung Folie und Hintergrund.
Bald kannte der Betrachtende jede Linie und Pose dieses so gehobenen,
so frei sich darstellenden Körpers, begrüßte freudig jede schon
vertraute Schönheit aufs Neue und fand der Bewunderung, der zarten
Sinneslust kein Ende. Man rief den Knaben, einen Gast zu begrüßen, der
den Frauen bei der Hütte aufwartete; er lief herbei, lief naß
vielleicht aus der Flut, er warf die Locken, und indem er die Hand
reichte, auf einem Beine ruhend, den anderen Fuß auf die Zehenspitzen
gestellt, hatte er eine reizende Drehung und Wendung des Körpers,
anmutig spannungsvoll, verschämt aus Liebenswürdigkeit, gefallsüchtig
aus adeliger Pflicht. Er lag ausgestreckt, das Badetuch um die Brust
geschlungen, den zart gemeißelten Arm in den Sand gestützt, das Kinn
in der hohlen Hand; der, welcher »Jaschu« gerufen wurde, saß kauernd
bei ihm und tat ihm schön, und nichts konnte bezaubernder sein, als
das Lächeln der Augen und Lippen, mit dem der Ausgezeichnete zu dem
Geringeren, Dienenden aufblickte. Er stand am Rande der See, allein,
abseits von den Seinen, ganz nahe bei Aschenbach,--aufrecht, die Hände
im Nacken verschlungen, langsam sich auf den Fußballen schaukelnd, und
träumte ins Blaue, während kleine Wellen, die anliefen, seine Zehen
badeten. Sein honigfarbenes Haar schmiegte sich in Ringeln an die
Schläfen und in den Nacken, die Sonne erleuchtete den Flaum des oberen
Rückgrates, die feine Zeichnung der Rippen, das Gleichmaß der Brust
traten durch die knappe Umhüllung des Rumpfes hervor, seine
Achselhöhlen waren noch glatt wie bei einer Statue, seine Kniekehlen
glänzten, und ihr bläuliches Geäder ließ seinen Körper wie aus
klarerem Stoffe gebildet erscheinen. Welch eine Zucht, welche
Präzision des Gedankens war ausgedrückt in diesem gestreckten und
jugendlich vollkommenen Leibe! Der strenge und reine Wille jedoch,
der, dunkel tätig, dies göttliche Bildwerk ans Licht zu treiben
vermocht hatte,--war er nicht ihm, dem Künstler, bekannt und vertraut?
Wirkte er nicht auch in ihm, wenn er, besonnener Leidenschaft voll,
aus der Marmormasse der Sprache die schlanke Form befreite, die er im
Geiste geschaut und die er als Standbild und Spiegel geistiger
Schönheit den Menschen darstellte?
Standbild und Spiegel! Seine Augen umfaßten die edle Gestalt dort am
Rande des Blauen, und in aufschwärmendem Entzücken glaubte er mit
diesem Blick das Schöne selbst zu begreifen, die Form als
Gottesgedanken, die eine und reine Vollkommenheit, die im Geiste lebt
und von der ein menschliches Abbild und Gleichnis hier leicht und hold
zur Anbetung aufgerichtet war. Das war der Rausch; und unbedenklich,
ja gierig, hieß der alternde Künstler ihn willkommen. Sein Geist
kreiste, seine Bildung geriet ins Wallen, sein Gedächtnis warf uralte,
seiner Jugend überlieferte und bis dahin niemals von eigenem Feuer
belebte Gedanken auf. Stand nicht geschrieben, daß die Sonne unsere
Aufmerksamkeit von den intellektuellen auf die sinnlichen Dinge
wendet? Sie betäube und bezaubere, hieß es, Verstand und Gedächtnis,
dergestalt, daß die Seele vor Vergnügen ihres eigentlichen Zustandes
ganz vergesse und mit staunender Bewunderung an dem schönsten der
besonnten Gegenstände hängen bleibe: ja, nur mit Hülfe eines Körpers
vermöge sie dann noch zu höherer Betrachtung sich zu erheben. Amor
fürwahr tat es den Mathematikern gleich, die unfähigen Kindern
greifbare Bilder der reinen Formen vorzeigen: So auch bediente der
Gott sich, um uns das Geistige sichtbar zu machen, gern der Gestalt
und Farbe menschlicher Jugend, die er zum Werkzeug der Erinnerung mit
allem Abglanz der Schönheit schmückte und bei deren Anblick wir dann
wohl in Schmerz und Hoffnung entbrannten.
So dachte der Enthusiasmierte; so vermochte er zu empfinden. Und aus
Meerrausch und Sonnenglast spann sich ihm ein reizendes Bild.
Es war die alte Platane unfern den Mauern Athens,--war jener
heilig-schattige, vom Dufte der Kirschbaumblüten erfüllte Ort, den
Weihbilder und fromme Gaben schmückten zu Ehren der Nymphen und des
Acheloos. Ganz klar fiel der Bach zu Füßen des breitgeästeten Baums
über glatte Kiesel; die Grillen geigten. Auf dem Rasen aber, der sanft
abfiel, so, daß man im Liegen den Kopf hoch halten konnte, lagerten
Zwei, geborgen hier vor der Glut des Tages: ein Ältlicher und ein
Junger, ein Häßlicher und ein Schöner, der Weise beim Liebenswürdigen.
Und unter Artigkeiten und geistreich werbenden Scherzen belehrte
Sokrates den Phaidros über Sehnsucht und Tugend. Er sprach ihm von dem
heißen Erschrecken, das der Fühlende leidet, wenn sein Auge ein
Gleichnis der ewigen Schönheit erblickt; sprach ihm von den Begierden
des Weihelosen und Schlechten, der die Schönheit nicht denken kann,
wenn er ihr Abbild sieht, und der Ehrfurcht nicht fähig ist; sprach
von der heiligen Angst, die den Edlen befällt, wenn ein gottgleiches
Antlitz, ein vollkommener Leib ihm erscheint, er dann aufbebt und
außer sich ist und hinzusehen sich kaum getraut und den verehrt, der
die Schönheit hat, ja, ihm opfern würde, wie einer Bildsäule, wenn er
nicht fürchten müßte, den Menschen närrisch zu scheinen. Denn die
Schönheit, mein Phaidros, nur sie, ist liebenswürdig und sichtbar
zugleich: sie ist, merke das wohl! die einzige Form des Geistigen,
welche wir sinnlich empfangen, sinnlich ertragen können. Oder was
würde aus uns, wenn das Göttliche sonst, wenn Vernunft und Tugend und
Wahrheit uns sinnlich erscheinen wollten? Würden wir nicht vergehen
und verbrennen vor Liebe, wie Semele einstmals vor Zeus? So ist die
Schönheit der Weg des Fühlenden zum Geiste,--nur der Weg, ein Mittel
nur, kleiner Phaidros... Und dann sprach er das Feinste aus, der
verschlagene Hofmacher: Dies, daß der Liebende göttlicher sei, als der
Geliebte, weil in jenem der Gott sei nicht aber im andern,--diesen
zärtlichsten, spöttischsten Gedanken vielleicht, der jemals gedacht
ward, und dem alle Schalkheit und heimlichste Wollust der Sehnsucht
entspringt. Glück des Schriftstellers ist der Gedanke, der ganz
Gefühl, ist das Gefühl, das ganz Gedanke zu werden vermag. Solch ein
pulsender Gedanke, solch genaues Gefühl gehörte und gehorchte dem
Einsamen damals: nämlich, daß die Natur vor Wonne erschaure, wenn der
Geist sich huldigend vor der Schönheit neige. Er wünschte plötzlich,
zu schreiben. Zwar liebt Eros, heißt es, den Müßiggang, und für
solchen nur ist er geschaffen. Aber an diesem Punkte der Krisis war
die Erregung des Heimgesuchten auf Produktion gerichtet. Fast
gleichgültig der Anlaß. Eine Frage, eine Anregung, über ein gewisses
großes und brennendes Problem der Kultur und des Geschmackes sich
bekennend vernehmen zu lassen, war in die geistige Welt ergangen und
bei dem Verreisten eingelaufen. Der Gegenstand war ihm geläufig, war
ihm Erlebnis; sein Gelüst, ihn im Licht seines Wortes erglänzen zu
lassen, auf einmal unwiderstehlich. Und zwar ging sein Verlangen
dahin, in Tadzios Gegenwart zu arbeiten, beim Schreiben den Wuchs des
Knaben zum Muster zu nehmen, seinen Stil den Linien dieses Körpers
folgen zu lassen, der ihm göttlich schien, und seine Schönheit ins
Geistige zu tragen, wie der Adler einst den troischen Hirten zum Äther
trug. Nie hatte er die Lust des Wortes süßer empfunden, nie so gewußt,
daß Eros im Worte sei, wie während der gefährlich köstlichen Stunden,
in denen er, an seinem rohen Tische unter dem Schattentuch, im
Angesicht des Idols und die Musik seiner Stimme im Ohr, nach Tadzios
Schönheit seine kleine Abhandlung,--jene anderthalb Seiten erlesener
Prosa formte, deren Lauterkeit, Adel und schwingende Gefühlsspannung
binnen kurzem die Bewunderung vieler erregen sollte. Es ist sicher
gut, daß die Welt nur das schöne Werk, nicht auch seine Ursprünge,
nicht seine Entstehungsbedingungen kennt; denn die Kenntnis der
Quellen, aus denen dem Künstler Eingebung floß, würde sie oftmals
verwirren, abschrecken und so die Wirkungen des Vortrefflichen
aufheben. Sonderbare Stunden! Sonderbar entnervende Mühe! Seltsam
zeugender Verkehr des Geistes mit einem Körper! Als Aschenbach seine
Arbeit verwahrte und vom Strande aufbrach, fühlte er sich erschöpft,
ja zerrüttet, und ihm war, als ob sein Gewissen wie nach einer
Ausschweifung Klage führe.
Es war am folgenden Morgen, daß er, im Begriff das Hotel zu verlassen,
von der Freitreppe aus gewahrte, wie Tadzio, schon unterwegs zum
Meere--und zwar allein,--sich eben der Strandsperre näherte. Der
Wunsch, der einfache Gedanke, die Gelegenheit zu nutzen und mit dem,
der ihm unwissentlich so viel Erhebung und Bewegung bereitet, leichte,
heitere Bekanntschaft zu machen, ihn anzureden, sich seiner Antwort,
seines Blickes zu erfreuen, lag nahe und drängte sich auf. Der Schöne
ging schlendernd, er war einzuholen, und Aschenbach beschleunigte
seine Schritte. Er erreicht ihn auf dem Brettersteig hinter den
Hütten, er will ihm die Hand aufs Haupt, auf die Schulter legen und
irgend ein Wort, eine freundliche französische Phrase schwebt ihm auf
den Lippen: da fühlt er, daß sein Herz, vielleicht auch vom schnellen
Gang, wie ein Hammer schlägt, daß er, so knapp bei Atem, nur gepreßt
und bebend wird sprechen können; er zögert, er sucht sich zu
beherrschen, er fürchtet plötzlich, schon zu lange dicht hinter dem
Schönen zu gehen, fürchtet sein Aufmerksamwerden, sein fragendes
Umschauen, nimmt noch einen Anlauf, versagt, verzichtet und geht
gesenkten Hauptes vorüber.
Zu spät! dachte er in diesem Augenblick. Zu spät! Jedoch war es zu
spät? Dieser Schritt, den zu tun er versäumte, er hätte sehr
möglicherweise zum Guten, Leichten und Frohen, zu heilsamer
Ernüchterung geführt. Allein es war wohl an dem, daß der Alternde die
Ernüchterung nicht wollte, daß der Rausch ihm zu teuer war. Wer
enträtselt Wesen und Gepräge des Künstlertums! Wer begreift die tiefe
Instinktverschmelzung von Zucht und Zügellosigkeit, worin es beruht!
Denn heilsame Ernüchterung nicht wollen zu können, ist Zügellosigkeit.
Aschenbach war zur Selbstkritik nicht mehr aufgelegt; der Geschmack,
die geistige Verfassung seiner Jahre, Selbstachtung, Reife und späte
Einfachheit machten ihn nicht geneigt, Beweggründe zu zergliedern und
zu entscheiden, ob er aus Gewissen, ob aus Liederlichkeit und Schwäche
sein Vorhaben nicht ausgeführt habe. Er war verwirrt, er fürchtete,
daß irgend jemand, wenn auch der Strandwächter nur, seinen Lauf, seine
Niederlage beobachtet haben möchte, fürchtete sehr die Lächerlichkeit.
Im übrigen scherzte er bei sich selbst über seine komisch-heilige
Angst. »Bestürzt«, dachte er, »bestürzt wie ein Hahn, der angstvoll
seine Flügel im Kampfe hängen läßt. Das ist wahrlich der Gott, der
beim Anblick des Liebenswürdigen so unseren Mut bricht und unsern
stolzen Sinn so gänzlich zu Boden drückt...« Er spielte, schwärmte und
war viel zu hochmütig, um ein Gefühl zu fürchten.
Schon überwachte er nicht mehr den Ablauf der Mußezeit, die er sich
selber gewährt; der Gedanke an Heimkehr berührte ihn nicht einmal. Er
hatte sich reichlich Geld verschrieben. Seine Besorgnis galt einzig
der möglichen Abreise der polnischen Familie; doch hatte er unter der
Hand, durch beiläufige Erkundigung beim Coiffeur des Hotels, erfahren,
daß diese Herrschaften ganz kurz vor seiner eigenen Ankunft hier
abgestiegen seien. Die Sonne bräunte ihm Antlitz und Hände, der
erregende Salzhauch stärkte ihn zum Gefühl, und wie er sonst jede
Erquickung, die Schlaf, Nahrung oder Natur ihm gespendet, sogleich an
ein Werk zu verausgaben gewohnt war, so ließ er nun alles, was Sonne,
Muße und Meerluft ihm an täglicher Kräftigung zuführten,
hochherzig-unwirtschaftlich aufgehen in Rausch und Empfindung.
Sein Schlaf war flüchtig; die köstlich einförmigen Tage waren getrennt
durch kurze Nächte voll glücklicher Unruhe. Zwar zog er sich zeitig
zurück, denn um neun Uhr, wenn Tadzio vom Schauplatz verschwunden war,
schien der Tag ihm beendet. Aber ums erste Morgengrauen weckte ihn ein
zart durchdringendes Erschrecken, sein Herz erinnerte sich seines
Abenteuers, es litt ihn nicht mehr in den Kissen, er erhob sich, und
leicht eingehüllt gegen die Schauer der Frühe setzte er sich ans
offene Fenster, den Aufgang der Sonne zu erwarten. Das wundervolle
Ereignis erfüllte seine vom Schlafe geweihte Seele mit Andacht. Noch
lagen Himmel, Erde und Meer in geisterhaft glasiger Dämmerblässe; noch
schwamm ein vergehender Stern im Wesenlosen. Aber ein Wehen kam, eine
beschwingte Kunde von unnahbaren Wohnplätzen, daß Eos sich von der
Seite des Gatten erhebe, und jenes erste, süße Erröten der fernsten
Himmels-und Meeresstriche geschah, durch welches das Sinnlichwerden
der Schöpfung sich anzeigt. Die Göttin nahte, die
Jünglingsentführerin, die den Kleitos, den Kephalos raubte und dem
Neide aller Olympischen trotzend die Liebe des schönen Orion genoß.
Ein Rosenstreuen begann da am Rande der Welt, ein unsäglich holdes
Scheinen und Blühen, kindliche Wolken, verklärt, durchleuchtet,
schwebten gleich dienenden Amoretten im rosigen, bläulichen Duft,
Purpur fiel auf das Meer, das ihn wallend vorwärts zu schwemmen
schien, goldene Speere zuckten von unten zur Höhe des Himmels hinauf,
der Glanz ward zum Brande, lautlos, mit göttlicher Übergewalt wälzten
sich Glut und Brunst und lodernde Flammen herauf, und mit raffenden
Hufen stiegen des Bruders heilige Renner über den Erdkreis empor.
Angestrahlt von der Pracht des Gottes saß der Einsam-Wache, er schloß
die Augen und ließ von der Glorie seine Lider küssen. Ehemalige
Gefühle, frühe, köstliche Drangsale des Herzens, die im strengen
Dienst seines Lebens erstorben waren und nun so sonderbar gewandelt
zurückkehrten,--er erkannte sie mit verwirrtem, verwundertem Lächeln.
Er sann, er träumte, langsam bildeten seine Lippen einen Namen, und
noch immer lächelnd, mit aufwärts gekehrtem Antlitz, die Hände im
Schöße gefaltet, entschlummerte er in seinem Sessel noch einmal.
Aber der Tag, der so feurig-festlich begann, war im ganzen seltsam
gehoben und mythisch verwandelt. Woher kam und stammte der Hauch, der
auf einmal so sanft und bedeutend, höherer Einflüsterung gleich,
Schläfe und Ohr umspielte? Weiße Federwölkchen standen in verbreiteten
Scharen am Himmel, gleich weidenden Herden der Götter. Stärkerer Wind
erhob sich, und die Rosse Poseidons liefen, sich bäumend, daher,
Stiere auch wohl, dem Bläulichgelockten gehörig, welche mit Brüllen
anrennend die Hörner senkten. Zwischen dem Felsengeröll des
entfernteren Strandes jedoch hüpften die Wellen empor als springende
Ziegen. Eine heilig entstellte Welt voll panischen Lebens schloß den
Berückten ein, und sein Herz träumte zarte Fabeln. Mehrmals, wenn
hinter Venedig die Sonne sank, saß er auf einer Bank im Park, um
Tadzio zuzuschauen, der sich, weiß gekleidet und farbig gegürtet, auf
dem gewalzten Kiesplatz mit Ballspiel vergnügte, und Hyakinthos war
es, den er zu sehen glaubte, und der sterben mußte, weil zwei Götter
ihn liebten. Ja, er empfand Zephyrs schmerzenden Neid auf den
Nebenbuhler, der des Orakels, des Bogens und der Kithara vergaß, um
immer mit dem Schönen zu spielen; er sah die Wurfscheibe, von
grausamer Eifersucht gelenkt, das liebliche Haupt treffen, er empfing,
erblassend auch er, den geknickten Leib, und die Blume, dem süßen
Blute entsprossen, trug die Inschrift seiner unendlichen Klage...
Seltsamer, heikler ist nichts als das Verhältnis von Menschen, die
sich nur mit den Augen kennen,--die täglich, ja stündlich einander
begegnen, beobachten und dabei den Schein gleichgültiger Fremdheit
grußlos und wortlos aufrecht zu halten durch Sittenzwang oder eigene
Grille genötigt sind. Zwischen ihnen ist Unruhe und überreizte
Neugier, die Hysterie eines unbefriedigten, unnatürlich unterdrückten
Erkenntnis-und Austauschbedürfnisses und namentlich auch eine Art von
gespannter Achtung. Denn der Mensch liebt und ehrt den Menschen, so
lange er ihn nicht zu beurteilen vermag, und die Sehnsucht ist ein
Erzeugnis mangelhafter Erkenntnis.
Irgend eine Beziehung und Bekanntschaft mußte sich notwendig ausbilden
zwischen Aschenbach und dem jungen Tadzio, und mit durchdringender
Freude konnte der Ältere feststellen, daß Teilnahme und Aufmerksamkeit
nicht völlig unerwidert blieben. Was bewog zum Beispiel den Schönen,
niemals mehr, wenn er morgens am Strande erschien, den Brettersteg an
der Rückseite der Hütten zu benützen, sondern nur noch auf dem
vorderen Wege, durch den Sand, an Aschenbachs Wohnplatz vorbei und
manchmal unnötig dicht an ihm vorbei, seinen Tisch, seinen Stuhl fast
streifend, zur Hütte der Seinen zu schlendern? Wirkte so die
Anziehung, die Faszination eines überlegenen Gefühls auf seinen zarten
und gedankenlosen Gegenstand? Aschenbach erwartete täglich Tadzios
Auftreten, und zuweilen tat er, als sei er beschäftigt, wenn es sich
vollzog, und ließ den Schönen scheinbar unbeachtet vorübergehen.
Zuweilen aber auch blickte er auf, und ihre Blicke trafen sich. Sie
waren beide tief ernst, wenn das geschah. In der gebildeten und
würdevollen Miene des Älteren verriet nichts eine innere Bewegung;
aber in Tadzios Augen war ein Forschen, ein nachdenkliches Fragen, in
seinen Gang kam ein Zögern, er blickte zu Boden, er blickte lieblich
wieder auf, und wenn er vorüber war, so schien ein Etwas in seiner
Haltung auszudrücken, daß nur Erziehung ihn hinderte, sich umzuwenden.
Einmal jedoch, eines Abends, begab es sich anders. Die polnischen
Geschwister hatten nebst ihrer Gouvernante bei der Hauptmahlzeit im
großen Saale gefehlt,--mit Besorgnis hatte Aschenbach es wahrgenommen.
Er erging sich nach Tische, sehr unruhig über ihren Verbleib, in
Abendanzug und Strohhut vor dem Hotel, zu Füßen der Terrasse, als er
plötzlich die nonnenähnlichen Schwestern mit der Erzieherin und vier
Schritte hinter ihnen Tadzio im Lichte der Bogenlampen auftauchen sah.
Offenbar kamen sie von der Dampferbrücke, nachdem sie aus irgendeinem
You have read 1 text from German literature.
Next - Der Tod in Venedig - 5
  • Parts
  • Der Tod in Venedig - 1
    Total number of words is 4024
    Total number of unique words is 1840
    31.8 of words are in the 2000 most common words
    44.3 of words are in the 5000 most common words
    49.9 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
  • Der Tod in Venedig - 2
    Total number of words is 4082
    Total number of unique words is 1834
    31.3 of words are in the 2000 most common words
    42.3 of words are in the 5000 most common words
    48.6 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
  • Der Tod in Venedig - 3
    Total number of words is 4242
    Total number of unique words is 1795
    32.6 of words are in the 2000 most common words
    45.6 of words are in the 5000 most common words
    52.1 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
  • Der Tod in Venedig - 4
    Total number of words is 4231
    Total number of unique words is 1859
    32.5 of words are in the 2000 most common words
    45.3 of words are in the 5000 most common words
    51.7 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
  • Der Tod in Venedig - 5
    Total number of words is 4155
    Total number of unique words is 1820
    30.4 of words are in the 2000 most common words
    42.0 of words are in the 5000 most common words
    48.1 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
  • Der Tod in Venedig - 6
    Total number of words is 4119
    Total number of unique words is 1924
    30.6 of words are in the 2000 most common words
    42.5 of words are in the 5000 most common words
    47.8 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
  • Der Tod in Venedig - 7
    Total number of words is 162
    Total number of unique words is 118
    67.7 of words are in the 2000 most common words
    73.5 of words are in the 5000 most common words
    76.6 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.