Der Tod in Venedig - 3

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in den Speisesaal. Nachzügler, vom Vestibül, von den Lifts kommend,
gingen vorüber. Man hatte drinnen zu servieren begonnen, aber die
jungen Polen verharrten noch um ihr Rohrtischchen, und Aschenbach, in
tiefem Sessel behaglich aufgehoben und übrigens das Schöne vor Augen,
wartete mit ihnen.
Die Gouvernante, eine kleine und korpulente Halbdame mit rotem
Gesicht, gab endlich das Zeichen, sich zu erheben. Mit hochgezogenen
Brauen schob sie ihren Stuhl zurück und verneigte sich, als eine große
Frau, grau-weiß gekleidet und sehr reich mit Perlen geschmückt, die
Halle betrat. Die Haltung dieser Frau war kühl und gemessen, die
Anordnung ihres leicht gepuderten Haares sowohl wie die Machart ihres
Kleides von jener Einfachheit, die überall da den Geschmack bestimmt,
wo Frömmigkeit als Bestandteil der Vornehmheit gilt. Sie hätte die
Frau eines hohen deutschen Beamten sein können. Etwas von
phantastischem Aufwand kam in ihre Erscheinung einzig durch ihren
Schmuck, der in der Tat kaum schätzbar war und aus Ohrgehängen, sowie
einer dreifachen, sehr langen Kette kirschengroßer, mild schimmernder
Perlen bestand.
Die Geschwister waren rasch aufgestanden. Sie beugten sich zum Kuß
über die Hand ihrer Mutter, die mit einem zurückhaltenden Lächeln
ihres gepflegten, doch etwas müden und spitznäsigen Gesichtes über
ihre Köpfe hinwegblickte und einige Worte in französischer Sprache an
die Erzieherin richtete. Dann schritt sie zur Glastür. Die Geschwister
folgten ihr: die Mädchen in der Reihenfolge ihres Alters, nach ihnen
die Gouvernante, zuletzt der Knabe. Aus irgend einem Grunde wandte er
sich um, bevor er die Schwelle überschritt, und da niemand sonst mehr
in der Halle sich aufhielt, begegneten seine eigentümlich dämmergrauen
Augen denen Aschenbachs, der, seine Zeitung auf den Knien, in
Anschauung versunken, der Gruppe nachblickte.
Was er gesehen, war gewiß in keiner Einzelheit auffallend gewesen. Man
war nicht vor der Mutter zu Tische gegangen, man hatte sie erwartet,
sie ehrerbietig begrüßt und beim Eintritt in den Saal gebräuchliche
Formen beobachtet. Allein das alles hatte sich so ausdrücklich, mit
einem solchen Akzent von Zucht, Verpflichtung und Selbstachtung
dargestellt, daß Aschenbach sich sonderbar ergriffen fühlte. Er
zögerte noch einige Augenblicke, ging dann auch seinerseits in den
Speisesaal hinüber und ließ sich sein Tischchen anweisen, das, wie er
mit einer kurzen Regung des Bedauerns feststellte, sehr weit von dem
der polnischen Familie entfernt war.
Müde und dennoch geistig bewegt, unterhielt er sich während der
langwierigen Mahlzeit mit abstrakten, ja transzendenten Dingen, sann
nach über die geheimnisvolle Verbindung, welche das Gesetzmäßige mit
dem Individuellen eingehen müsse, damit menschliche Schönheit
entstehe, kam von da aus auf allgemeine Probleme der Form und der
Kunst und fand am Ende, daß seine Gedanken und Funde gewissen
scheinbar glücklichen Einflüsterungen des Traumes glichen, die sich
bei ernüchtertem Sinn als vollständig schal und untauglich erweisen.
Er hielt sich nach Tische rauchend, sitzend, umherwandelnd, in dem
abendlich duftenden Parke auf, ging zeitig zur Ruhe und verbrachte die
Nacht in anhaltend tiefem, aber von Traumbildern verschiedentlich
belebtem Schlaf.
Das Wetter ließ sich am folgenden Tage nicht günstiger an. Landwind
ging. Unter fahlem, bedecktem Himmel lag das Meer in stumpfer Ruhe,
verschrumpft gleichsam, mit nüchtern nahem Horizont und so weit vom
Strande zurückgetreten, daß es mehrere Reihen langer Sandbänke
freiließ. Als Aschenbach sein Fenster öffnete, glaubte er den fauligen
Geruch der Lagune zu spüren.
Verstimmung befiel ihn. Schon in diesem Augenblick dachte er an
Abreise. Einmal, vor Jahren, hatte nach zwei heiteren Frühlingswochen
hier dies Wetter ihn heimgesucht und sein Befinden so schwer
geschädigt, daß er Venedig wie ein Fliehender hatte verlassen müssen.
Stellte nicht schon wieder die fiebrige Unlust von damals, der Druck
in den Schläfen, die Schwere der Augenlider sich ein? Noch einmal den
Aufenthalt zu wechseln würde lästig sein; wenn aber der Wind nicht
umschlug, so war seines Bleibens hier nicht. Er packte zur Sicherheit
nicht völlig aus. Um neun Uhr frühstückte er in dem hierfür
vorbehaltenen Büfettzimmer zwischen Halle und Speisesaal.
In dem Raum herrschte die feierliche Stille, die zum Ehrgeiz der
großen Hotels gehört. Die bedienenden Kellner gingen auf leisen Sohlen
umher. Ein Klappern des Teegerätes, ein halbgeflüstertes Wort war
alles, was man vernahm. In einem Winkel, schräg gegenüber der Tür und
zwei Tische von seinem entfernt, bemerkte Aschenbach die polnischen
Mädchen mit ihrer Erzieherin. Sehr aufrecht, das aschblonde Haar neu
geglättet und mit geröteten Augen, in steifen blauleinenen Kleidern
mit kleinen weißen Fallkrägen und Manschetten saßen sie da und
reichten einander ein Glas mit Eingemachtem. Sie waren mit ihrem
Frühstück fast fertig. Der Knabe fehlte.
Aschenbach lächelte. Nun kleiner Phäake! dachte er. Du scheinst vor
diesen das Vorrecht beliebigen Ausschlafens zu genießen. Und plötzlich
aufgeheitert rezitierte er bei sich selbst den Vers:
»Oft veränderten Schmuck und warme Bäder und Ruhe.«
Er frühstückte ohne Eile, empfing aus der Hand des Portiers, der mit
gezogener Tressenmütze in den Saal kam, einige nachgesandte Post und
öffnete, eine Zigarette rauchend, ein paar Briefe. So geschah es, daß
er dem Eintritt des Langschläfers noch beiwohnte, den man dort drüben
erwartete.
Er kam durch die Glastür und ging in der Stille schräg durch den Raum
zum Tisch seiner Schwestern. Sein Gehen war sowohl in der Haltung des
Oberkörpers wie in der Bewegung der Kniee, dem Aufsetzen des
weißbeschuhten Fußes von außerordentlicher Anmut, sehr leicht,
zugleich zart und stolz und verschönt noch durch die kindliche
Verschämtheit, in welcher er zweimal unterwegs, mit einer Kopfwendung
in den Saal, die Augen aufschlug und senkte. Lächelnd, mit einem
halblauten Wort in seiner weich verschwommenen Sprache nahm er seinen
Platz ein, und jetzt zumal, da er dem Schauenden sein genaues Profil
zuwandte, erstaunte dieser aufs neue, ja erschrak über die wahrhaft
gottähnliche Schönheit des Menschenkindes. Der Knabe trug heute einen
leichten Blusenanzug aus blau und weiß gestreiftem Waschstoff mit
rotseidener Masche auf der Brust und am Halse von einem einfachen
weißen Stehkragen abgeschlossen. Auf diesem Kragen aber, der nicht
einmal sonderlich elegant zum Charakter des Anzugs passen wollte,
ruhte die Blüte des Hauptes in unvergleichlichem Liebreiz,--das Haupt
des Eros, vom gelblichen Schmelze parischen Marmors, mit feinen und
ernsten Brauen, Schläfen und Ohr vom rechtwinklig einspringenden
Geringel des Haares dunkel und weich bedeckt.
Gut, gut, dachte Aschenbach mit jener fachmännisch kühlen Billigung,
in welche Künstler zuweilen einem Meisterwerk gegenüber ihr Entzücken,
ihre Hingerissenheit kleiden. Und weiter dachte er: Wahrhaftig,
erwarteten mich nicht Meer und Strand, ich bliebe hier, so lange du
bleibst! So aber ging er denn, ging unter den Aufmerksamkeiten des
Personals durch die Halle, die große Terrasse hinab und gerade aus
über den Brettersteg zum abgesperrten Strand der Hotelgäste. Er ließ
sich von dem barfüßigen Alten, der sich in Leinwandhose, Matrosenbluse
und Strohhut dort unten als Bademeister tätig zeigte, die gemietete
Strandhütte zuweisen, ließ Tisch und Sessel hinaus auf die sandig
bretterne Plattform stellen und machte sich's bequem in dem
Liegestuhl, den er weiter zum Meere hin in den wachsgelben Sand
gezogen hatte.
Das Strandbild, dieser Anblick sorglos sinnlich genießender Kultur am
Rande des Elementes, unterhielt und erfreute ihn wie nur je. Schon war
die graue und flache See belebt von watenden Kindern, Schwimmern,
bunten Gestalten, welche, die Arme unter dem Kopf verschränkt, auf den
Sandbänken lagen. Andere ruderten in kleinen rot und blau gestrichenen
Booten ohne Kiel und kenterten lachend. Vor der gedehnten Zeile der
Capannen, auf deren Plattformen man wie auf kleinen Veranden saß, gab
es spielende Bewegung und träg hingestreckte Ruhe, Besuche und
Geplauder, sorgfältige Morgeneleganz neben der Nacktheit, die
keck-behaglich die Freiheiten des Ortes genoß. Vorn auf dem feuchten
und festen Sande lustwandelten Einzelne in weißen Bademänteln, in
weiten, starkfarbigen Hemdgewändern. Eine vielfältige Sandburg zur
Rechten, von Kindern hergestellt, war rings mit kleinen Flaggen in den
Farben aller Länder besteckt. Verkäufer von Muscheln, Kuchen und
Früchten breiteten kniend ihre Waren aus. Links, vor einer der Hütten,
die quer zur Reihe der übrigen und zum Meere standen und auf dieser
Seite einen Abschluß des Strandes bildeten, kampierte eine russische
Familie: Männer mit Bärten und großen Zähnen, mürbe und träge Frauen,
ein baltisches Fräulein, das an einer Staffelei sitzend unter Ausrufen
der Verzweiflung das Meer malte, zwei gutmütig-häßliche Kinder, eine
alte Magd im Kopftuch und mit zärtlich unterwürfigen Sklavenmanieren.
Dankbar genießend lebten sie dort, riefen unermüdlich die Namen der
unfolgsam sich tummelnden Kinder, scherzten vermittelst weniger
italienischer Worte lange mit dem humoristischen Alten, von dem sie
Zuckerwerk kauften, küßten einander auf die Wangen und kümmerten sich
um keinen Beobachter ihrer menschlichen Gemeinschaft.
Ich will also bleiben, dachte Aschenbach. Wo wäre es besser? Und die
Hände im Schoß gefaltet, ließ er seine Augen sich in den Weiten des
Meeres verlieren, seinen Blick entgleiten, verschwimmen, sich brechen
im eintönigen Dunst der Raumeswüste. Er liebte das Meer aus tiefen
Gründen: aus dem Ruheverlangen des schwer arbeitenden Künstlers, der
von der anspruchsvollen Vielgestalt der Erscheinungen an der Brust des
Einfachen, Ungeheueren sich zu bergen begehrt; aus einem verbotenen,
seiner Aufgabe gerade entgegengesetzten und eben darum verführerischen
Hange zum Ungegliederten, Maßlosen, Ewigen, zum Nichts. Am
Vollkommenen zu ruhen, ist die Sehnsucht dessen, der sich um das
Vortreffliche müht; und ist nicht das Nichts eine Form des
Vollkommenen? Wie er nun aber so tief ins Leere träumte, ward
plötzlich die Horizontale des Ufersaumes von einer menschlichen
Gestalt überschnitten, und als er seinen Blick aus dem Unbegrenzten
einholte und sammelte, da war es der schöne Knabe, der von links
kommend vor ihm im Sande vorüberging. Er ging barfuß, zum Waten
bereit, die schlanken Beine bis über die Knie entblößt, langsam, aber
so leicht und stolz, als sei er ohne Schuhwerk sich zu bewegen ganz
gewöhnt, und schaute sich nach den querstehenden Hütten um. Kaum aber
hatte er die russische Familie bemerkt, die dort in dankbarer
Eintracht ihr Wesen trieb, als ein Unwetter zorniger Verachtung sein
Gesicht überzog. Seine Stirn verfinsterte sich, sein Mund ward
emporgehoben, von den Lippen nach einer Seite ging ein erbittertes
Zerren, daß die Wange zerriß, und seine Brauen waren so schwer
gerunzelt, daß unter ihrem Druck die Augen eingesunken schienen und
böse und dunkel darunter hervor die Sprache des Hasses führten. Er
blickte zu Boden, blickte noch einmal drohend zurück, tat dann mit der
Schulter eine heftig wegwerfende Bewegung und ließ die Feinde im
Rücken.
Eine Art Zartgefühl oder Erschrockenheit, etwas wie Achtung und Scham,
veranlaßte Aschenbach, sich abzuwenden, als ob er nichts gesehen
hätte; denn dem ernsten Zufallsbeobachter der Leidenschaft widerstrebt
es, von seinen Wahrnehmungen auch nur vor sich selber Gebrauch zu
machen. Er war aber erheitert und erschüttert zugleich, das heißt:
beglückt. Dieser kindische Fanatismus, gerichtet gegen das gutmütigste
Stück Leben,--er stellte das Göttlich-Nichtssagende in menschliche
Beziehungen; er ließ ein kostbares Bildwerk der Natur, das nur zur
Augenweide getaugt hatte, einer tieferen Teilnahme wert erscheinen;
und er verlieh der ohnehin durch Schönheit bedeutenden Gestalt des
Halbwüchsigen eine politisch-geschichtliche Folie, die gestattete, ihn
über seine Jahre ernst zu nehmen.
Noch abgewandt, lauschte Aschenbach auf die Stimme des Knaben, seine
helle, ein wenig schwache Stimme, mit der er sich von weitem schon den
um die Sandburg beschäftigten Gespielen grüßend anzukündigen suchte.
Man antwortete ihm, indem man ihm seinen Namen oder eine Koseform
seines Namens mehrfach entgegenrief, und Aschenbach horchte mit einer
gewissen Neugier darauf, ohne Genaueres erfassen zu können, als zwei
melodische Silben wie »Adgio« oder öfter noch »Adgiu« mit rufend
gedehntem u-Laut am Ende. Er freute sich des Klanges, er fand ihn in
seinem Wohllaut dem Gegenstande angemessen, wiederholte ihn im Stillen
und wandte sich befriedigt seinen Briefen und Papieren zu.
Seine kleine Reiseschreibmappe auf den Knien, begann er, mit dem
Füllfederhalter diese und jene Korrespondenz zu erledigen. Aber nach
einer Viertelstunde schon fand er es schade, die Situation, die
genießenswerteste, die er kannte, so im Geist zu verlassen und durch
gleichgültige Tätigkeit zu versäumen. Er warf das Schreibzeug
beiseite, er kehrte zum Meere zurück, und nicht lange, so wandte er,
abgelenkt von den Stimmen der Jugend am Sandbau, den Kopf bequem an
der Lehne des Stuhles nach rechts, um sich nach dem Treiben und
Bleiben des trefflichen Adgio wieder umzutun.
Der erste Blick fand ihn; die rote Masche auf seiner Brust war nicht
zu verfehlen. Mit anderen beschäftigt, eine alte Planke als Brücke
über den feuchten Graben der Sandburg zu legen, gab er rufend und mit
dem Kopfe winkend seine Anweisungen zu diesem Werk. Es waren da mit
ihm ungefähr zehn Genossen, Knaben und Mädchen, von seinem Alter und
einige jünger, die in Zungen, polnisch, französisch und auch in
Balkan-Idiomen durcheinander schwatzten. Aber sein Name war es, der am
öftesten erklang. Offenbar war er begehrt, umworben, bewundert. Einer
namentlich, Pole gleich ihm, ein stämmiger Bursche, der ähnlich wie
»Jaschu« gerufen wurde, mit schwarzem, pomadisiertem Haar und leinenem
Gürtelanzug, schien sein nächster Vasall und Freund. Sie gingen, als
für diesmal die Arbeit am Sandbau beendigt war, umschlungen den Strand
entlang, und der, welcher »Jaschu« gerufen wurde, küßte den Schönen.
Aschenbach war versucht, ihm mit dem Finger zu drohen. »Dir aber rat
ich Kritobulos«, dachte er lächelnd, »geh ein Jahr auf Reisen! Denn
soviel brauchst du mindestens Zeit zur Genesung.« Und dann frühstückte
er große, vollreife Erdbeeren, die er von einem Händler erstand. Es
war sehr warm geworden, obgleich die Sonne die Dunstschicht des
Himmels nicht zu durchdringen vermochte. Trägheit fesselte den Geist,
indes die Sinne die ungeheure und betäubende Unterhaltung der
Meeresstille genossen. Zu erraten, zu erforschen, welcher Name es sei,
der ungefähr »Adgio« lautete, schien dem ernsten Mann eine
angemessene, vollkommen ausfüllende Aufgabe und Beschäftigung. Und mit
Hilfe einiger polnischer Erinnerungen stellte er fest, daß »Tadzio«
gemeint sein müsse, die Abkürzung von »Tadeusz« und im Anrufe »Tadziu«
lautend. Tadzio badete. Aschenbach, der ihn aus den Augen verloren
hatte, entdeckte seinen Kopf, seinen Arm, mit dem er rudernd ausholte,
weit draußen im Meer; denn das Meer mochte flach sein bis weit hinaus.
Aber schon schien man besorgt um ihn, schon riefen Frauenstimmen nach
ihm von den Hütten, stießen wiederum diesen Namen aus, der den Strand
beinahe wie eine Losung beherrschte und mit seinen weichen Mitlauten,
seinem gezogenen u-Ruf am Ende, etwas zugleich Süßes und Wildes hatte:
»Tadziu, Tadziu!« Er gehorchte, er lief, das widerstrebende Wasser mit
den Beinen zu Schaum schlagend, zurückgeworfenen Kopfes durch die
Flut; und zu sehen, wie die lebendige Gestalt, vormännlich hold und
herb, mit triefenden Locken und schön wie ein zarter Gott, herkommend
aus den Tiefen von Himmel und Meer, dem Elemente entstieg und entrann:
Dieser Anblick gab mythische Vorstellungen ein, er war wie
Dichterkunde von anfänglichen Zeiten, vom Ursprung der Form und von
der Geburt der Götter. Aschenbach lauschte mit geschlossenen Augen auf
diesen in seinem Innern antönenden Gesang; und abermals dachte er, daß
es hier gut sei und daß er bleiben wolle.
Später lag Tadzio, vom Bade ausruhend, im Sande, gehüllt in sein
weißes Laken, das unter der rechten Schulter durchgezogen war, den
Kopf auf den bloßen Arm gebettet; und auch wenn Aschenbach ihn nicht
betrachtete, sondern einige Seiten in seinem Buche las, vergaß er fast
niemals, daß jener dort lag und daß es ihn nur eine leichte Wendung
des Kopfes nach rechts kostete, um das Bewunderungswürdige zu
erblicken. Beinahe schien es ihm, als säße er hier, um den Ruhenden zu
behüten,--mit eigenen Angelegenheiten beschäftigt und dabei doch in
beständiger Wachsamkeit für das edle Menschenbild dort zur Rechten,
nicht weit von ihm. Und eine väterliche Huld, die gerührte Hinneigung
dessen, der sich opfernd im Geiste das Schöne zeugt, zu dem, der die
Schönheit hat, erfüllte und bewegte sein Herz.
Nach Mittag verließ er den Strand, kehrte ins Hotel zurück und ließ
sich hinauf vor sein Zimmer fahren. Er verweilte dort drinnen längere
Zeit vor dem Spiegel und betrachtete sein graues Haar, sein müdes und
scharfes Gesicht. In diesem Augenblick dachte er an seinen Ruhm und
daran, daß Viele ihn auf den Straßen kannten und ehrerbietig
betrachteten, um seines sicher treffenden und mit Anmut gekrönten
Wortes willen,--rief alle, äußeren Erfolge seines Talentes auf, die
ihm irgend einfallen wollten und gedachte sogar seiner Nobilitierung.
Er begab sich dann zum Lunch hinab in den Saal und speiste an seinem
Tischchen. Als er nach beendeter Mahlzeit den Lift bestieg, drängte
junges Volk, das gleichfalls vom Frühstück kam, ihm nach in das
schwebende Kämmerchen, und auch Tadzio trat ein. Er stand ganz nahe
bei Aschenbach, zum ersten Male so nah, daß dieser ihn nicht in
bildmäßigem Abstand, sondern genau, mit den Einzelheiten seiner
Menschlichkeit wahrnahm und erkannte. Der Knabe ward angeredet von
irgend jemandem, und während er mit unbeschreiblich lieblichem Lächeln
antwortete, trat er schon wieder aus, im ersten Stockwerk, rückwärts,
mit niedergeschlagenen Augen. Schönheit macht schamhaft, dachte
Aschenbach und bedachte sehr eindringlich, warum. Er hatte jedoch
bemerkt, daß Tadzios Zähne nicht recht erfreulich waren: etwas zackig
und blaß, ohne den Schmelz der Gesundheit und von eigentümlich spröder
Durchsichtigkeit wie zuweilen bei Bleichsüchtigen. Er ist sehr zart,
er ist kränklich, dachte Aschenbach. Er wird wahrscheinlich nicht alt
werden. Und er verzichtete darauf, sich Rechenschaft über ein Gefühl
der Genugtuung oder Beruhigung zu geben, das diesen Gedanken
begleitete.
Er verbrachte zwei Stunden auf seinem Zimmer und fuhr am Nachmittag
mit dem Vaporetto über die faulriechende Lagune nach Venedig. Er stieg
aus bei San Marco, nahm den Tee auf dem Platze und trat dann, seiner
hiesigen Tagesordnung gemäß, einen Spaziergang durch die Straßen an.
Es war jedoch dieser Gang, der einen völligen Umschwung seiner
Stimmung, seiner Entschlüsse herbeiführte.
Eine widerliche Schwüle lag in den Gassen, die Luft war so dick, daß
die Gerüche, die aus Wohnungen, Läden, Garküchen quollen, Öldunst,
Wolken von Parfüm und viele andere in Schwaden standen, ohne sich zu
zerstreuen. Zigarettenrauch hing an seinem Orte und entwich nur
langsam. Das Menschengeschiebe in der Enge belästigte den
Spaziergänger, statt ihn zu unterhalten. Je länger er ging, desto
quälender bemächtigte sich seiner der abscheuliche Zustand, den die
Seeluft zusammen mit dem Scirocco hervorbringen kann, und der zugleich
Erregung und Erschlaffung ist. Peinlicher Schweiß brach ihm aus. Die
Augen versagten den Dienst, die Brust war beklommen, er fieberte, das
Blut pochte im Kopf. Er floh aus den drangvollen Geschäftsgassen über
Brücken in die Gänge der Armen: dort behelligten ihn Bettler, und die
üblen Ausdünstungen der Kanäle verleideten das Atmen. Auf stillem
Platz, einer jener vergessen und verwunschen anmutenden Örtlichkeiten,
die sich im Innern Venedigs finden, am Rande eines Brunnens rastend,
trocknete er die Stirn und sah ein, daß er reisen müsse.
Zum zweitenmal und nun endgültig war es erwiesen, daß diese Stadt bei
dieser Witterung ihm höchst schädlich war. Eigensinniges Ausharren
erschien vernunftwidrig, die Aussicht auf ein Umschlagen des Windes
ganz ungewiß. Es galt rasche Entscheidung. Schon jetzt nach Hause
zurückzukehren, verbot sich. Weder Sommer-noch Winterquartier war
bereit, ihn aufzunehmen. Aber nicht nur hier gab es Meer und Strand,
und anderwärts fanden sie sich ohne die böse Zutat der Lagune und
ihres Fieberdunstes. Er erinnerte sich eines kleinen Seebades nicht
weit von Triest, das man ihm rühmlich genannt hatte. Warum nicht
dorthin? Und zwar ohne Verzug, damit der abermalige Aufenthaltswechsel
sich noch lohne. Er erklärte sich für entschlossen und stand auf. Am
nächsten Gondelhalteplatz nahm er ein Fahrzeug und ließ sich durch das
trübe Labyrinth der Kanäle, unter zierlichen Marmorbalkonen hin, die
von Löwenbildern flankiert waren, um glitschige Mauerecken, vorbei an
trauernden Palastfassaden, die große Firmenschilder im Abfall
schaukelnden Wasser spiegelten, nach San Marco leiten. Er hatte Mühe,
dorthin zu gelangen, denn der Gondolier, der mit Spitzenfabriken und
Glasbläsereien im Bunde stand, versuchte überall, ihn zu Besichtigung
und Einkauf abzusetzen, und wenn die bizarre Fahrt durch Venedig
ihren Zauber zu üben begann, so tat der beutelschneiderische
Geschäftsgeist der gesunkenen Königin das seine, den Sinn wieder
verdrießlich zu ernüchtern.
Ins Hotel zurückgekehrt, gab er noch vor dem Diner im Bureau die
Erklärung ab, daß unvorhergesehene Umstände ihn nötigten, morgen früh
abzureisen. Man bedauerte, man quittierte seine Rechnung. Er speiste
und verbrachte den lauen Abend, Journale lesend, in einem
Schaukelstuhl auf der rückwärtigen Terrasse. Bevor er zur Ruhe ging,
machte er sein Gepäck vollkommen zur Abreise fertig.
Er schlief nicht zum besten, da der bevorstehende Wiederaufbruch ihn
beunruhigte. Als er am Morgen die Fenster öffnete, war der Himmel
bezogen nach wie vor, aber die Luft schien frischer, und--es begann
auch schon seine Reue. War diese Kündigung nicht überstürzt und
irrtümlich, die Handlung eines kranken und unmaßgeblichen Zustandes
gewesen? Hätte er sie ein wenig zurückbehalten, hätte er es, ohne so
rasch zu verzagen, auf den Versuch einer Anpassung an die
venezianische Luft oder auf Besserung des Wetters ankommen lassen, so
stand ihm jetzt, statt Hast und Last, ein Vormittag am Strande gleich
dem gestrigen bevor. Zu spät. Nun mußte er fortfahren, zu wollen, was
er gestern gewollt hatte. Er kleidete sich an und fuhr um acht Uhr zum
Frühstück ins Erdgeschoß hinab.
Der Büfettraum war, als er eintrat, noch leer von Gästen. Einzelne
kamen, während er saß und das Bestellte erwartete. Die Teetasse am
Munde, sah er die polnischen Mädchen nebst ihrer Begleiterin sich
einfinden; streng und morgenfrisch, mit geröteten Augen schritten sie
zu ihrem Tisch in der Fensterecke. Gleich darauf näherte sich ihm der
Portier mit gezogener Mütze und mahnte zum Aufbruch. Das Automobil
stehe bereit, ihn und andere Reisende nach dem Hotel "Excelsior" zu
bringen, von wo das Motorboot die Herrschaften durch den Privatkanal
der Gesellschaft zum Bahnhof befördern werde. Die Zeit dränge.
--Aschenbach fand, daß sie das nicht im mindesten tue. Mehr als eine
Stunde blieb bis zur Abfahrt seines Zuges. Er ärgerte sich an der
Gasthofsitte, den Abreisenden vorzeitig aus dem Hause zu schaffen und
bedeutete dem Portier, daß er in Ruhe zu frühstücken wünsche. Der Mann
zog sich zögernd zurück, um nach fünf Minuten wieder aufzutreten.
Unmöglich, daß der Wagen länger warte. Dann möge er fahren und seinen
Koffer mitnehmen, entgegnete Aschenbach gereizt. Er selbst wolle zur
gegebenen Zeit das öffentliche Dampfboot benutzen und bitte, die Sorge
um sein Fortkommen ihm selber zu überlassen. Der Angestellte verbeugte
sich. Aschenbach, froh, die lästigen Mahnungen abgewehrt zu haben,
beendete seinen Imbiß ohne Eile, ja ließ sich sogar noch vom Kellner
Tagesblätter reichen. Die Zeit war recht knapp geworden, als er
aufstand. Es fügte sich, daß im selben Augenblick Tadzio durch die
Glastür hereinkam.
Er kreuzte, zum Tische der Seinen gehend, den Weg des Aufbrechenden,
schlug vor dem grauhaarigen, hochgestirnten Mann bescheiden die Augen
nieder, um sie nach seiner lieblichen Art sogleich wieder weich und
voll zu ihm aufzuschlagen und war vorüber. Adieu, Tadzio! dachte
Aschenbach. Ich sah dich kurz. Und indem er gegen seine Gewohnheit das
Gedachte wirklich mit den Lippen ausbildete und vor sich hinsprach,
fügte er hinzu: Sei gesegnet!--Er hielt dann Abreise, verteilte
Trinkgelder, ward von dem kleinen leisen Manager im französischen
Gehrock verabschiedet und verließ das Hotel zu Fuß, wie er gekommen,
um sich, gefolgt von dem Handgepäck tragenden Hausdiener, durch die
weiß blühende Allee quer über die Insel zur Dampferbrücke zu begeben.
Er erreicht sie, er nimmt Platz,--und was folgte, war eine
Leidensfahrt, kummervoll, durch alle Tiefen der Reue.
Es war die vertraute Fahrt über die Lagune, an San Marco vorbei, den
großen Kanal hinauf. Aschenbach saß auf der Rundbank am Buge, den Arm
aufs Geländer gestützt, mit der Hand die Augen beschattend. Die
öffentlichen Gärten blieben zurück, die Piazzetta eröffnete sich noch
einmal in fürstlicher Anmut und ward verlassen, es kam die große
Flucht der Paläste, und als die Wasserstraße sich wendete, erschien
des Rialto prächtig gespannter Marmorbogen. Der Abschiednehmende
schaute, und seine Brust war zerrissen. Die Atmosphäre der Stadt,
diesen leis fauligen Geruch von Meer und Sumpf, den zu fliehen es ihn
so sehr gedrängt hatte,--er atmete ihn jetzt in tiefen, zärtlich
schmerzlichen Zügen. War es möglich, daß er nicht gewußt, nicht
bedacht hatte, wie sehr sein Herz an dem allen hing? Was heute morgen
ein halbes Bedauern, ein leiser Zweifel an der Richtigkeit seines Tuns
gewesen war, das wurde jetzt zum Harm, zum wirklichen Weh, zu einer
Seelennot, so bitter, daß sie ihm mehrmals Tränen in die Augen trieb,
und von der er sich sagte, daß er sie unmöglich habe vorhersehen
können. Was er als so schwer erträglich, ja, zuweilen als völlig
unleidlich empfand, war offenbar der Gedanke, daß er Venedig nie
wieder sehen solle, daß dies ein Abschied für immer sei. Denn da sich
zum zweiten Male gezeigt hatte, daß die Stadt ihn krank mache, da er
sie zum zweiten Male jäh zu verlassen gezwungen war, so hatte er sie
ja fortan als einen ihm unmöglichen und verbotenen Aufenthalt zu
betrachten, dem er nicht gewachsen war und den wieder aufzusuchen
sinnlos gewesen wäre. Ja, er empfand, daß, wenn er jetzt abreise,
Scham und Trotz ihn hindern müßten, die geliebte Stadt je wieder zu
sehen, der gegenüber er zweimal körperlich versagt hatte; und dieser
Streitfall zwischen seelischer Neigung und körperlichem Vermögen
schien dem Alternden auf einmal so schwer und wichtig, die physische
Niederlage so schmählich, so um jeden Preis hintanzuhalten, daß er die
leichtfertige Ergebung nicht begriff, mit welcher er gestern, ohne
ernstlichen Kampf, sie zu tragen und anzuerkennen beschlossen hatte.
Unterdessen nähert sich das Dampfboot dem Bahnhof, und Schmerz
und Ratlosigkeit steigen bis zur Verwirrung. Die Abreise dünkt dem
Gequälten unmöglich, die Umkehr nicht minder. So ganz zerrissen
betritt er die Station. Es ist sehr spät, er hat keinen Augenblick zu
verlieren, wenn er den Zug erreichen will. Er will es und will es
nicht. Aber die Zeit drängt, sie geißelt ihn vorwärts; er eilt, sich
sein Billett zu verschaffen und sieht sich im Tumult der Halle nach
dem hier stationierten Beamten der Hotelgesellschaft um. Der Mensch
zeigt sich und meldet, der große Koffer sei aufgegeben. Schon
aufgegeben? Ja, bestens,--nach Como. Nach Como? Und aus einem
hastigen Hin und Her, aus zornigen Fragen und betretenen Antworten
kommt zu Tage, daß der Koffer, schon im Gepäckbeförderungs-Amt des
Hotels »Excelsior« zusammen mit anderer, fremder Bagage, in völlig
falsche Richtung geleitet wurde.
Aschenbach hatte Mühe, die Miene zu bewahren, die unter diesen
Umständen einzig begreiflich war. Eine abenteuerliche Freude, eine
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