Der Tod in Venedig - 1

Total number of words is 4024
Total number of unique words is 1840
31.8 of words are in the 2000 most common words
44.3 of words are in the 5000 most common words
49.9 of words are in the 8000 most common words
Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
Thomas Mann
Der Tod in Venedig


Die Texte folgen den Ausgaben:
>Der Tod in Venedig< aus
München, Hyperionverlag Hans von Weber 1912



Erstes Kapitel

Gustav Aschenbach oder von Aschenbach, wie seit seinem fünfzigsten
Geburtstag amtlich sein Name lautete, hatte an einem
Frühlingsnachmittag des Jahres 19.., das unserem Kontinent monatelang
eine so gefahrdrohende Miene zeigte, von seiner Wohnung in der
Prinz-Regentenstraße zu München aus, allein einen weiteren Spaziergang
unternommen. Überreizt von der schwierigen und gefährlichen, eben
jetzt eine höchste Behutsamkeit, Umsicht, Eindringlichkeit und
Genauigkeit des Willens erfordernden Arbeit der Vormittagsstunden,
hatte der Schriftsteller dem Fortschwingen des produzierenden
Triebwerks in seinem Innern, jenem »motus animi continuus«, worin
nach Cicero das Wesen der Beredsamkeit besteht, auch nach der
Mittagsmahlzeit nicht Einhalt zu tun vermocht und den entlastenden
Schlummer nicht gefunden, der ihm, bei zunehmender Abnutzbarkeit
seiner Kräfte, einmal untertags so nötig war. So hatte er bald nach
dem Tee das Freie gesucht, in der Hoffnung, daß Luft und Bewegung ihn
wieder herstellen und ihm zu einem ersprießlichen Abend verhelfen
würden.
Es war Anfang Mai und, nach naßkalten Wochen, ein falscher Hochsommer
eingefallen. Der Englische Garten, obgleich nur erst zart belaubt,
war dumpfig wie im August und in der Nähe der Stadt voller Wagen und
Spaziergänger gewesen. Beim Aumeister, wohin stillere und stillere
Wege ihn geführt, hatte Aschenbach eine kleine Weile den volkstümlich
belebten Wirtsgarten überblickt, an dessen Rande einige Droschken und
Equipagen hielten, hatte von dort bei sinkender Sonne seinen Heimweg
außerhalb des Parks über die offene Flur genommen und erwartete, da er
sich müde fühlte und über Föhring Gewitter drohte, am Nördlichen
Friedhof die Tram, die ihn in gerader Linie zur Stadt zurückbringen
sollte. Zufällig fand er den Halteplatz und seine Umgebung von
Menschen leer. Weder auf der gepflasterten Ungererstraße, deren
Schienengeleise sich einsam gleißend gegen Schwabing erstreckten,
noch auf der Föhringer Chaussee war ein Fuhrwerk zu sehen;
hinter den Zäunen der Steinmetzereien, wo zu Kauf stehende Kreuze,
Gedächtnistafeln und Monumente ein zweites, unbehaustes Gräberfeld
bilden, regte sich nichts, und das byzantinische Bauwerk der
Aussegnungshalle gegenüber lag schweigend im Abglanz des scheidenden
Tages. Ihre Stirnseite, mit griechischen Kreuzen und hieratischen
Schildereien in lichten Farben geschmückt, weist überdies symmetrisch
angeordnete Inschriften in Goldlettern auf, ausgewählte, das
jenseitige Leben betreffende Schriftworte wie etwa: »Sie gehen ein in
die Wohnung Gottes« oder: »Das ewige Licht leuchte ihnen«; und der
Wartende hatte während einiger Minuten eine ernste Zerstreuung darin
gefunden, die Formeln abzulesen und sein geistiges Auge in ihrer
durchscheinenden Mystik sich verlieren zu lassen, als er, aus seinen
Träumereien zurückkehrend, im Portikus, oberhalb der beiden
apokalyptischen Tiere, welche die Freitreppe bewachen, einen Mann
bemerkte, dessen nicht ganz gewöhnliche Erscheinung seinen Gedanken
eine völlig andere Richtung gab.
Ob er nun aus dem Innern der Halle durch das bronzene Tor
hervorgetreten oder von außen unversehens heran und hinauf gelangt
war, blieb ungewiß. Aschenbach, ohne sich sonderlich in die Frage zu
vertiefen, neigte zur ersteren Annahme. Mäßig hochgewachsen, mager,
bartlos und auffallend stumpfnäsig, gehörte der Mann zum rothaarigen
Typ und besaß dessen milchige und sommersprossige Haut. Offenbar war
er durchaus nicht bajuwarischen Schlages: wie denn wenigstens der
breit und gerade gerandete Basthut, der ihm den Kopf bedeckte, seinem
Aussehen ein Gepräge des Fremdländischen und Weitherkommenden
verlieh. Freilich trug er dazu den landesüblichen Rucksack um die
Schultern geschnallt, einen gelblichen Gurtanzug aus Lodenstoff, wie
es schien, einen grauen Wetterkragen über dem linken Unterarm, den er
in die Weiche gestützt hielt, und in der Rechten einen mit eiserner
Spitze versehenen Stock, welchen er schräg gegen den Boden stemmte und
auf dessen Krücke er, bei gekreuzten Füßen, die Hüfte lehnte. Erhobenen
Hauptes, so daß an seinem hager dem losen Sporthemd entwachsenden
Halse der Adamsapfel stark und nackt hervortrat, blickte er mit
farblosen, rot bewimperten Augen, zwischen denen, sonderbar genug zu
seiner kurz aufgeworfenen Nase passend, zwei senkrechte, energische
Furchen standen, scharf spähend ins Weite. So--und vielleicht trug
sein erhöhter und erhöhender Standort zu diesem Eindruck bei--hatte
seine Haltung etwas herrisch Überschauendes, Kühnes oder selbst
Wildes; denn sei es, daß er, geblendet, gegen die untergehende Sonne
grimassierte oder daß es sich um eine dauernde physiognomische
Entstellung handelte: seine Lippen schienen zu kurz, sie waren völlig
von den Zähnen zurückgezogen, dergestalt, daß diese, bis zum
Zahnfleisch bloßgelegt, weiß und lang dazwischen hervorbleckten.
Wohl möglich, daß Aschenbach es bei seiner halb zerstreuten, halb
inquisitiven Musterung des Fremden an Rücksicht hatte fehlen lassen;
denn plötzlich ward er gewahr, daß jener seinen Blick erwiderte und
zwar so kriegerisch, so gerade ins Auge hinein, so offenkundig
gesonnen, die Sache aufs Äußerste zu treiben und den Blick des andern
zum Abzug zu zwingen, daß Aschenbach, peinlich berührt, sich abwandte
und einen Gang die Zäune entlang begann, mit dem beiläufigen
Entschluß, des Menschen nicht weiter achtzuhaben. Er hatte ihn in der
nächsten Minute vergessen. Mochte nun aber das Wandererhafte in der
Erscheinung des Fremden auf seine Einbildungskraft gewirkt haben oder
sonst irgendein physischer oder seelischer Einfluß im Spiele sein:
eine seltsame Ausweitung seines Innern ward ihm ganz überraschend
bewußt, eine Art schweifender Unruhe, ein jugendlich durstiges
Verlangen in die Ferne, ein Gefühl, so lebhaft, so neu oder doch so
längst entwöhnt und verlernt, daß er, die Hände auf dem Rücken und den
Blick am Boden, gefesselt stehen blieb, um die Empfindung auf Wesen
und Ziel zu prüfen. Es war Reiselust, nichts weiter; aber wahrhaft
als Anfall auftretend und ins Leidenschaftliche, ja bis zur
Sinnestäuschung gesteigert. Er sah nämlich, als Beispiel gleichsam für
alle Wunder und Schrecken der mannigfaltigen Erde, die seine Begierde
sich auf einmal vorzustellen trachtete,--sah wie mit leiblichem Auge
eine ungeheuere Landschaft, ein tropisches Sumpfgebiet unter
dickdunstigem Himmel, feucht, üppig und ungesund, eine von Menschen
gemiedene Urweltwildnis aus Inseln, Morästen und Schlamm führenden
Wasserarmen. Die flachen Eilande, deren Boden mit Blättern, so dick
wie Hände, mit riesigen Farnen, mit fettem, gequollenem und
abenteuerlich blühendem Pflanzenwerk überwuchert war, sandten haarige
Palmenschäfte empor, und wunderlich ungestalte Bäume, deren Wurzeln
dem Stamm entwuchsen und sich durch die Luft in den Boden, ins Wasser
senkten, bildeten verworrene Waldungen. Auf der stockenden,
grünschattig spiegelnden Flut schwammen, wie Schüsseln groß,
milchweiße Blumen; Vögel von fremder Art, hochschultrig, mit
unförmigen Schnäbeln, standen auf hohen Beinen im Seichten und
blickten unbeweglich zur Seite, während durch ausgedehnte Schilffelder
ein klapperndes Wetzen und Rauschen ging, wie durch Heere von
Geharnischten; dem Schauenden war es, als hauchte der laue,
mephitische Odem dieser geilen und untauglichen Öde ihn an, die in
einem ungeheuerlichen Zustande von Werden oder Vergehen zu schweben
schien, zwischen den knotigen Rohrstämmen eines Bambusdickichts
glaubte er einen Augenblick die phosphoreszierenden Lichter des Tigers
funkeln zu sehen--und fühlte sein Herz pochen vor Entsetzen und
rätselhaftem Verlangen. Dann wich das Gesicht; und mit einem
Kopfschütteln nahm Aschenbach seine Promenade an den Zäunen der
Grabsteinmetzereien wieder auf.
Er hatte, zum mindesten seit ihm die Mittel zu Gebote gewesen wären,
die Vorteile des Weltverkehrs beliebig zu genießen, das Reisen nicht
anders denn als eine hygienische Maßregel betrachtet, die gegen Sinn
und Neigung dann und wann hatte getroffen werden müssen. Zu
beschäftigt mit den Aufgaben, welche sein Ich und die europäische
Seele ihm stellten, zu belastet von der Verpflichtung zur Produktion,
der Zerstreuung zu abgeneigt, um zum Liebhaber der bunten Außenwelt
zu taugen, hatte er sich durchaus mit der Anschauung begnügt, die
heute jedermann, ohne sich weit aus seinem Kreise zu rühren, von der
Oberfläche der Erde gewinnen kann, und war niemals auch nur versucht
gewesen, Europa zu verlassen. Zumal seit sein Leben sich langsam
neigte, seit seine Künstlerfurcht, nicht fertig zu werden,--diese
Besorgnis, die Uhr möchte abgelaufen sein, bevor er das Seine getan
und völlig sich selbst gegeben, nicht mehr als bloße Grille von der
Hand zu weisen war, hatte sein äußeres Dasein sich fast ausschließlich
auf die schöne Stadt, die ihm zur Heimat geworden, und auf den rauhen
Landsitz beschränkt, den er sich im Gebirge errichtet und wo er die
regnerischen Sommer verbrachte.
Auch wurde denn, was ihn da eben so spät und plötzlich angewandelt,
sehr bald durch Vernunft und von jung auf geübte Selbstzucht gemäßigt
und richtig gestellt. Er hatte beabsichtigt, das Werk, für welches er
lebte, bis zu einem gewissen Punkte zu fördern, bevor er aufs Land
übersiedelte, und der Gedanke einer Weltbummelei, die ihn auf Monate
seiner Arbeit entführen würde, schien allzu locker und planwidrig, er
durfte nicht ernstlich in Frage kommen. Und doch wußte er nur zu wohl,
aus welchem Grunde die Anfechtung so unversehens hervorgegangen war.
Fluchtdrang war sie, daß er es sich eingestand, diese Sehnsucht ins
Ferne und Neue, diese Begierde nach Befreiung, Entbürdung und
Vergessen,--der Drang hinweg vom Werke, von der Alltagsstätte eines
starren, kalten und leidenschaftlichen Dienstes. Zwar liebte er ihn
und liebte auch fast schon den entnervenden, sich täglich erneuernden
Kampf zwischen seinem zähen und stolzen, so oft erprobten Willen und
dieser wachsenden Müdigkeit, von der niemand wissen und die das
Produkt auf keine Weise, durch kein Anzeichen des Versagens und der
Laßheit verraten durfte. Aber verständig schien es, den Bogen nicht
zu überspannen und ein so lebhaft ausbrechendes Bedürfnis nicht
eigensinnig zu ersticken. Er dachte an seine Arbeit, dachte an die
Stelle, an der er sie auch heute wieder, wie gestern schon, hatte
verlassen müssen und die weder geduldiger Pflege noch einem raschen
Handstreich sich fügen zu wollen schien. Er prüfte sie aufs neue,
versuchte die Hemmung zu durchbrechen oder aufzulösen und ließ
mit einem Schauder des Widerwillens vom Angriff ab. Hier bot sich
keine außerordentliche Schwierigkeit, sondern was ihn lähmte, waren
die Skrupeln der Unlust, die sich als eine durch nichts mehr zu
befriedigende Ungenügsamkeit darstellte. Ungenügsamkeit freilich hatte
schon dem Jüngling als Wesen und innerste Natur des Talentes gegolten,
und um ihretwillen hatte er das Gefühl gezügelt und erkältet, weil er
wußte, daß es geneigt ist, sich mit einem fröhlichen Ungefähr und mit
einer halben Vollkommenheit zu begnügen. Rächte sich nun also die
geknechtete Empfindung, indem sie ihn verließ, indem sie seine Kunst
fürder zu tragen und zu beflügeln sich weigerte und alle Lust, alles
Entzücken an der Form und am Ausdruck mit sich hinwegnahm?
Nicht, daß er Schlechtes herstellte: Dies wenigstens war der Vorteil
seiner Jahre, daß er sich seiner Meisterschaft jeden Augenblick in
Gelassenheit sicher fühlte. Aber er selbst, während die Nation sie
ehrte, er ward ihrer nicht froh, und es schien ihm, als ermangle sein
Werk jener Merkmale feurig spielender Laune, die, ein Erzeugnis der
Freude, mehr als irgend ein innerer Gehalt, ein gewichtigerer Vorzug,
die Freude der genießenden Welt bildeten. Er fürchtete sich vor dem
Sommer auf dem Lande, allein in dem kleinen Hause mit der Magd, die
ihm das Essen bereitete, und dem Diener, der es ihm auftrug; fürchtete
sich vor den vertrauten Angesichten der Berggipfel und-wände, die
wiederum seine unzufriedene Langsamkeit umstehen würden. Und
so tat denn eine Einschaltung not, etwas Stegreifdasein, Tagdieberei,
Fernluft und Zufuhr neuen Blutes, damit der Sommer erträglich und
ergiebig werde. Reisen also,--er war es zufrieden. Nicht gar weit,
nicht gerade bis zu den Tigern. Eine Nacht im Schlafwagen und eine
Siesta von drei, vier Wochen an irgend einem Allerweltsferienplatze im
liebenswürdigen Süden...
So dachte er, während der Lärm der elektrischen Tram die Ungererstraße
daher sich näherte, und einsteigend beschloß er, diesen Abend dem
Studium von Karte und Kursbuch zu widmen. Auf der Plattform fiel ihm
ein, nach dem Manne im Basthut, dem Genossen dieses immerhin
folgereichen Aufenthaltes, Umschau zu halten. Doch wurde ihm dessen
Verbleib nicht deutlich, da er weder an seinem vorherigen Standort,
noch auf dem weiteren Halteplatz, noch auch im Wagen ausfindig zu
machen war.


Zweites Kapitel

Der Autor der klaren und mächtigen Prosa-Epopöe vom Leben Friedrichs
von Preußen; der geduldige Künstler, der in langem Fleiß den
figurenreichen, so vielerlei Menschenschicksal im Schatten einer Idee
versammelnden Romanteppich, »Maja« mit Namen, wob; der Schöpfer
jener starken Erzählung, die »Ein Elender« überschrieben ist und einer
ganzen dankbaren Jugend die Möglichkeit sittlicher Entschlossenheit
jenseits der tiefsten Erkenntnis zeigte; der Verfasser endlich (und
damit sind die Werke seiner Reifezeit kurz bezeichnet) der
leidenschaftlichen Abhandlung über »Geist und Kunst«, deren
ordnende Kraft und antithetische Beredsamkeit ernste Beurteiler
vermochte, sie unmittelbar neben Schillers Raisonnement über naive
und sentimentalische Dichtung zu stellen: Gustav Aschenbach also war
zu L., einer Kreisstadt der Provinz Schlesien, als Sohn eines höheren
Justizbeamten geboren. Seine Vorfahren waren Offiziere, Richter,
Verwaltungsfunktionäre gewesen, Männer, die im Dienste des Königs, des
Staates, ihr straffes, anständig karges Leben geführt hatten. Innigere
Geistigkeit hatte sich einmal, in der Person eines Predigers, unter
ihnen verkörpert; rascheres, sinnlicheres Blut war der Familie in der
vorigen Generation durch die Mutter des Dichters, Tochter eines
böhmischen Kapellmeisters, zugekommen. Von ihr stammten die Merkmale
fremder Rasse in seinem Äußern. Die Vermählung dienstlich nüchterner
Gewissenhaftigkeit mit dunkleren, feurigeren Impulsen ließ einen
Künstler und diesen besonderen Künstler erstehen. Da sein ganzes
Wesen auf Ruhm gestellt war, zeigte er sich, wenn nicht eigentlich
früh reif, so doch, dank der Entschiedenheit und persönlichen Prägnanz
seines Tonfalls früh für die Öffentlichkeit reif und geschickt. Beinahe
noch Gymnasiast, besaß er einen Namen. Zehn Jahre später hatte
er gelernt, von seinem Schreibtische aus zu repräsentieren, seinen
Ruhm zu verwalten in einem Briefsatz, der kurz sein mußte (denn viele
Ansprüche drängen auf den Erfolgreichen, den Vertrauenswürdigen ein),
gütig und bedeutend zu sein. Der Vierziger hatte, ermattet von den
Strapazen und Wechselfällen der eigentlichen Arbeit, alltäglich eine
Post zu bewältigen, die Wertzeichen aus aller Herren Ländern trug.
Ebensoweit entfernt vom Banalen wie vom Exzentrischen, war sein Talent
geschaffen, den Glauben des breiten Publikums und die bewundernde,
fordernde Teilnahme der Wählerischen zugleich zu gewinnen. So, schon
als Jüngling von allen Seiten auf die Leistung--und zwar die
außerordentliche--verpflichtet, hatte er niemals den Müßiggang,
niemals die Fahrlässigkeit der Jugend gekannt. Als er um sein
fünfunddreißigstes Jahr in Wien erkrankte, äußerte ein feiner Beobachter
über ihn in Gesellschaft: »Sehen Sie, Aschenbach hat von jeher nur so
gelebt«--und der Sprecher schloß die Finger seiner Linken fest zur
Faust--; »niemals so«--und er ließ die geöffnete Hand bequem
von der Lehne des Sessels hängen. Das traf zu; und das
Tapfer-Sittliche daran war, daß seine Natur von nichts weniger als
robuster Verfassung und zur ständigen Anspannung nur berufen, nicht
eigentlich geboren war.
Ärztliche Fürsorge hatte den Knaben vom Schulbesuch ausgeschlossen
und auf häuslichen Unterricht gedrungen. Einzeln, ohne Kameradschaft
war er aufgewachsen und hatte doch zeitig erkennen müssen, daß er
einem Geschlecht angehörte, in dem nicht das Talent, wohl aber die
physische Basis eine Seltenheit war, deren das Talent zu seiner
Erfüllung bedarf,--einem Geschlechte, das früh sein Bestes zu geben
pflegt und in dem das Können es selten zu Jahren bringt. Aber sein
Lieblingswort war »Durchhalten«,--er sah in seinem Friedrich-Roman
nichts anderes als die Apotheose dieses Befehlswortes, das ihm als der
Inbegriff-leitend-tätiger Tugend erschien. Auch wünschte er sehnlichst,
alt zu werden, denn er hatte von jeher dafür gehalten, daß wahrhaft
groß, umfassend, ja wahrhaft ehrenwert nur das Künstlertum zu nennen
sei, dem es beschieden war, auf allen Stufen des Menschlichen
charakteristisch fruchtbar zu sein.
Da er also die Aufgaben, mit denen sein Talent ihn belud, auf zarten
Schultern tragen und weit gehen wollte, so bedurfte er höchlich der
Zucht,--und Zucht war ja zum Glücke sein eingeborenes Erbteil von
väterlicher Seite. Mit vierzig, mit fünfzig Jahren wie schon in einem
Alter, wo andere verschwenden, schwärmen, die Ausführung großer Pläne
getrost verschieben, begann er seinen Tag beizeiten mit Stürzen
kalten Wassers über Brust und Rücken und brachte dann, ein Paar hoher
Wachskerzen in silbernen Leuchtern zu Häupten des Manuskripts, die
Kräfte, die er im Schlaf gesammelt, in zwei oder drei inbrünstig
gewissenhaften Morgenstunden der Kunst zum Opfer dar. Es war
verzeihlich, ja, es bedeutete recht eigentlich den Sieg seiner
Moralität, wenn Unkundige die Maja-Welt oder die epischen Massen,
in denen sich Friedrichs Heldenleben entrollte, für das Erzeugnis
gedrungener Kraft und eines langen Atems hielten, während sie vielmehr
in kleinen Tagewerken aus hundert Einzelinspirationen zur Größe
emporgeschichtet und nur darum so durchaus und an jedem Punkte
vortrefflich waren, weil ihr Schöpfer mit einer Willensdauer und
Zähigkeit, derjenigen ähnlich, die seine Heimatprovinz eroberte,
jahrelang unter der Spannung eines und desselben Werkes ausgehalten
und an die eigentliche Herstellung ausschließlich seine stärksten und
würdigsten Stunden gewandt hatte.
Damit ein bedeutendes Geistesprodukt auf der Stelle eine breite und
tiefe Wirkung zu üben vermöge, muß eine tiefe Verwandtschaft, ja
Übereinstimmung zwischen dem persönlichen Schicksal seines Urhebers
und dem allgemeinen des mitlebenden Geschlechtes bestehen. Die
Menschen wissen nicht, warum sie einem Kunstwerk Ruhm bereiten. Weit
entfernt von Kennerschaft, glauben sie hundert Vorzüge daran zu
entdecken, um so viel Teilnahme zu rechtfertigen; aber der
eigentliche Grund ihres Beifalls ist ein Unwägbares, ist Sympathie.
Aschenbach hatte es einmal an wenig sichtbarer Stelle unmittelbar
ausgesprochen, daß beinahe alles Große, was dastehe, als ein Trotzdem
dastehe, trotz Kummer und Qual, Armut, Verlassenheit, Körperschwäche,
Laster, Leidenschaft und tausend Hemmnissen zustande gekommen sei.
Aber das war mehr als eine Bemerkung, es war eine Erfahrung, war
geradezu die Formel seines Lebens und Ruhmes, der Schlüssel zu seinem
Werk; und was Wunder also, wenn es auch der sittliche Charakter, die
äußere Gebärde seiner eigentümlichsten Figuren war?
Über den neuen, in mannigfach individuellen Erscheinungen
wiederkehrenden Heldentyp, den dieser Schriftsteller bevorzugte, hatte
schon frühzeitig ein kluger Zergliederer geschrieben: daß er die
Konzeption »einer intellektuellen und jünglinghaften Männlichkeit«
sei, »die in stolzer Scham die Zähne aufeinanderbeißt und ruhig
dasteht, während ihr die Schwerter und Speere durch den Leib gehen«.
Das war schön, geistreich und exakt, trotz seiner scheinbar allzu
passivischen Prägung. Denn Haltung im Schicksal, Anmut in der Qual
bedeutet nicht nur ein Dulden; sie ist eine aktive Leistung, ein
positiver Triumph, und die Sebastian-Gestalt ist das schönste
Sinnbild, wenn nicht der Kunst überhaupt, so doch gewiß der in Rede
stehenden Kunst. Blickte man hinein in diese erzählte Welt, sah man
die elegante Selbstbeherrschung, die bis zum letzten Augenblick eine
innere Unterhöhlung, den biologischen Verfall vor den Augen der Welt
verbirgt; die gelbe, sinnlich benachteiligte Häßlichkeit, die es
vermag, ihre schwelende Brunst zur reinen Flamme zu entfachen, ja,
sich zur Herrschaft im Reiche der Schönheit aufzuschwingen; die
bleiche Ohnmacht, welche aus den glühenden Tiefen des Geistes die
Kraft holt, ein ganzes übermütiges Volk zu Füßen des Kreuzes, zu
_ihren_ Füßen niederzuwerfen; die liebenswürdige Haltung im leeren und
strengen Dienste der Form; das falsche, gefährliche Leben, die rasch
entnervende Sehnsucht und Kunst des gebornen Betrügers: betrachtete
man all dies Schicksal und wieviel gleichartiges noch, so konnte man
zweifeln, ob es überhaupt einen anderen Heroismus gäbe, als denjenigen
der Schwäche. Welches Heldentum aber jedenfalls wäre zeitgemäßer als
dieses? Gustav Aschenbach war der Dichter all derer, die am Rande der
Erschöpfung arbeiten, der Überbürdeten, schon Aufgeriebenen, sich noch
Aufrechthaltenden, all dieser Moralisten der Leistung, die, schmächtig
von Wuchs und spröde von Mitteln, durch Willensverzückung und kluge
Verwaltung sich wenigstens eine Zeitlang die Wirkungen der Größe
abgewinnen. Ihrer sind viele, sie sind die Helden des Zeitalters. Und
sie alle erkannten sich wieder in seinem Werk, sie fanden sich
bestätigt, erhoben, besungen darin, sie wußten ihm Dank, sie
verkündeten seinen Namen.
Er war jung und roh gewesen mit der Zeit und, schlecht beraten von
ihr, war er öffentlich gestrauchelt, hatte Mißgriffe getan, sich
bloßgestellt, Verstöße gegen Takt und Besonnenheit begangen in Wort
und Werk. Aber er hatte die Würde gewonnen, nach welcher, wie er
behauptete, jedem großen Talente ein natürlicher Drang und Stachel
eingeboren ist, ja, man kann sagen, daß seine ganze Entwicklung ein
bewußter und trotziger, alle Hemmungen des Zweifels und der Ironie
zurücklassender Aufstieg zur Würde gewesen war.
Lebendige, geistig unverbindliche Greifbarkeit der Gestaltung bildet
das Ergötzen der bürgerlichen Massen, aber leidenschaftlich unbedingte
Jugend wird nur durch das Problematische gefesselt: und Aschenbach
war problematisch, war unbedingt gewesen wie nur irgendein Jüngling.
Er hatte dem Geiste gefrönt, mit der Erkenntnis Raubbau getrieben,
Saatfrucht vermahlen, Geheimnisse preisgegeben, das Talent
verdächtigt, die Kunst verraten,--ja, während seine Bildwerke die
gläubig Genießenden unterhielten, erhoben, belebten, hatte er, der
jugendliche Künstler, die Zwanzigjährigen durch seine Zynismen über
das fragwürdige Wesen der Kunst, des Künstlertums selbst in Atem
gehalten.
Aber es scheint, daß gegen nichts ein edler und tüchtiger Geist sich
rascher, sich gründlicher abstumpft als gegen den scharfen und
bitteren Reiz der Erkenntnis; und gewiß ist, daß die schwermütig
gewissenhafteste Gründlichkeit des Jünglings Seichtheit bedeutet im
Vergleich mit dem tiefen Entschlusse des Meister gewordenen Mannes,
das Wissen zu leugnen, es abzulehnen, erhobenen Hauptes darüber
hinwegzusehen, sofern es den Willen, die Tat, das Gefühl und selbst
die Leidenschaft im Geringsten zu lähmen, zu entmutigen, zu
entwürdigen geeignet ist. Wie wäre die berühmte Erzählung vom
»Elenden« wohl anders zu deuten denn als Ausbruch des Ekels gegen
den unanständigen Psychologismus der Zeit, verkörpert in der Figur
jenes weichen und albernen Halbschurken, der sich ein Schicksal
erschleicht, indem er sein Weib, aus Ohnmacht, aus Lasterhaftigkeit,
aus ethischer Velleität, in die Arme eines Unbärtigen treibt und aus
Tiefe Nichtswürdigkeiten begehen zu dürfen glaubt? Die Wucht des Wortes,
mit welchem hier das Verworfene verworfen wurde, verkündete die Abkehr
von allem moralischen Zweifelsinn, von jeder Sympathie mit dem Abgrund,
die Absage an die Laxheit des Mitleidssatzes, daß alles verstehen
alles verzeihen heiße, und was sich hier vorbereitete, ja schon vollzog,
war jenes »Wunder der wiedergeborenen Unbefangenheit«, auf
welches ein wenig später in einem der Dialoge des Autors ausdrücklich
und nicht ohne geheimnisvolle Betonung die Rede kam. Seltsame
Zusammenhänge! War es eine geistige Folge dieser »Wiedergeburt«,
dieser neuen Würde und Strenge, daß man um dieselbe Zeit ein fast
übermäßiges Erstarken seines Schönheitssinnes beobachtete, jene
adelige Reinheit, Einfachheit und Ebenmäßigkeit der Formgebung,
welche seinen Produkten fortan ein so sinnfälliges, ja gewolltes
Gepräge der Meisterlichkeit und Klassizität verlieh? Aber moralische
Entschlossenheit jenseits des Wissens, der auflösenden und hemmenden
Erkenntnis,--bedeutet sie nicht wiederum eine Vereinfachung, eine
sittliche Vereinfältigung der Welt und der Seele und also auch ein
Erstarken zum Bösen, Verbotenen, zum sittlich Unmöglichen? Und hat
Form nicht zweierlei Gesicht? Ist sie nicht sittlich und unsittlich
zugleich,--sittlich als Ergebnis und Ausdruck der Zucht, unsittlich
aber und selbst widersittlich, sofern sie von Natur eine moralische
Gleichgültigkeit in sich schließt, ja, wesentlich bestrebt ist, das
Moralische unter ihr stolzes und unumschränktes Szepter zu beugen?
Wie dem auch sei! Eine Entwicklung ist ein Schicksal; und wie sollte
nicht diejenige anders verlaufen, die von der Teilnahme, dem
Massenzutrauen einer weiten Öffentlichkeit begleitet wird, als jene,
die sich ohne den Glanz und die Verbindlichkeiten des Ruhmes
vollzieht? Nur ewiges Zigeunertum findet es langweilig und ist zu
spotten geneigt, wenn ein großes Talent dem libertinischen
Puppenstande entwächst, die Würde des Geistes ausdrucksvoll
wahrzunehmen sich gewöhnt und die Hofsitten einer Einsamkeit annimmt,
die voll unberatener, hart selbständiger Leiden und Kämpfe war und es
zu Macht und Ehren unter den Menschen brachte. Wieviel Spiel, Trotz,
Genuß ist übrigens in der Selbstgestaltung des Talentes! Etwas
Amtlich-Erzieherisches trat mit der Zeit in Gustav Aschenbachs
Vorführungen ein, sein Stil entriet in späteren Jahren der
unmittelbaren Kühnheiten, der subtilen und neuen Abschattungen, er
wandelte sich ins Mustergültig-Feststehende, Geschliffen-Herkömmliche,
Erhaltende, Formelle, selbst Formelhafte, und wie die Überlieferung es
von Ludwig dem Vierzehnten wissen will, so verbannte der Alternde aus
seiner Sprachweise jedes gemeine Wort: Damals geschah es, daß die
Unterrichtsbehörde ausgewählte Seiten von ihm in die vorgeschriebenen
Schullesebücher übernahm. Es war ihm innerlich gemäß, und er lehnte
nicht ab, als ein deutscher Fürst, soeben zum Throne gelangt, dem
Dichter des »Friedrich« zu seinem fünfzigsten Geburtstag den
persönlichen Adel verlieh.
Nach einigen Jahren der Unruhe, einigen Versuchsaufenthalten da und
dort wählte er frühzeitig München zum dauernden Wohnsitz und lebte
dort in bürgerlichem Ehrenstande, wie er dem Geiste in besonderen
Einzelfällen zuteil wird. Die Ehe, die er in noch jugendlichem Alter
mit einem Mädchen aus gelehrter Familie eingegangen, wurde nach kurzer
Glücksfrist durch den Tod getrennt. Eine Tochter, schon Gattin, war
ihm geblieben. Einen Sohn hatte er nie besessen.
Gustav von Aschenbach war ein wenig unter Mittelgröße, brünett,
rasiert. Sein Kopf erschien ein wenig zu groß im Verhältnis zu der
fast zierlichen Gestalt. Sein rückwärts gebürstetes Haar, am Scheitel
gelichtet, an den Schläfen sehr voll und stark ergraut, umrahmte eine
hohe, zerklüftete und gleichsam narbige Stirn. Der Bügel einer
Goldbrille mit randlosen Gläsern schnitt in die Wurzel der
gedrungenen, edel gebogenen Nase ein. Der Mund war groß, oft schlaff,
oft plötzlich schmal und gespannt; die Wangenpartie mager und
gefurcht, das wohlausgebildete Kinn weich gespalten. Bedeutende
Schicksale schienen über dies meist leidend seitwärts geneigte Haupt
hinweggegangen zu sein, und doch war die Kunst es gewesen, die hier
jene physiognomische Durchbildung übernommen hatte, welche sonst das
Werk eines schweren, bewegten Lebens ist. Hinter dieser Stirn waren
You have read 1 text from German literature.
Next - Der Tod in Venedig - 2
  • Parts
  • Der Tod in Venedig - 1
    Total number of words is 4024
    Total number of unique words is 1840
    31.8 of words are in the 2000 most common words
    44.3 of words are in the 5000 most common words
    49.9 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
  • Der Tod in Venedig - 2
    Total number of words is 4082
    Total number of unique words is 1834
    31.3 of words are in the 2000 most common words
    42.3 of words are in the 5000 most common words
    48.6 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
  • Der Tod in Venedig - 3
    Total number of words is 4242
    Total number of unique words is 1795
    32.6 of words are in the 2000 most common words
    45.6 of words are in the 5000 most common words
    52.1 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
  • Der Tod in Venedig - 4
    Total number of words is 4231
    Total number of unique words is 1859
    32.5 of words are in the 2000 most common words
    45.3 of words are in the 5000 most common words
    51.7 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
  • Der Tod in Venedig - 5
    Total number of words is 4155
    Total number of unique words is 1820
    30.4 of words are in the 2000 most common words
    42.0 of words are in the 5000 most common words
    48.1 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
  • Der Tod in Venedig - 6
    Total number of words is 4119
    Total number of unique words is 1924
    30.6 of words are in the 2000 most common words
    42.5 of words are in the 5000 most common words
    47.8 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
  • Der Tod in Venedig - 7
    Total number of words is 162
    Total number of unique words is 118
    67.7 of words are in the 2000 most common words
    73.5 of words are in the 5000 most common words
    76.6 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.