Der Tod in Venedig - 2

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die blitzenden Repliken des Gesprächs zwischen Voltaire und dem Könige
über den Krieg geboren; diese Augen, müde und tief durch die Gläser
blickend, hatten das blutige Inferno der Lazarette des Siebenjährigen
Krieges gesehen. Auch persönlich genommen ist ja die Kunst ein
erhöhtes Leben. Sie beglückt tiefer, sie verzehrt rascher. Sie gräbt
in das Antlitz ihres Dieners die Spuren imaginärer und geistiger
Abenteuer, und sie erzeugt, selbst bei klösterlicher Stille des
äußeren Daseins, auf die Dauer eine Verwöhntheit, Überfeinerung,
Müdigkeit und Neugier der Nerven, wie ein Leben voll ausschweifendster
Leidenschaften und Genüsse sie kaum hervorzubringen vermag.


Drittes Kapitel

Mehrere Geschäfte weltlicher und literarischer Natur hielten den
Reiselustigen noch etwa zwei Wochen nach jenem Spaziergang in München
zurück. Er gab endlich Auftrag, sein Landhaus binnen vier Wochen zum
Einzuge instandzusetzen und reiste an einem Tage zwischen Mitte und
Ende des Mai mit dem Nachtzuge nach Triest, wo er nur vierundzwanzig
Stunden verweilte und sich am nächstfolgenden Morgen nach Pola
einschiffte. Was er suchte, war das Fremdartige und Bezuglose,
welches jedoch rasch zu erreichen wäre, und so nahm er Aufenthalt auf
einer seit einigen Jahren gerühmten Insel der Adria, unfern der
istrischen Küste gelegen, mit farbig zerlumptem, in wildfremden Lauten
redendem Landvolk und schön zerrissenen Klippenpartien dort, wo das
Meer offen war. Allein Regen und schwere Luft, eine kleinweltliche,
geschlossen österreichische Hotelgesellschaft und der Mangel jenes
ruhevoll innigen Verhältnisses zum Meere, das nur ein sanfter,
sandiger Strand gewährt, verdrossen ihn, ließen ihn nicht das
Bewußtsein gewinnen, den Ort seiner Bestimmung getroffen zu haben; ein
Zug seines Innern, ihm war noch nicht deutlich, wohin, beunruhigte
ihn, er studierte Schiffsverbindungen, er blickte suchend umher, und
auf einmal, zugleich überraschend und selbstverständlich, stand ihm
sein Ziel vor Augen. Wenn man über Nacht das Unvergleichliche, das
märchenhaft Abweichende zu erreichen wünschte, wohin ging man? Aber
das war klar. Was sollte er hier? Er war fehlgegangen. Dorthin hatte
er reisen wollen. Er säumte nicht, den irrigen Aufenthalt zu kündigen.
Anderthalb Wochen nach seiner Ankunft auf der Insel trug ein
geschwindes Motorboot ihn und sein Gepäck in dunstiger Frühe über die
Wasser in den Kriegshafen zurück, und er ging dort nur an Land, um
sogleich über einen Brettersteg das feuchte Verdeck eines Schiffes zu
beschreiten, das unter Dampf zur Fahrt nach Venedig lag.
Es war ein betagtes Fahrzeug italienischer Nationalität, veraltet,
rußig und düster. In einer höhlenartigen, künstlich erleuchteten Koje
des inneren Raumes, wohin Aschenbach sofort nach Betreten des Schiffes
von einem buckligen und unreinlichen Matrosen mit grinsender
Höflichkeit genötigt wurde, saß hinter einem Tische, den Hut schief in
der Stirn und einen Zigarettenstummel im Mundwinkel, ein
ziegenbärtiger Mann von der Physiognomie eines altmodischen
Zirkusdirektors, der mit grimassenhaft leichtem Geschäftsgebaren die
Personalien der Reisenden aufnahm und ihnen die Fahrscheine
ausstellte. »Nach Venedig!« wiederholte er Aschenbachs Ansuchen, indem
er den Arm reckte und die Feder in den breiigen Restinhalt eines
schräg geneigten Tintenfasses stieß. »Nach Venedig erster Klasse! Sie
sind bedient, mein Herr!« Und er schrieb große Krähenfüße, streute aus
einer Büchse blauen Sand auf die Schrift, ließ ihn in eine tönerne
Schale ablaufen, faltete das Papier mit gelben und knochigen Fingern
und schrieb aufs neue. »Ein glücklich gewähltes Reiseziel!« schwatzte
er unterdessen. »Ah, Venedig! Eine herrliche Stadt! Eine Stadt von
unwiderstehlicher Anziehungskraft für den Gebildeten, ihrer Geschichte
sowohl wie ihrer gegenwärtigen Reize wegen!« Die glatte Raschheit
seiner Bewegungen und das leere Gerede, womit er sie begleitete,
hatten etwas Betäubendes und Ablenkendes, etwa als besorgte er, der
Reisende möchte in seinem Entschluß, nach Venedig zu fahren, noch
wankend werden. Er kassierte eilig und ließ mit Croupiergewandtheit
den Differenzbetrag auf den fleckigen Tuchbezug des Tisches fallen.
»Gute Unterhaltung, mein Herr!« sagte er mit schauspielerischer
Verbeugung. »Es ist mir eine Ehre, Sie zu befördern... Meine Herren!«
rief er sogleich mit erhobenem Arm und tat, als sei das Geschäft im
flottesten Gange, obgleich niemand mehr da war, der nach Abfertigung
verlangt hätte. Aschenbach kehrte auf das Verdeck zurück.
Einen Arm auf die Brüstung gelehnt, betrachtete er das müßige Volk,
das, der Abfahrt des Schiffes beizuwohnen, am Quai lungerte, und die
Passagiere an Bord. Diejenigen der zweiten Klasse kauerten, Männer und
Weiber, auf dem Vorderdeck, indem sie Kisten und Bündel als Sitze
benutzten. Eine Gruppe junger Leute bildete die Reisegesellschaft des
ersten Verdecks, Polenser Handelsgehülfen, wie es schien, die sich in
angeregter Laune zu einem Ausflug nach Italien vereinigt hatten. Sie
machten nicht wenig Aufhebens von sich und ihrem Unternehmen,
schwatzten, lachten, genossen selbstgefällig das eigene Gebärdenspiel
und riefen den Kameraden, die, Portefeuilles unterm Arm, in Geschäften
die Hafenstraße entlang gingen und den Feiernden mit dem Stöckchen
drohten, über das Geländer gebeugt, zungengeläufige Spottreden nach.
Einer, in hellgelbem, übermodisch geschnittenem Sommeranzug, roter
Krawatte und kühn aufgebogenem Panama, tat sich mit krähender Stimme
an Aufgeräumtheit vor allen andern hervor. Kaum aber hatte Aschenbach
ihn genauer ins Auge gefaßt, als er mit einer Art von Entsetzen
erkannte, daß der Jüngling falsch war. Er war alt, man konnte nicht
zweifeln. Runzeln umgaben ihm Augen und Mund. Das matte Karmesin der
Wangen war Schminke, das braune Haar unter dem farbig umwundenen
Strohhut Perücke, sein Hals verfallen und sehnig, sein aufgesetztes
Schnurrbärtchen und die Fliege am Kinn gefärbt, sein gelbes und
vollzähliges Gebiß, das er lachend zeigte, ein billiger Ersatz, und
seine Hände, mit Siegelringen an beiden Zeigefingern, waren die eines
Greises. Schauerlich angemutet sah Aschenbach ihm und seiner
Gemeinschaft mit den Freunden zu. Wußten, bemerkten sie nicht, daß er
alt war, daß er zu Unrecht ihre stutzerhafte und bunte Kleidung trug,
zu Unrecht einen der Ihren spielte? Selbstverständlich und
gewohnheitsmäßig, wie es schien, duldeten sie ihn in ihrer Mitte,
behandelten ihn als ihresgleichen, erwiderten ohne Abscheu seine
neckischen Rippenstöße. Wie ging das zu? Aschenbach bedeckte seine
Stirn mit der Hand und schloß die Augen, die heiß waren, da er zu
wenig geschlafen hatte. Ihm war, als lasse nicht alles sich ganz
gewöhnlich an, als beginne eine träumerische Entfremdung, eine
Entstellung der Welt ins Sonderbare um sich zu greifen, der vielleicht
Einhalt zu tun wäre, wenn er sein Gesicht ein wenig verdunkelte und
aufs neue um sich schaute. In diesem Augenblick jedoch berührte ihn
das Gefühl des Schwimmens, und mit unvernünftigem Erschrecken
aufsehend, gewahrte er, daß der schwere und düstere Körper des
Schiffes sich langsam vom gemauerten Ufer löste. Zollweise, unter dem
Vorwärts-und Rückwärtsarbeiten der Maschine, verbreitete sich der
Streifen schmutzig schillernden Wassers zwischen Quai und Schiffswand,
und nach schwerfälligen Manövern kehrte der Dampfer seinen Bugspriet
dem offenen Meere zu. Aschenbach ging nach der Steuerbordseite
hinüber, wo der Bucklige ihm einen Liegestuhl aufgeschlagen hatte und
ein Steward in fleckigem Frack nach seinen Befehlen fragte.
Der Himmel war grau, der Wind feucht; Hafen und Inseln waren
zurückgeblieben, und rasch verlor sich aus dem dunstigen
Gesichtskreise alles Land. Flocken von Kohlenstaub gingen, gedunsen
von Nässe, auf das gewaschene Deck nieder, das nicht trocknen wollte.
Schon nach einer Stunde spannte man ein Segeldach aus, da es zu regnen
begann.
In seinen Mantel geschlossen, ein Buch im Schoße, ruhte der Reisende,
und die Stunden verrannen ihm unversehens. Es hatte zu regnen
aufgehört; man entfernte das leinene Dach. Der Horizont war
vollkommen. Unter der breiten Kuppel des Himmels dehnte sich rings die
ungeheure Scheibe des öden Meeres; aber im leeren, ungegliederten
Raume fehlt unserem Sinn auch das Maß der Zeit, und wir dämmern im
Ungemessenen. Schattenhaft sonderbare Gestalten, der greise Geck, der
Ziegenbart aus dem Schiffsinnern, gingen mit unbestimmten Gebärden,
mit verwirrten Traumworten durch den Geist des Ruhenden, und er
schlief ein.
Um Mittag nötigte man ihn hinab, damit er in dem korridorartigen
Speisesaal, auf den die Türen der Schlafkojen mündeten, zu Häupten
eines langen Tisches, an dessen unterem Ende die Handelsgehülfen,
einschließlich des Alten, seit zehn Uhr mit dem munteren Kapitän
pokulierten, die bestellte Mahlzeit nähme. Sie war armselig, und er
beendete sie rasch. Es trieb ihn ins Freie, nach dem Himmel zu sehen:
ob er denn nicht über Venedig sich erhellen wollte.
Er hatte nicht anders gedacht, als daß dies geschehen müsse, denn
stets hatte die Stadt ihn im Glanze empfangen. Aber Himmel und Meer
blieben trüb und bleiern, zeitweilig ging neblichter Regen nieder, und
er fand sich darein, auf dem Wasserwege ein anderes Venedig zu
erreichen, als er, zu Lande sich nähernd, je angetroffen hatte. Er
stand am Fockmast, den Blick im Weiten, das Land erwartend. Er
gedachte des schwermütig-enthusiastischen Dichters, dem vormals die
Kuppeln und Glockentürme seines Traumes aus diesen Fluten gestiegen
waren, er wiederholte im Stillen einiges von dem, was damals an
Ehrfurcht, Glück und Trauer zu maßvollem Gesange geworden, und von
schon gestalteter Empfindung mühelos bewegt, prüfte er sein ernstes
und müdes Herz, ob eine erneuernde Begeisterung und Verwirrung, ein
spätes Abenteuer des Gefühles dem fahrenden Müßiggänger vielleicht
noch vorbehalten sein könne.
Da tauchte zur Rechten die flache Küste auf, Fischerboote belebten das
Meer, die Bäderinsel erschien, der Dampfer ließ sie zur Linken, glitt
verlangsamten Ganges durch den schmalen Port, der nach ihr benannt
ist, und auf der Lagune, angesichts bunt armseliger Behausungen hielt
er ganz, da die Barke des Sanitätsdienstes erwartet werden mußte.
Eine Stunde verging, bis sie erschien. Man war angekommen und war es
nicht; man hatte keine Eile und fühlte sich doch von Ungeduld
getrieben. Die jungen Polenser, patriotisch angezogen auch wohl von
den militärischen Hornsignalen, die aus der Gegend der öffentlichen
Gärten her über das Wasser klangen, waren auf Deck gekommen, und, vom
Asti begeistert, brachten sie Lebehochs auf die drüben exerzierenden
Bersaglieri aus. Aber widerlich war es zu sehen, in welchen Zustand
den aufgestutzten Greisen seine falsche Gemeinschaft mit der Jugend
gebracht hatte. Sein altes Hirn hatte dem Weine nicht wie die
jugendlich rüstigen Stand zu halten vermocht, er war kläglich
betrunken. Verblödeten Blicks, eine Zigarette zwischen den zitternden
Fingern, schwankte er, mühsam das Gleichgewicht haltend, auf der
Stelle, vom Rausche vorwärts und rückwärts gezogen. Da er beim ersten
Schritte gefallen wäre, getraute er sich nicht vom Fleck, doch zeigte
er einen jammervollen Übermut, hielt jeden, der sich ihm näherte, am
Knopfe fest, lallte, zwinkerte, kicherte, hob seinen beringten,
runzeligen Zeigefinger zu alberner Neckerei und leckte auf abscheulich
zweideutige Art mit der Zungenspitze die Mundwinkel. Aschenbach sah
ihm mit finsteren Brauen zu, und wiederum kam ein Gefühl von
Benommenheit ihn an, so, als zeige die Welt eine leichte, doch nicht
zu hemmende Neigung, sich ins Sonderbare und Fratzenhafte zu
entstellen; ein Gefühl, dem nachzuhängen freilich die Umstände ihn
abhielten, da eben die stampfende Tätigkeit der Maschine aufs neue
begann und das Schiff seine so nah dem Ziel unterbrochene Fahrt durch
den Kanal von San Marco wieder aufnahm. So sah er ihn denn wieder,
den erstaunlichsten Landungsplatz, jene blendende Komposition
phantastischen Bauwerks, welche die Republik den ehrfürchtigen Blicken
nahender Seefahrer entgegenstellte: die leichte Herrlichkeit des
Palastes und die Seufzerbrücke, die Säulen mit Löw' und Heiligem am
Ufer, die prunkend vortretende Flanke des Märchentempels, den
Durchblick auf Torweg und Riesenuhr, und anschauend bedachte er, daß
zu Lande, auf dem Bahnhof in Venedig anlangen, einen Palast durch eine
Hintertür betreten heiße, und daß man nicht anders als wie nun er, als
zu Schiffe, als über das hohe Meer die unwahrscheinlichste der Städte
erreichen sollte.
Die Maschine stoppte, Gondeln drängten herzu, die Fallreepstreppe ward
herabgelassen, Zollbeamte stiegen an Bord und walteten obenhin ihres
Amtes; die Ausschiffung konnte beginnen. Aschenbach gab zu verstehen,
daß er eine Gondel wünsche, die ihn und sein Gepäck zur Station jener
kleinen Dampfer bringen solle, welche zwischen der Stadt und dem Lido
verkehren; denn er gedachte am Meere Wohnung zu nehmen. Man billigt
sein Vorhaben, man schreit seinen Wunsch zur Wasserfläche hinab, wo
die Gondelführer im Dialekt mit einander zanken. Er ist noch
gehindert, hinabzusteigen, sein Koffer hindert ihn, der eben mit
Mühsal die leiterartige Treppe hinunter gezerrt und geschleppt wird.
So sieht er sich minutenlang außerstande, den Zudringlichkeiten des
schauderhaften Alten zu entkommen, den die Trunkenheit dunkel
antreibt, dem Fremden Abschiedshonneurs zu machen. »Wir wünschen den
glücklichsten Aufenthalt«, meckert er unter Kratzfüßen. »Man empfiehlt
sich geneigter Erinnerung! Au revoir, excusez und bon jour, Euer
Exzellenz!« Sein Mund wässert, er drückt die Augen ein, er leckt die
Mundwinkel, und die gefärbte Bartfliege an seiner Greisenlippe sträubt
sich empor. »Unsere Komplimente«, lallt er, zwei Fingerspitzen am
Munde, »unsere Komplimente dem Liebchen, dem allerliebsten, dem
schönsten Liebchen...« Und plötzlich fällt ihm das falsche Obergebiß
vom Kiefer auf die Unterlippe. Aschenbach konnte entweichen. »Dem
Liebchen, dem feinen Liebchen«, hörte er in girrenden, hohlen und
behinderten Lauten in seinem Rücken, während er, am Strickgeländer
sich haltend, die Fallreepstreppe hinabklomm.
Wer hätte nicht einen flüchtigen Schauder, eine geheime Scheu und
Beklommenheit zu bekämpfen gehabt, wenn es zum ersten Male oder nach
langer Entwöhnung galt, eine venezianische Gondel zu besteigen? Das
seltsame Fahrzeug, aus balladesken Zeiten ganz unverändert überkommen
und so eigentümlich schwarz, wie sonst unter allen Dingen nur Särge
sind, es erinnert an lautlose und verbrecherische Abenteuer in
plätschernder Nacht, es erinnert noch mehr an den Tod selbst, an Bahre
und düsteres Begängnis und letzte, schweigsame Fahrt. Und hat man
bemerkt, daß der Sitz einer solchen Barke, dieser sargschwarz
lackierte, mattschwarz gepolsterte Armstuhl, der weichste, üppigste,
der erschlaffendste Sitz von der Welt ist? Aschenbach ward es gewahr,
als er zu Füßen des Gondoliers, seinem Gepäck gegenüber, das am
Schnabel reinlich beisammen lag, sich niedergelassen hatte. Die
Ruderer zankten immer noch, rauh, unverständlich, mit drohenden
Gebärden. Aber die besondere Stille der Wasserstadt schien ihre
Stimmen sanft aufzunehmen, zu entkörpern, über der Flut zu zerstreuen.
Es war warm hier im Hafen. Lau angerührt vom Hauch des Scirocco, auf
dem nachgiebigen Element in Kissen gelehnt, schloß der Reisende die
Augen im Genuß einer so ungewohnten als süßen Lässigkeit. Die Fahrt
wird kurz sein, dachte er; möchte sie immer währen! In leisem
Schwanken fühlte er sich dem Gedränge, dem Stimmengewirr entgleiten.
Wie still und stiller es um ihn wurde! Nichts war zu vernehmen als das
Plätschern des Ruders, das hohle Aufschlagen der Wellen gegen den
Schnabel der Barke, der steil, schwarz und an der Spitze
hellebardenartig bewehrt über dem Wasser stand und noch ein Drittes,
ein Reden, ein Raunen,--das Flüstern des Gondoliers, der zwischen den
Zähnen, stoßweise, in Lauten, die von der Arbeit seiner Arme gepreßt
waren, zu sich selber sprach. Aschenbach blickte auf, und mit leichter
Befremdung gewahrte er, daß um ihn her die Lagune sich weitete und
seine Fahrt dem offenen Meere zugekehrt war. Es schien folglich, daß
er nicht allzu sehr ruhen dürfe, sondern auf den Vollzug seines
Willens ein wenig bedacht sein müsse.
--Zur Dampferstation also! sagte er mit einer halben Wendung
rückwärts. Das Raunen verstummte. Er erhielt keine Antwort.
--Zur Dampferstation also! wiederholte er, indem er sich vollends
umwandte und in das Gesicht des Gondoliers emporblickte, der hinter
ihm, auf erhöhtem Borde stehend, vor dem fahlen Himmel aufragte. Es
war ein Mann von ungefälliger, ja brutaler Physiognomie, seemännisch
blau gekleidet, mit einer gelben Schärpe gegürtet und einen formlosen
Strohhut, dessen Geflecht sich aufzulösen begann, verwegen schief auf
dem Kopfe. Seine Gesichtsbildung, sein blonder, lockiger Schnurrbart
unter der kurz aufgeworfenen Nase ließen ihn durchaus nicht
italienischen Schlages erscheinen. Obgleich eher schmächtig von
Leibesbeschaffenheit, so daß man ihn für seinen Beruf nicht sonderlich
geschickt geglaubt hätte, führte er das Ruder, bei jedem Schlage den
ganzen Körper einsetzend, mit großer Energie. Ein paarmal zog er vor
Anstrengung die Lippen zurück und entblößte seine weißen Zähne. Die
rötlichen Brauen gerunzelt, blickte er über den Gast hinweg, indem er
bestimmten, fast groben Tones erwiderte:
--Sie fahren zum Lido.
Aschenbach entgegnete:
--Allerdings. Aber ich habe die Gondel nur genommen, um mich nach San
Marco übersetzen zu lassen. Ich wünsche den Vaporetto zu benutzen.
--Sie können den Vaporetto nicht benutzen, mein Herr.
--Und warum nicht?
--Weil der Vaporetto kein Gepäck befördert.
Das war richtig; Aschenbach erinnerte sich. Er schwieg. Aber die
schroffe, überhebliche, einem Fremden gegenüber so wenig landesübliche
Art des Menschen schien unleidlich. Er sagte:
--Das ist meine Sache. Vielleicht will ich mein Gepäck in Verwahrung
geben. Sie werden umkehren. Er blieb still. Das Ruder plätscherte,
das Wasser schlug dumpf an den Bug. Und das Reden und Raunen begann
wieder: der Gondolier sprach zwischen den Zähnen mit sich selbst.
Was war zu tun? Allein auf der Flut mit dem sonderbar unbotmäßigen,
unheimlich entschlossenen Menschen, sah der Reisende kein Mittel,
seinen Willen durchzusetzen. Wie weich er übrigens ruhen durfte, wenn
er sich nicht empörte. Hatte er nicht gewünscht, daß die Fahrt lange,
daß sie immer dauern möge? Es war das Klügste, den Dingen ihren Lauf
zu lassen, und es war hauptsächlich höchst angenehm. Ein Bann der
Trägheit schien auszugehen von seinem Sitz, von diesem niedrigen,
schwarzgepolsterten Armstuhl, so sanft gewiegt von den Ruderschlägen
des eigenmächtigen Gondoliers in seinem Rücken. Die Vorstellung, einem
Verbrecher in die Hände gefallen zu sein, streifte träumerisch
Aschenbachs Sinn,--unvermögend, seine Gedanken zu tätiger Abwehr
aufzurufen. Verdrießlicher schien die Möglichkeit, daß alles auf
simple Geldschneiderei angelegt sei. Eine Art Pflichtgefühl oder
Stolz, die Erinnerung gleichsam, daß man dem vorbeugen müsse,
vermochte ihn, sich noch einmal aufzuraffen. Er fragte:
--Was fordern Sie für die Fahrt?
Und über ihn hinsehend antwortete der Gondolier:
--Sie werden bezahlen.
Es stand fest, was hierauf zurückzugeben war. Aschenbach sagte
mechanisch:
--Ich werde nichts bezahlen, durchaus nichts, wenn Sie mich fahren,
wohin ich nicht will.
--Sie wollen zum Lido.
--Aber nicht mit Ihnen.
--Ich fahre Sie gut.
Das ist wahr, dachte Aschenbach und spannte sich ab. Das ist wahr, du
fährst mich gut. Selbst, wenn du es auf meine Barschaft abgesehen hast
und mich hinterrücks mit einem Ruderschlage ins Haus des Aides
schickst, wirst du mich gut gefahren haben. Allein nichts dergleichen
geschah. Sogar Gesellschaft stellte sich ein, ein Boot mit
musikalischen Wegelagerern, Männern und Weibern, die zur Guitarre,
zur Mandoline sangen, aufdringlich Bord an Bord mit der Gondel fuhren
und die Stille über den Wassern mit ihrer gewinnsüchtigen
Fremdenpoesie erfüllten. Aschenbach warf Geld in den hingehaltenen
Hut. Sie schwiegen dann und fuhren davon. Und das Flüstern des
Gondoliers war wieder wahrnehmbar, der stoßweise und abgerissen mit
sich selber sprach.
So kam man denn an, geschaukelt vom Kielwasser eines zur Stadt
fahrenden Dampfers. Zwei Munizipalbeamte, die Hände auf dem Rücken,
die Gesichter der Lagune zugewandt, gingen am Ufer auf und ab.
Aschenbach verließ am Stege die Gondel, unterstützt von jenem Alten,
der an jedem Landungsplatze Venedigs mit seinem Enterhaken zur Stelle
ist; und da es ihm an kleinerem Gelde fehlte, ging er hinüber in das
der Dampferbrücke benachbarte Hotel, um dort zu wechseln und den
Ruderer nach Gutdünken abzulohnen. Er wird in der Halle bedient, er
kehrt zurück, er findet sein Reisegut auf einem Karren am Quai, und
Gondel und Gondolier sind verschwunden.
--Er hat sich fortgemacht, sagte der Alte mit dem Enterhaken. Ein
schlechter Mann, ein Mann ohne Konzession, gnädiger Herr. Er ist der
einzige Gondolier, der keine Konzession besitzt. Die andern haben
hierher telephoniert. Er sah, daß er erwartet wurde. Da hat er sich
fortgemacht.
Aschenbach zuckte die Achseln.
--Der Herr ist umsonst gefahren, sagte der Alte und hielt den Hut hin.
Aschenbach warf Münzen hinein. Er gab Weisung, sein Gepäck ins
Bäder-Hotel zu bringen, und folgte dem Karren durch die Allee, die
weißblühende Allee, welche, Tavernen, Bazare, Pensionen zu beiden
Seiten, quer über die Insel zum Strande läuft.
Er betrat das weitläufige Hotel von hinten, von der Gartenterrasse aus
und begab sich durch die große Halle und die Vorhalle ins Office. Da
er angemeldet war, wurde er mit dienstfertigem Einverständnis
empfangen. Ein Manager, ein kleiner, leiser, schmeichelnd höflicher
Mann mit schwarzem Schnurrbart und in französisch geschnittenem
Gehrock, begleitete ihn im Lift zum zweiten Stockwerk hinauf und wies
ihm sein Zimmer an, einen angenehmen, in Kirschholz möblierten Raum,
den man mit starkduftenden Blumen geschmückt hatte und dessen hohe
Fenster die Aussicht aufs offene Meer gewährten. Er trat an eines
davon, nachdem der Angestellte sich zurückgezogen, und während man
hinter ihm sein Gepäck hereinschaffte und im Zimmer unterbrachte,
blickte er hinaus auf den nachmittäglich menschenarmen Strand und die
unbesonnte See, die Flutzeit hatte und niedrige, gestreckte Wellen in
ruhigem Gleichtakt gegen das Ufer sandte.
Die Beobachtungen und Begegnisse des Einsam-Stummen sind zugleich
verschwommener und eindringlicher als die des Geselligen, seine
Gedanken schwerer, wunderlicher und nie ohne einen Anflug von
Traurigkeit. Bilder und Wahrnehmungen, die mit einem Blick, einem
Lachen, einem Urteilsaustausch leichthin abzutun wären, beschäftigen
ihn über Gebühr, vertiefen sich im Schweigen, werden bedeutsam,
Erlebnis, Abenteuer, Gefühl. Einsamkeit zeitigt das Originale, das
gewagt und befremdend Schöne, das Gedicht. Einsamkeit zeitigt aber
auch das Verkehrte, das Unverhältnismäßige, das Absurde und
Unerlaubte.--So beunruhigten die Erscheinungen der Herreise, der
gräßliche alte Stutzer mit seinem Gefasel vom Liebchen, der verpönte,
um seinen Lohn geprellte Gondolier, noch jetzt das Gemüt des
Reisenden. Ohne der Vernunft Schwierigkeiten zu bieten, ohne
eigentlich Stoff zum Nachdenken zu geben, waren sie dennoch
grundsonderbar von Natur, wie es ihm schien, und beunruhigend wohl
eben durch diesen Widerspruch. Dazwischen grüßte er das Meer mit den
Augen und empfand Freude, Venedig in so leicht erreichbarer Nahe zu
wissen. Er wandte sich endlich, badete sein Gesicht, traf gegen das
Zimmermädchen einige Anordnungen zur Vervollständigung seiner
Bequemlichkeit und ließ sich von dem grün gekleideten Schweizer, der
den Lift bediente, ins Erdgeschoß hinunterfahren.
Er nahm seinen Tee auf der Terrasse der Seeseite, stieg dann hinab und
verfolgte den Promenaden-Quai eine gute Strecke in der Richtung auf
das Hotel Excelsior. Als er zurückkehrte, schien es schon an der
Zeit, sich zur Abendmahlzeit umzukleiden. Er tat es langsam und genau,
nach seiner Art, da er bei der Toilette zu arbeiten gewöhnt war, und
fand sich trotzdem ein wenig verfrüht in der Halle ein, wo er einen
großen Teil der Hotelgäste, fremd untereinander und in gespielter
gegenseitiger Teilnahmslosigkeit, aber in der gemeinsamen Erwartung
des Essens, versammelt fand. Er nahm eine Zeitung vom Tische, ließ
sich in einen Ledersessel nieder und betrachtete die Gesellschaft, die
sich von derjenigen seines ersten Aufenthaltes in einer ihm angenehmen
Weise unterschied.
Ein weiter, duldsam vieles umfassender Horizont tat sich auf.
Gedämpft, vermischten sich die Laute der großen Sprachen. Der
weltgültige Abendanzug, eine Uniform der Gesittung, faßte äußerlich
die Spielarten des Menschlichen zu anständiger Einheit zusammen. Man
sah die trockene und lange Miene des Amerikaners, die vielgliedrige
russische Familie, englische Damen, deutsche Kinder mit französischen
Bonnen. Der slavische Bestandteil schien vorzuherrschen. Gleich in der
Nähe ward polnisch gesprochen.
Es war eine Gruppe halb und kaum Erwachsener, unter der Obhut einer
Erzieherin oder Gesellschafterin um ein Rohrtischchen versammelt: drei
junge Mädchen, fünfzehn-bis siebzehnjährig, wie es schien, und ein
langhaariger Knabe von vielleicht vierzehn Jahren. Mit Erstaunen
bemerkte Aschenbach, daß der Knabe vollkommen schön war. Sein
Antlitz,--bleich und anmutig verschlossen, von honigfarbenem Haar
umringelt, mit der gerade abfallenden Nase, dem lieblichen Munde, dem
Ausdruck von holdem und göttlichem Ernst, erinnerte an griechische
Bildwerke aus edelster Zeit, und bei reinster Vollendung der Form war
es von so einmalig-persönlichem Reiz, daß der Schauende weder in Natur
noch bildender Kunst etwas ähnlich Geglücktes angetroffen zu haben
glaubte. Was ferner auffiel, war ein offenbar grundsätzlicher Kontrast
zwischen den erzieherischen Gesichtspunkten, nach denen die
Geschwister gekleidet und allgemein gehalten schienen. Die Herrichtung
der drei Mädchen, von denen die Älteste für erwachsen gelten konnte,
war bis zum Entstellenden herb und keusch. Eine gleichmäßig
klösterliche Tracht, schieferfarben, halblang, nüchtern und gewollt
unkleidsam von Schnitt, mit weißen Fallkrägen als einziger Aufhellung,
unterdrückte und verhinderte jede Gefälligkeit der Gestalt. Das glatt
und fest an den Kopf geklebte Haar ließ die Gesichter nonnenhaft leer
und nichtssagend erscheinen. Gewiß, es war eine Mutter, die hier
waltete, und sie dachte nicht einmal daran, auch auf den Knaben die
pädagogische Strenge anzuwenden, die ihr den Mädchen gegenüber geboten
schien. Weichheit und Zärtlichkeit bestimmten ersichtlich seine
Existenz. Man hatte sich gehütet, die Schere an sein schönes Haar zu
legen; wie beim Dornauszieher lockte es sich in die Stirn, über die
Ohren und tiefer noch in den Nacken. Ein englisches Matrosenkostüm,
dessen bauschige Ärmel sich nach unten verengerten und die feinen
Gelenke seiner noch kindlichen, aber schmalen Hände knapp umspannten,
verlieh mit seinen Schnüren, Maschen und Stickereien der zarten
Gestalt etwas Reiches und Verwöhntes. Er saß, im Halbprofil gegen den
Betrachtenden, einen Fuß im schwarzen Lackschuh vor den andern
gestellt, einen Ellenbogen auf die Armlehne seines Korbsessels
gestützt, die Wange an die geschlossene Hand geschmiegt, in einer
Haltung von lässigem Anstand und ganz ohne die fast untergeordnete
Steifheit, an die seine weiblichen Geschwister gewöhnt schienen. War
er leidend? Denn die Haut seines Gesichtes stach weiß wie Elfenbein
gegen das goldige Dunkel der umrahmenden Locken ab. Oder war er
einfach ein verzärteltes Vorzugskind, von parteilicher und launischer
Liebe getragen? Aschenbach war geneigt, dies zu glauben. Fast jedem
Künstlernaturell ist ein üppiger und verräterischer Hang eingeboren,
Schönheit schaffende Ungerechtigkeit anzuerkennen und aristokratischer
Bevorzugung Teilnahme und Huldigung entgegenzubringen.
Ein Kellner ging umher und meldete auf englisch, daß die Mahlzeit
bereit sei. Allmählich verlor sich die Gesellschaft durch die Glastür
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