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Der Stechlin: Roman - 09
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die neuralgischen Schmerzen; aber wenn er hört, daß Sie da sind, so tut
er ein übriges. Sie wissen, Sie sind sein Verzug. Man weiß immer, wenn
man Verzug ist. Ich wenigstens hab es immer gewußt.«
»Das glaub ich.«
»Das glaub ich! Wie wollen Sie das erklären?«
»Einfach genug, gnädigste Gräfin. Jede Sache will gelernt sein.
Alles ist schließlich Erfahrung. Und ich glaube, daß Ihnen reichlich
Gelegenheit gegeben wurde, der Frage ›Verzug oder Nichtverzug‹
praktisch näherzutreten.«
»Gut herausgeredet. Aber nun, Armgard, sage dem Herrn von Stechlin (ich
persönlich getraue mich's nicht), daß wir in einer halben Stunde fort
müssen, Opernhaus, ›Tristan und Isolde‹. Was sagen Sie dazu? Nicht zu
Tristan und Isolde, nein, zu der heikleren Frage, daß wir eben gehen,
im selben Augenblick, wo Sie kommen. Denn ich seh es Ihnen an, Sie
kamen nicht so bloß um ›~five o'clock tea's~‹ willen, Sie hatten es
besser mit uns vor. Sie wollten bleiben ...«
»Ich bekenne ...«
»Also getroffen. Und zum Zeichen, daß Sie großmütig sind und Verzeihung
üben, versprechen Sie, daß wir Sie bald wiedersehen, recht, recht bald.
Ihr Wort darauf. Und dem Papa, der Sie vielleicht erwartet, wenn es
Jeserich für gut befunden hat, die Meldung auszurichten, -- dem Papa
werd ich sagen, Sie hätten nicht bleiben können, eine Verabredung, Klub
oder sonst was.«
* * * * *
Während Woldemar nach diesem abschließenden Gespräch mit Melusine die
Treppe hinabstieg und auf den nächsten Droschkenstand zuschritt, saß
der alte Graf in seinem Zimmer und sah, den rechten Fuß auf einen
Stuhl gelehnt, durch das Balkonfenster auf den Abendhimmel. Er liebte
diese Dämmerstunde, drin er sich nicht gerne stören ließ (am wenigsten
gern durch vorzeitig gebrachtes Licht), und als Jeserich, der das also
wußte, jetzt eintrat, war es nicht, um dem alten Grafen die Lampe zu
bringen, sondern nur um ein paar Kohlen aufzuschütten.
»Wer war denn da, Jeserich?«
»Der Herr Rittmeister.«
»So, so. Schade, daß er nicht geblieben ist. Aber freilich, was soll
er mit mir? Und der Fuß und die Schmerzen, dadurch wird man auch nicht
interessanter. Armgard und nun gar erst Melusine, ja, da geht es, da
redet sich's schon besser, und das wird der Rittmeister wohl auch
finden. Aber soviel ist richtig, ich spreche gern mit ihm; er hat so
was Ruhiges und Gesetztes und immer schlicht und natürlich. Meinst du
nicht auch?«
Jeserich nickte.
»Und glaubst du nicht auch (denn warum käme er sonst so oft), daß er
was vorhat?«
»Glaub ich auch, Herr Graf.«
»Na, was glaubst du?«
»Gott, Herr Graf ...«
»Ja, Jeserich, du willst nicht raus mit der Sprache. Das hilft dir aber
nichts. Wie denkst du dir die Sache?«
Jeserich schmunzelte, schwieg aber weiter, weshalb dem alten Grafen
nichts übrig blieb, als seinerseits fortzufahren. »Natürlich paßt
Armgard besser, weil sie jung ist; es ist so mehr das richtige
Verhältnis, und überhaupt, Armgard ist sozusagen dran. Aber, weiß der
Teufel, Melusine ...«
»Freilich, Herr Graf.«
»Also du hast doch auch so was gesehen. Alles dreht sich immer um die.
Wie denkst du dir nun den Rittmeister? Und wie denkst du dir die Damen?
Und wie steht es überhaupt? Ist es die oder ist es die?«
»Ja, Herr Graf, wie soll ich darüber denken? Mit Damen weiß man ja nie
-- vornehm und nicht vornehm, klein und groß, arm und reich, das is all
eins. Mit unsrer Lizzi is es gerad ebenso wie mit Gräfin Melusine. Wenn
man denkt, es is so, denn is es so, und wenn man denkt, es is so, denn
is es wieder so. Wie meine Frau noch lebte, Gott habe sie selig, die
sagte auch immer: ›Ja, Jeserich, was du dir bloß denkst; wir sind eben
ein Rätsel.‹ Ach Gott, sie war ja man einfach, aber das können Sie mir
glauben, Herr Graf, so sind sie alle.«
»Hast ganz recht, Jeserich. Und deshalb können wir auch nicht gegen an.
Und ich freue mich, daß du das auch so scharf aufgefaßt hast. Du bist
überhaupt ein Menschenkenner. Wo du's bloß her hast? Du hast so was von
nem Philosophen. Hast du schon mal einen gesehen?«
»Nein, Herr Graf. Wenn man so viel zu tun hat und immer Silber putzen
muß.«
»Ja, Jeserich, das hilft doch nu nich, davon kann ich dich nicht
freimachen ...«
»Nein, so mein ich es ja auch nich, Herr Graf, und ich bin ja auch
fürs Alte. Gute Herrschaft und immer denken, ›man gehört so halb wie
mit dazu,‹ -- dafür bin ich. Und manche sollen ja auch halb mit dazu
gehören ... Aber ein bißchen anstrengend is es doch mitunter, und man
is doch am Ende auch ein Mensch ...«
»Na, höre, Jeserich, das hab ich dir doch noch nicht abgesprochen.«
»Nein, nein, Herr Graf. Gott, man sagt so was bloß. Aber ein bißchen is
es doch damit ...«
Zwölftes Kapitel
Woldemar -- wie Rex seinem Freunde Czako, als beide über den Cremmer
Damm ritten, ganz richtig mitgeteilt hatte -- verkehrte seit Ausgang
des Winters im Barbyschen Hause, das er sehr bald vor andern Häusern
seiner Bekanntschaft bevorzugte. Vieles war es, was ihn da fesselte,
voran die beiden Damen; aber auch der alte Graf. Er fand Ähnlichkeiten,
selbst in der äußern Erscheinung, zwischen dem Grafen und seinem
Papa, und in seinem Tagebuche, das er, trotz sonstiger Modernität, in
altmodischer Weise von jung an führte, hatte er sich gleich am ersten
Abend über eine gewisse Verwandtschaft zwischen den beiden geäußert.
Es hieß da unterm achtzehnten April: »Ich kann Wedel nicht dankbar
genug sein, mich bei den Barbys eingeführt zu haben; alles, was er
von dem Hause gesagt, fand ich bestätigt. Diese Gräfin, wie charmant,
und die Schwester ebenso, trotzdem größere Gegensätze kaum denkbar
sind. An der einen alles Temperament und Anmut, an der andern alles
Charakter oder, wenn das zuviel gesagt sein sollte, Schlichtheit,
Festigkeit. Es bleibt mit den Namen doch eine eigene Sache; die Gräfin
ist ganz Melusine und die Komtesse ganz Armgard. Ich habe bis jetzt
freilich nur eine dieses Namens kennen gelernt, noch dazu bloß als
Bühnenfigur, und ich mußte beständig an diese denken, wie sie da
(ich glaube, es war Fräulein Stolberg, die ja auch das Maß hat) dem
Landvogt so mutig in den Zügel fällt. Ganz so wirkt Komtesse Armgard!
Ich möchte beinah sagen, es läßt sich an ihr wahrnehmen, daß ihre
Mutter eine richtige Schweizerin war. Und dazu der alte Graf! Wie
ein Zwillingsbruder von Papa; derselbe Bismarckkopf, dasselbe humane
Wesen, dieselbe Freundlichkeit, dieselbe gute Laune. Papa ist aber
ausgiebiger und auch wohl origineller. Vielleicht hat der verschiedene
Lebensgang diese Verschiedenheiten erst geschaffen. Papa sitzt nun seit
richtigen dreißig Jahren in seinem Ruppiner Winkel fest, der Graf war
ebensolange draußen! Ein Botschaftsrat ist eben was anderes als ein
Ritterschaftsrat, und an der Themse wächst man sich anders aus als am
›Stechlin‹ -- unsern Stechlin dabei natürlich in Ehren. Trotzdem, die
Verwandtschaft bleibt. Und der alte Diener, den sie Jeserich nennen,
der ist nun schon ganz und gar unser Engelke vom Kopf bis zur Zeh. Aber
was am verwandtesten ist, das ist doch die gesamte Hausatmosphäre, das
Liberale. Papa selbst würde zwar darüber lachen -- er lacht über nichts
so sehr wie über Liberalismus --, und doch kenne ich keinen Menschen,
der innerlich so frei wäre, wie gerade mein guter Alter. Zugeben wird
er's freilich nie und wird in dem Glauben sterben: ›Morgen tragen sie
einen echten alten Junker zu Grabe.‹ Das ist er auch, aber doch auch
wieder das volle Gegenteil davon. Er hat keine Spur von Selbstsucht.
Und diesen schönen Zug (ach, so selten), den hat auch der alte Graf.
Nebenher freilich ist er Weltmann, und das gibt dann den Unterschied
und das Übergewicht. Er weiß -- was sie hierzulande nicht wissen oder
nicht wissen wollen --, daß hinterm Berge auch noch Leute wohnen. Und
mitunter noch ganz andre.«
* * * * *
Das waren die Worte, die Woldemar in sein Tagebuch eintrug. Von allem,
was er gesehen, war er angenehm berührt worden, auch von Haus und
Wohnung. Und dazu war guter Grund da, mehr als er nach seinem ersten
Besuche wissen konnte. Das von der gräflichen Familie bewohnte Haus
mit seinen Loggien und seinem diminutiven Hof und Garten teilte sich
in zwei Hälften, von denen jede noch wieder ihre besondern Annexe
hatte. Zu der Beletage gehörte das zur Seite gelegene pittoreske Hof-
und Stallgebäude, drin der gräfliche Kutscher, Herr Imme, residierte,
während zu dem die zweite Hälfte des Hauses bildenden Hochparterre
ziemlich selbstverständlich noch das kleine niedrige Souterrain
gerechnet wurde, drin, außer Portier Hartwig selbst, dessen Frau,
sein Sohn Rudolf und seine Nichte Hedwig wohnten. Letztere freilich
nur zeitweilig, und zwar immer nur dann, wenn sie, was allerdings
ziemlich häufig vorkam, mal wieder ohne Stellung war. Die Wirtin des
Hauses, Frau Hagelversicherungssekretär Schickedanz, hätte diesen
gelegentlichen Aufenthalt der Nichte Hartwigs eigentlich beanstanden
müssen, ließ es aber gehen, weil Hedwig ein heiteres, quickes und sehr
anstelliges Ding war und manches besaß, was die Schickedanz mit der
Ungehörigkeit des ewigen Dienstwechsels wieder aussöhnte.
Die Schickedanz, eine Frau von sechzig, war schon verwitwet, als im
Herbst fünfundachtzig die Barbys einzogen, Komtesse Armgard damals
erst zehnjährig. Frau Schickedanz selbst war um jene Zeit noch in
Trauer, weil ihr Gatte, der Versicherungssekretär, erst im Dezember des
vorausgegangenen Jahres gestorben war, »drei Tage vor Weihnachten«,
ein Umstand, auf den der Hilfsprediger, ein junger Kandidat, in seiner
Leichenrede beständig hingewiesen und die gewollte Wirkung auch
richtig erzielt hatte. Allerdings nur bei der Schickedanz selbst
und einigermaßen auch bei der Frau Hartwig, die während der ganzen
Rede beständig mit dem Kopf genickt und nachträglich ihrem Manne
bemerkt hatte: »Ja. Hartwig, da liegt doch was drin.« Hartwig selber
indes, der, im Gegensatz zu den meisten seines Standes, humoristisch
angeflogen war, hatte für die merkwürdige Fügung von »drei Tage vor
Weihnachten« nicht das geringste Verständnis gezeigt, vielmehr nur die
Bemerkung dafür gehabt: »Ich weiß nicht, Mutter, was du dir eigentlich
dabei denkst? Ein Tag ist wie der andre; mal muß man ran,« -- worauf
die Frau jedoch geantwortet hatte: »Ja, Hartwig, das sagst du so immer;
aber wenn du dran bist, dann redst du anders.«
Der verstorbene Schickedanz hatte, wie der Tod ihn ankam, ein Leben
hinter sich, das sich in zwei sehr verschiedene Hälften, in eine ganz
kleine unbedeutende und in eine ganz große, teilte. Die unbedeutende
Hälfte hatte lange gedauert, die große nur ganz kurz. Er war ein
Ziegelstreichersohn aus dem bei Potsdam gelegenen Dorfe Kaputt, was er,
als er aus dem diesem Dorfnamen entsprechenden Zustande heraus war,
in Gesellschaft guter Freunde gern hervorhob. Es war so ziemlich der
einzige Witz seines Lebens, an dem er aber zäh festhielt, weil er sah,
daß er immer wieder wirkte. Manche gingen so weit, ihm den Witz auch
noch moralisch gutzuschreiben und behaupteten: Schickedanz sei nicht
bloß ein Charakter, sondern auch eine bescheidene Natur.
Ob dies zutraf, wer will es sagen! Aber das war sicher, daß er
sich von Anfang an als ein aufgeweckter Junge gezeigt hatte. Schon
mit sechzehn war er als Hilfsschreiber in die deutsch-englische
Hagelversicherungsgesellschaft Pluvius eingetreten und hatte mit
sechsundsechzig sein fünfzigjähriges Dienstjubiläum in eben dieser
Gesellschaft gefeiert. Das war aus bestimmten Gründen ein großer Tag
gewesen. Denn als Schickedanz ihn erlebte, hieß er nur noch so ganz
obenhin »Herr Versicherungssekretär«, war aber in Wahrheit über diesen
seinen Titel weit hinausgewachsen und besaß bereits das schöne Haus am
Kronprinzenufer. Er hatte sich das leisten können, weil er im Laufe
der letzten fünf Jahre zweimal hintereinander ein Viertel vom großen
Lose gewonnen hatte. Dies sah er sich allerseits als persönliches
Verdienst angerechnet und auch wohl mit Recht. Denn arbeiten kann
jeder, das große Los gewinnen kann nicht jeder. Und so blieb er denn
bei der Versicherungsgesellschaft lediglich nur noch als verhätscheltes
Zierstück, weil es damals wie jetzt einen guten Eindruck machte,
Personen der Art im Dienst oder gar als Teilnehmer zu haben. An der
Spitze muß immer ein Fürst stehen. Und Schickedanz war jetzt Fürst.
Alles drängte sich nicht bloß an ihn, sondern seine Stammtischfreunde,
die zu seiner zweimal bewährten Glückshand ein unbedingtes Vertrauen
hatten, drangen sogar eine Zeitlang in ihn, die Lotterielose für sie
zu ziehen. Aber keiner gewann, was schließlich einen Umschlag schuf
und einzelne von »bösem Blick« und sogar ganz unsinnigerweise von
Mogelei sprechen ließ. Die meisten indessen hielten es für klug, ihr
Übelwollen zurückzuhalten; war er doch immerhin ein Mann, der jedem,
wenn er wollte, Deckung und Stütze geben konnte. Ja, Schickedanz' Glück
und Ansehen waren groß, am größten natürlich an seinem Jubiläumstage.
Nicht zu glauben, wer da alles kam. Nur ein Orden kam nicht, was denn
auch von einigen Schickedanzfanatikern sehr mißliebig bemerkt wurde.
Besonders schmerzlich empfand es die Frau. »Gott, er hat doch immer
so treu gewählt,« sagte sie. Sie kam aber nicht in die Lage, sich
in diesen Schmerz einzuleben, da schon die nächsten Zeiten bestimmt
waren, ihr Schwereres zu bringen. Am 21. September war das Jubiläum
gewesen, am 21. Oktober erkrankte er, am 21. Dezember starb er. Auf
dem Notizenzettel, den man damals dem Kandidaten zugestellt hatte,
hatte dieser dreimal wiederkehrende »einundzwanzigste« gefehlt, was
alles in allem wohl als ein Glück angesehen werden konnte, weil,
entgegengesetztenfalls die »drei Tage vor Weihnachten« entweder gar
nicht zustande gekommen oder aber durch eine geteilte Herrschaft in
ihrer Wirkung abgeschwächt worden wären.
Schickedanz war bei voller Besinnung gestorben. Er rief, kurz vor
seinem Ende, seine Frau an sein Bett und sagte: »Riekchen, sei ruhig.
Jeder muß. Ein Testament hab ich nicht gemacht. Es gibt doch bloß immer
Zank und Streit. Auf meinem Schreibtisch liegt ein Briefbogen, drauf
hab ich alles Nötige geschrieben. Viel wichtiger ist mir das mit dem
Haus. Du mußt es behalten, damit die Leute sagen können: ›Da wohnt
Frau Schickedanz.‹ Hausname, Straßenname, das ist überhaupt das Beste.
Straßenname dauert noch länger als Denkmal.«
»Gott, Schickedanz, sprich nicht so viel; es strengt dich an. Ich will
es ja alles heilig halten, schon aus Liebe ...«
»Das ist recht, Riekchen. Ja, du warst immer eine gute Frau, wenn wir
auch keine Nachfolge gehabt haben. Aber darum bitte ich dich, vergiß
nie, daß es meine Puppe war. Du darfst bloß vornehme Leute nehmen;
reiche Leute, die bloß reich sind, nimm nicht; die quängeln bloß und
schlagen große Haken in die Türfüllung und hängen eine Schaukel dran.
Überhaupt, wenn es sein kann, keine Kinder. Hartwigen unten mußt du
behalten; er ist eigentlich ein Klugschmus, aber die Frau ist gut. Und
der kleine Rudolf, mein Patenkind, wenn er ein Jahr alt wird, soll er
hundert Taler kriegen. Taler, nicht Mark. Und der Schullehrer in Kaputt
soll auch hundert Taler kriegen. Der wird sich wundern. Aber darauf
freu ich mich schon. Und auf dem Invalidenkirchhof will ich begraben
sein, wenn es irgend geht. Invalide ist ja doch eigentlich jeder. Und
anno siebzig war ich doch auch mit Liebesgaben bis dicht an den Feind,
trotzdem Luchterhand immer sagte: ›Nicht so nah ran.‹ Sei freundlich
gegen die Leute und nicht zu sparsam (du bist ein bißchen zu sparsam)
und bewahre mir einen Platz in deinem Herzen. Denn treu warst du, das
sagt mir eine innere Stimme.«
Diesem allem hatte Riekchen seitdem gelebt. Die Beletage, die leer
stand, als Schickedanz starb, blieb noch drei Vierteljahre unbewohnt,
trotzdem sich viele Herrschaften meldeten. Aber sie deckten sich nicht
mit der Forderung, die Schickedanz vor seinem Hinscheiden gestellt
hatte. Herbst fünfundachtzig kamen dann die Barbys. Die kleine Frau
sah gleich »ja, das sind die, die mein Seliger gemeint hat«. Und sie
hatte wirklich richtig gewählt. In den fast zehn Jahren, die seitdem
verflossen waren, war es auch nicht ein einziges Mal zu Konflikten
gekommen, mit der gräflichen Familie schon gewiß nicht, aber auch kaum
mit den Dienerschaften. Ein persönlicher Verkehr zwischen Erdgeschoß
und Beletage konnte natürlich nicht stattfinden, -- Hartwig war einfach
der ~alter ego~, der mit Jeserich alles Nötige durchzusprechen hatte.
Kam es aber ausnahmsweise zwischen Wirtin und Mieter zu irgendeiner
Begegnung, so bewahrte dabei die kleine winzige Frau (die nie »viel«
war und seit ihres Mannes Tode noch immer weniger geworden war)
eine merkwürdig gemessene Haltung, die jedem mit dem Berliner Wesen
Unvertrauten eine Verwunderung abgenötigt haben würde. Riekchen
empfand sich nämlich in solchem Augenblicke durchaus als »Macht gegen
Macht«. Wie beinah jedem hierlandes Geborenen, war auch ihr die Gabe
wirklichen Vergleichenkönnens völlig versagt, weil jeder echte, mit
Spreewasser getaufte Berliner, männlich oder weiblich, seinen Zustand
nur an seiner eigenen kleinen Vergangenheit, nie aber an der Welt
draußen mißt, von der er, wenn er ganz echt ist, weder eine Vorstellung
hat noch überhaupt haben will. Der autochthone »Kellerwurm«, wenn er
fünfzig Jahre später in eine Steglitzer Villa zieht, bildet -- auch
wenn er seiner Natur nach eigentlich der bescheidenste Mensch ist --
eine gewisse naive Krösusvorstellung in sich aus und glaubt ganz
ernsthaft, jenen Gold- und Silberkönigen zuzugehören, die die Welt
regieren. So war auch die Schickedanz. Hinter einem Dachfenster in
der Georgenkirchstraße geboren, an welchem Dachfenster sie später
für ein Weißzeuggeschäft genäht hatte, kam ihr ihr Leben, wenn sie
rückblickte, wie ein Märchen vor, drin sie die Rolle der Prinzessin
spielte. Dementsprechend durchdrang sie sich, still aber stark, mit
einem Hochgefühl, das sowohl Geld- wie Geburtsgrößen gegenüber auf
Ebenbürtigkeit lossteuerte. Sie rangierte sich ein und wies sich,
soweit ihre historische Kenntnis das zuließ, einen ganz bestimmten
Platz an: Fürst Dolgorucki, Herzog von Devonshire, Schickedanz.
Die Treue, die der Verstorbene noch in seinen letzten Augenblicken
ihr nachgerühmt hatte, steigerte sich mehr und mehr zum Kult. Die
Vormittagsstunden jedes Tages gehörten dem hohen Palisanderschrank
an, drin die Jubiläumsgeschenke wohlgeordnet standen: ein großer
Silberpokal mit einem drachentötenden Sankt Georg auf dem Deckel, ein
Album mit photographischen Aufnahmen aller Sehenswürdigkeiten von
Kaputt, eine große Huldigungsadresse mit Aquarellarabesken, mehrere
Lieder in Prachtdruck (darunter ein Kegelklublied mit dem Refrain
»alle Neune«), Riesensträuße von Sonnenblumen, ein Oreiller mit dem
Eisernen Kreuz und einem aufgehefteten Gedicht, von einem Damenkomitee
herrührend, in dessen Auftrag er, Schickedanz, die Liebesgaben bis
vor Paris gebracht hatte. Neben dem Schrank, auf einer Ebenholzsäule,
stand eine Gipsbüste, Geschenk eines dem Stammtisch angehörigen
Bildhauers, der daraufhin einen leider ausgebliebenen Auftrag in
Marmor erwartet hatte. Fauteuils und Stühle steckten in großblumigen
Überzügen, desgleichen der Kronleuchter in einem Gazemantel, und an
den Frontfenstern standen, den ganzen Winter über, Maiblumen. Riekchen
trug auch Maiblumen auf jeder ihrer Hauben, war überhaupt, seit das
Trauerjahr um war, immer hell gekleidet, wodurch ihre Gestalt noch
unkörperlicher wirkte. Jeden ersten Montag im Monat war allgemeines
Reinmachen, auch bei Wind und Kälte. Dies war immer ein Tag größter
Aufregung, weil jedesmal etwas zerbrochen oder umgestoßen wurde. Das
blieb auch so durch Jahre hin, bis das Auftreten von Hedwig, die sich
einer sehr geschickten Hand erfreute, Wandel in diesem Punkte schaffte.
Die Nippsachen zerbrachen nun nicht mehr, und Riekchen war um so
glücklicher darüber, als Hartwigs hübsche Nichte, wenn sie mal wieder
den Dienst gekündigt hatte, regelmäßig allerlei davon zu erzählen und
mit immer neuen und oft sehr intrikaten Geschichten ins Feld zu rücken
wußte.
Die Barbys hatten alle Ursache, mit dem Schickedanzschen Hause
zufrieden zu sein. Nur eines störte, das war, daß jeden Mittwoch und
Sonnabend die Teppiche geklopft wurden, immer gerade zu der Stunde,
wo der alte Graf seine Nachmittagsruhe halten wollte. Das verdroß ihn
eine Weile, bis er schließlich zu dem Ergebnis kam: »Eigentlich bin
ich doch selber schuld daran. Warum setz ich mich immer wieder in die
Hinterstube, statt einfach vorn an mein Fenster? Immer hasardier ich
wieder und denke: heute bleibt es vielleicht ruhig; willst es doch noch
mal versuchen.«
* * * * *
Ja, der alte Graf war nicht bloß froh, die Wohnung zu haben, er hielt
auch beinah abergläubisch an ihr fest. So lange er darin wohnte, war es
ihm gut ergangen, nicht glänzender als früher, aber sorgenloser. Und
das sagte er sich jeden neuen Tag.
Sein Leben, so bunt es gewesen, war trotzdem in gewissem Sinne
durchschnittsmäßig verlaufen, ganz so wie das Leben eines preußischen
»Magnaten« (worunter man in der Regel Schlesier versteht; aber es gibt
doch auch andre) zu verlaufen pflegt.
Im Juli dreißig, gerade als die Franzosen Algier bomdardierten und
nebenher das Haus Bourbon endgültig beseitigten, war der Graf auf
einem der an der mittleren Elbe gelegenen Barbyschen Güter geboren
worden. Auf eben diesem Gute -- das landwirtschaftlich einer von
fremder Hand geführten Administration unterstand -- vergingen ihm die
Kinderjahre; mit zwölf kam er dann auf die Ritterakademie, mit achtzehn
in das Regiment Garde-du-Corps, drin die Barbys standen, solang es
ein Regiment Garde-du-Corps gab. Mit dreißig war er Rittmeister und
führte eine Schwadron. Aber nicht lange mehr. Auf einem in der Nähe von
Potsdam veranstalteten Kavalleriemanöver stürzte er unglücklich und
brach den Oberschenkel, unmittelbar unter der Hüfte. Leidlich genesen,
ging er nach Ragaz, um dort völlige Wiederherstellung zu suchen, und
machte hier die Bekanntschaft eines alten Freiherrn von Planta, der
ihn alsbald auf seine Besitzungen einlud. Weil diese ganz in der Nähe
lagen, nahm er die Einladung nach Schloß Schuder an. Hier blieb er
länger als erwartet, und als er das schön gelegene Bergschloß wieder
verließ, war er mit der Tochter und Erbin des Hauses verlobt. Es war
eine große Neigung, was sie zusammenführte. Die junge Freiin drang
alsbald in ihn, den Dienst zu quittieren, und er entsprach dem um so
lieber, als er seiner völligen Wiederherstellung nicht ganz sicher
war. Er nahm also den Abschied und trat aus dem militärischen in den
diplomatischen Dienst über, wozu seine Bildung, sein Vermögen, seine
gesellschaftliche Stellung ihn gleichmäßig geeignet erscheinen ließen.
Noch im selben Jahre ging er nach London, erst als Attaché, wurde dann
Botschaftsrat und blieb in dieser Stellung zunächst bis in die Tage
der Aufrichtung des Deutschen Reiches. Seine Beziehungen sowohl zu
der heimisch-englischen wie zu der außerenglischen Aristokratie waren
jederzeit die besten, und sein Freundschaftsverhältnis zu Baron und
Baronin Berchtesgaden entstammte jener Zeit. Er hing sehr an London.
Das englische Leben, an dem er manches, vor allem die geschraubte
Kirchlichkeit, beanstandete, war ihm trotzdem außerordentlich
sympathisch, und er hatte sich daran gewöhnt, sich als verwachsen
damit anzusehen. Auch seine Familie, die Frau und die zwei Töchter --
beide, wenn auch in großem Abstande, während der Londoner Tage geboren
-- teilten des Vaters Vorliebe für England und englisches Leben. Aber
ein harter Schlag warf alles um, was der Graf geplant: die Frau starb
plötzlich, und der Aufenthalt an der ihm so lieb gewordenen Stätte war
ihm vergällt. Er nahm in der ersten Hälfte der achtziger Jahre seine
Demission, ging zunächst auf die Plantaschen Güter nach Graubünden und
dann weiter nach Süden, um sich in Florenz seßhaft zu machen. Die Luft,
die Kunst, die Heiterkeit der Menschen, alles tat ihm hier wohl, und
er fühlte, daß er genas, soweit er wieder genesen konnte. Glückliche
Tage brachen für ihn an, und sein Glück schien sich noch steigern
zu sollen, als sich die ältere Tochter mit dem italienischen Grafen
Ghiberti verlobte. Die Hochzeit folgte beinah unmittelbar. Aber die
Fortdauer dieser Ehe stellte sich bald als eine Unmöglichkeit heraus,
und ehe ein Jahr um war, war die Scheidung ausgesprochen. Kurze Zeit
danach kehrte der Graf nach Deutschland zurück, das er, seit einem
Vierteljahrhundert, immer nur flüchtig und besuchsweise wiedergesehen
hatte. Sich auf das eine oder andere seiner Elbgüter zu begeben,
widerstand ihm auch jetzt noch, und so kam es, daß er sich für Berlin
entschied. Er nahm Wohnung am Kronprinzenufer und lebte hier ganz sich,
seinem Hause, seinen Töchtern. Von dem Verkehr mit der großen Welt
hielt er sich so weit wie möglich fern, und nur ein kleiner Kreis von
Freunden, darunter auch die durch einen glücklichen Zufall ebenfalls
von London nach Berlin verschlagenen Berchtesgadens waren, versammelte
sich um ihn. Außer diesen alten Freunden waren es vorzugsweise
Hofprediger Frommel, Doktor Wrschowitz und seit letztem Frühjahr
auch Rittmeister von Stechlin, die den Barbyschen Kreis bildeten.
An Woldemar hatte man sich rasch attachiert, und die freundlichen
Gefühle, denen er bei dem alten Grafen sowohl wie bei den Töchtern
begegnete, wurden von allen Hausbewohnern geteilt. Selbst die Hartwigs
interessierten sich für den Rittmeister, und wenn er abends an der
Portierloge vorüberkam, guckte Hedwig neugierig durch das Fensterchen
und sagte: »So einen, -- ja, das lass' ich mir gefallen.«
Dreizehntes Kapitel
Woldemar, als er sich von den jungen Damen im Barbyschen Hause
verabschiedet hatte, hatte versprechen müssen, seinen Besuch recht bald
zu wiederholen.
Aber was war »recht bald«? Er rechnete hin und her und fand, daß der
dritte Tag dem etwa entsprechen würde; das war »recht bald« und doch
auch wieder nicht zu früh. Und so ging er denn, als der Abend dieses
dritten Tages da war, auf die Hallesche Brücke zu, wartete hier die
Ringbahn ab und fuhr, am Potsdamer und Brandenburger Tor vorüber,
bis an jene sonderbare Reichstagsuferstelle, wo, von mächtiger
Giebelwand herab, ein wohl zwanzig Fuß hohes, riesiges Kaffeemädchen
mit einem ganz kleinen Häubchen auf dem Kopf freundlich auf die Welt
der Vorübereilenden herniederblickt, um ihnen ein Paket Kneippschen
Malzkaffee zu präsentieren. An dieser echt berlinisch-pittoresken Ecke
stieg Woldemar ab, um die von hier aus nur noch kurze Strecke bis an
das Kronprinzenufer zu Fuß zurückzulegen.
Es war gegen acht, als er in dem Barbyschen Hause die mit Teppich
überdeckte Marmortreppe hinaufstieg und die Klingel zog. Im selben
Augenblick, wo Jeserich öffnete, sah Woldemar an des Alten verlegenem
Gesicht, daß die Damen aller Wahrscheinlichkeit nach wieder nicht zu
Hause waren. Aber eine Verstimmung darüber durfte nicht aufkommen, und
so ließ er es geschehen, daß Jeserich ihn bei dem alten Grafen meldete.
»Der Herr Graf lassen bitten.«
Und nun trat Woldemar in das Zimmer des wieder mal von Neuralgie
Geplagten ein, der ihm, auf einen dicken Stock gestützt, unter
freundlichem Gruß entgegenkam.
»Aber Herr Graf,« sagte Woldemar und nahm des alten Herrn linken
Arm, um ihn bis an seinen Lehnstuhl und eine für den kranken Fuß
zurechtgemachte Stellage zurückzuführen. »Ich fürchte, daß ich störe.«
»Ganz im Gegenteil, lieber Stechlin. Mir hochwillkommen. Außerdem hab
ich strikten Befehl, Sie, ~coûte que coûte~, festzuhalten; Sie wissen,
Damen sind groß in Ahnungen, und bei Melusine hat es schon geradezu was
Prophetisches.«
Woldemar lächelte.
»Sie lächeln, lieber Stechlin, und haben recht. Denn daß sie nun
schließlich doch gegangen ist (natürlich zu den Berchtesgadens) ist ein
Beweis, daß sie sich und ihrer Prophetie doch auch wieder einigermaßen
mißtraute. Aber man ist immer nur klug und weise für andre. Die Doktors
machen es ebenso; wenn sie sich selber behandeln sollen, wälzen sie die
Verantwortung von sich ab und sterben lieber durch fremde Hand. Aber
was sprech ich nur immer von Melusine. Freilich, wer in unserm Hause so
er ein übriges. Sie wissen, Sie sind sein Verzug. Man weiß immer, wenn
man Verzug ist. Ich wenigstens hab es immer gewußt.«
»Das glaub ich.«
»Das glaub ich! Wie wollen Sie das erklären?«
»Einfach genug, gnädigste Gräfin. Jede Sache will gelernt sein.
Alles ist schließlich Erfahrung. Und ich glaube, daß Ihnen reichlich
Gelegenheit gegeben wurde, der Frage ›Verzug oder Nichtverzug‹
praktisch näherzutreten.«
»Gut herausgeredet. Aber nun, Armgard, sage dem Herrn von Stechlin (ich
persönlich getraue mich's nicht), daß wir in einer halben Stunde fort
müssen, Opernhaus, ›Tristan und Isolde‹. Was sagen Sie dazu? Nicht zu
Tristan und Isolde, nein, zu der heikleren Frage, daß wir eben gehen,
im selben Augenblick, wo Sie kommen. Denn ich seh es Ihnen an, Sie
kamen nicht so bloß um ›~five o'clock tea's~‹ willen, Sie hatten es
besser mit uns vor. Sie wollten bleiben ...«
»Ich bekenne ...«
»Also getroffen. Und zum Zeichen, daß Sie großmütig sind und Verzeihung
üben, versprechen Sie, daß wir Sie bald wiedersehen, recht, recht bald.
Ihr Wort darauf. Und dem Papa, der Sie vielleicht erwartet, wenn es
Jeserich für gut befunden hat, die Meldung auszurichten, -- dem Papa
werd ich sagen, Sie hätten nicht bleiben können, eine Verabredung, Klub
oder sonst was.«
* * * * *
Während Woldemar nach diesem abschließenden Gespräch mit Melusine die
Treppe hinabstieg und auf den nächsten Droschkenstand zuschritt, saß
der alte Graf in seinem Zimmer und sah, den rechten Fuß auf einen
Stuhl gelehnt, durch das Balkonfenster auf den Abendhimmel. Er liebte
diese Dämmerstunde, drin er sich nicht gerne stören ließ (am wenigsten
gern durch vorzeitig gebrachtes Licht), und als Jeserich, der das also
wußte, jetzt eintrat, war es nicht, um dem alten Grafen die Lampe zu
bringen, sondern nur um ein paar Kohlen aufzuschütten.
»Wer war denn da, Jeserich?«
»Der Herr Rittmeister.«
»So, so. Schade, daß er nicht geblieben ist. Aber freilich, was soll
er mit mir? Und der Fuß und die Schmerzen, dadurch wird man auch nicht
interessanter. Armgard und nun gar erst Melusine, ja, da geht es, da
redet sich's schon besser, und das wird der Rittmeister wohl auch
finden. Aber soviel ist richtig, ich spreche gern mit ihm; er hat so
was Ruhiges und Gesetztes und immer schlicht und natürlich. Meinst du
nicht auch?«
Jeserich nickte.
»Und glaubst du nicht auch (denn warum käme er sonst so oft), daß er
was vorhat?«
»Glaub ich auch, Herr Graf.«
»Na, was glaubst du?«
»Gott, Herr Graf ...«
»Ja, Jeserich, du willst nicht raus mit der Sprache. Das hilft dir aber
nichts. Wie denkst du dir die Sache?«
Jeserich schmunzelte, schwieg aber weiter, weshalb dem alten Grafen
nichts übrig blieb, als seinerseits fortzufahren. »Natürlich paßt
Armgard besser, weil sie jung ist; es ist so mehr das richtige
Verhältnis, und überhaupt, Armgard ist sozusagen dran. Aber, weiß der
Teufel, Melusine ...«
»Freilich, Herr Graf.«
»Also du hast doch auch so was gesehen. Alles dreht sich immer um die.
Wie denkst du dir nun den Rittmeister? Und wie denkst du dir die Damen?
Und wie steht es überhaupt? Ist es die oder ist es die?«
»Ja, Herr Graf, wie soll ich darüber denken? Mit Damen weiß man ja nie
-- vornehm und nicht vornehm, klein und groß, arm und reich, das is all
eins. Mit unsrer Lizzi is es gerad ebenso wie mit Gräfin Melusine. Wenn
man denkt, es is so, denn is es so, und wenn man denkt, es is so, denn
is es wieder so. Wie meine Frau noch lebte, Gott habe sie selig, die
sagte auch immer: ›Ja, Jeserich, was du dir bloß denkst; wir sind eben
ein Rätsel.‹ Ach Gott, sie war ja man einfach, aber das können Sie mir
glauben, Herr Graf, so sind sie alle.«
»Hast ganz recht, Jeserich. Und deshalb können wir auch nicht gegen an.
Und ich freue mich, daß du das auch so scharf aufgefaßt hast. Du bist
überhaupt ein Menschenkenner. Wo du's bloß her hast? Du hast so was von
nem Philosophen. Hast du schon mal einen gesehen?«
»Nein, Herr Graf. Wenn man so viel zu tun hat und immer Silber putzen
muß.«
»Ja, Jeserich, das hilft doch nu nich, davon kann ich dich nicht
freimachen ...«
»Nein, so mein ich es ja auch nich, Herr Graf, und ich bin ja auch
fürs Alte. Gute Herrschaft und immer denken, ›man gehört so halb wie
mit dazu,‹ -- dafür bin ich. Und manche sollen ja auch halb mit dazu
gehören ... Aber ein bißchen anstrengend is es doch mitunter, und man
is doch am Ende auch ein Mensch ...«
»Na, höre, Jeserich, das hab ich dir doch noch nicht abgesprochen.«
»Nein, nein, Herr Graf. Gott, man sagt so was bloß. Aber ein bißchen is
es doch damit ...«
Zwölftes Kapitel
Woldemar -- wie Rex seinem Freunde Czako, als beide über den Cremmer
Damm ritten, ganz richtig mitgeteilt hatte -- verkehrte seit Ausgang
des Winters im Barbyschen Hause, das er sehr bald vor andern Häusern
seiner Bekanntschaft bevorzugte. Vieles war es, was ihn da fesselte,
voran die beiden Damen; aber auch der alte Graf. Er fand Ähnlichkeiten,
selbst in der äußern Erscheinung, zwischen dem Grafen und seinem
Papa, und in seinem Tagebuche, das er, trotz sonstiger Modernität, in
altmodischer Weise von jung an führte, hatte er sich gleich am ersten
Abend über eine gewisse Verwandtschaft zwischen den beiden geäußert.
Es hieß da unterm achtzehnten April: »Ich kann Wedel nicht dankbar
genug sein, mich bei den Barbys eingeführt zu haben; alles, was er
von dem Hause gesagt, fand ich bestätigt. Diese Gräfin, wie charmant,
und die Schwester ebenso, trotzdem größere Gegensätze kaum denkbar
sind. An der einen alles Temperament und Anmut, an der andern alles
Charakter oder, wenn das zuviel gesagt sein sollte, Schlichtheit,
Festigkeit. Es bleibt mit den Namen doch eine eigene Sache; die Gräfin
ist ganz Melusine und die Komtesse ganz Armgard. Ich habe bis jetzt
freilich nur eine dieses Namens kennen gelernt, noch dazu bloß als
Bühnenfigur, und ich mußte beständig an diese denken, wie sie da
(ich glaube, es war Fräulein Stolberg, die ja auch das Maß hat) dem
Landvogt so mutig in den Zügel fällt. Ganz so wirkt Komtesse Armgard!
Ich möchte beinah sagen, es läßt sich an ihr wahrnehmen, daß ihre
Mutter eine richtige Schweizerin war. Und dazu der alte Graf! Wie
ein Zwillingsbruder von Papa; derselbe Bismarckkopf, dasselbe humane
Wesen, dieselbe Freundlichkeit, dieselbe gute Laune. Papa ist aber
ausgiebiger und auch wohl origineller. Vielleicht hat der verschiedene
Lebensgang diese Verschiedenheiten erst geschaffen. Papa sitzt nun seit
richtigen dreißig Jahren in seinem Ruppiner Winkel fest, der Graf war
ebensolange draußen! Ein Botschaftsrat ist eben was anderes als ein
Ritterschaftsrat, und an der Themse wächst man sich anders aus als am
›Stechlin‹ -- unsern Stechlin dabei natürlich in Ehren. Trotzdem, die
Verwandtschaft bleibt. Und der alte Diener, den sie Jeserich nennen,
der ist nun schon ganz und gar unser Engelke vom Kopf bis zur Zeh. Aber
was am verwandtesten ist, das ist doch die gesamte Hausatmosphäre, das
Liberale. Papa selbst würde zwar darüber lachen -- er lacht über nichts
so sehr wie über Liberalismus --, und doch kenne ich keinen Menschen,
der innerlich so frei wäre, wie gerade mein guter Alter. Zugeben wird
er's freilich nie und wird in dem Glauben sterben: ›Morgen tragen sie
einen echten alten Junker zu Grabe.‹ Das ist er auch, aber doch auch
wieder das volle Gegenteil davon. Er hat keine Spur von Selbstsucht.
Und diesen schönen Zug (ach, so selten), den hat auch der alte Graf.
Nebenher freilich ist er Weltmann, und das gibt dann den Unterschied
und das Übergewicht. Er weiß -- was sie hierzulande nicht wissen oder
nicht wissen wollen --, daß hinterm Berge auch noch Leute wohnen. Und
mitunter noch ganz andre.«
* * * * *
Das waren die Worte, die Woldemar in sein Tagebuch eintrug. Von allem,
was er gesehen, war er angenehm berührt worden, auch von Haus und
Wohnung. Und dazu war guter Grund da, mehr als er nach seinem ersten
Besuche wissen konnte. Das von der gräflichen Familie bewohnte Haus
mit seinen Loggien und seinem diminutiven Hof und Garten teilte sich
in zwei Hälften, von denen jede noch wieder ihre besondern Annexe
hatte. Zu der Beletage gehörte das zur Seite gelegene pittoreske Hof-
und Stallgebäude, drin der gräfliche Kutscher, Herr Imme, residierte,
während zu dem die zweite Hälfte des Hauses bildenden Hochparterre
ziemlich selbstverständlich noch das kleine niedrige Souterrain
gerechnet wurde, drin, außer Portier Hartwig selbst, dessen Frau,
sein Sohn Rudolf und seine Nichte Hedwig wohnten. Letztere freilich
nur zeitweilig, und zwar immer nur dann, wenn sie, was allerdings
ziemlich häufig vorkam, mal wieder ohne Stellung war. Die Wirtin des
Hauses, Frau Hagelversicherungssekretär Schickedanz, hätte diesen
gelegentlichen Aufenthalt der Nichte Hartwigs eigentlich beanstanden
müssen, ließ es aber gehen, weil Hedwig ein heiteres, quickes und sehr
anstelliges Ding war und manches besaß, was die Schickedanz mit der
Ungehörigkeit des ewigen Dienstwechsels wieder aussöhnte.
Die Schickedanz, eine Frau von sechzig, war schon verwitwet, als im
Herbst fünfundachtzig die Barbys einzogen, Komtesse Armgard damals
erst zehnjährig. Frau Schickedanz selbst war um jene Zeit noch in
Trauer, weil ihr Gatte, der Versicherungssekretär, erst im Dezember des
vorausgegangenen Jahres gestorben war, »drei Tage vor Weihnachten«,
ein Umstand, auf den der Hilfsprediger, ein junger Kandidat, in seiner
Leichenrede beständig hingewiesen und die gewollte Wirkung auch
richtig erzielt hatte. Allerdings nur bei der Schickedanz selbst
und einigermaßen auch bei der Frau Hartwig, die während der ganzen
Rede beständig mit dem Kopf genickt und nachträglich ihrem Manne
bemerkt hatte: »Ja. Hartwig, da liegt doch was drin.« Hartwig selber
indes, der, im Gegensatz zu den meisten seines Standes, humoristisch
angeflogen war, hatte für die merkwürdige Fügung von »drei Tage vor
Weihnachten« nicht das geringste Verständnis gezeigt, vielmehr nur die
Bemerkung dafür gehabt: »Ich weiß nicht, Mutter, was du dir eigentlich
dabei denkst? Ein Tag ist wie der andre; mal muß man ran,« -- worauf
die Frau jedoch geantwortet hatte: »Ja, Hartwig, das sagst du so immer;
aber wenn du dran bist, dann redst du anders.«
Der verstorbene Schickedanz hatte, wie der Tod ihn ankam, ein Leben
hinter sich, das sich in zwei sehr verschiedene Hälften, in eine ganz
kleine unbedeutende und in eine ganz große, teilte. Die unbedeutende
Hälfte hatte lange gedauert, die große nur ganz kurz. Er war ein
Ziegelstreichersohn aus dem bei Potsdam gelegenen Dorfe Kaputt, was er,
als er aus dem diesem Dorfnamen entsprechenden Zustande heraus war,
in Gesellschaft guter Freunde gern hervorhob. Es war so ziemlich der
einzige Witz seines Lebens, an dem er aber zäh festhielt, weil er sah,
daß er immer wieder wirkte. Manche gingen so weit, ihm den Witz auch
noch moralisch gutzuschreiben und behaupteten: Schickedanz sei nicht
bloß ein Charakter, sondern auch eine bescheidene Natur.
Ob dies zutraf, wer will es sagen! Aber das war sicher, daß er
sich von Anfang an als ein aufgeweckter Junge gezeigt hatte. Schon
mit sechzehn war er als Hilfsschreiber in die deutsch-englische
Hagelversicherungsgesellschaft Pluvius eingetreten und hatte mit
sechsundsechzig sein fünfzigjähriges Dienstjubiläum in eben dieser
Gesellschaft gefeiert. Das war aus bestimmten Gründen ein großer Tag
gewesen. Denn als Schickedanz ihn erlebte, hieß er nur noch so ganz
obenhin »Herr Versicherungssekretär«, war aber in Wahrheit über diesen
seinen Titel weit hinausgewachsen und besaß bereits das schöne Haus am
Kronprinzenufer. Er hatte sich das leisten können, weil er im Laufe
der letzten fünf Jahre zweimal hintereinander ein Viertel vom großen
Lose gewonnen hatte. Dies sah er sich allerseits als persönliches
Verdienst angerechnet und auch wohl mit Recht. Denn arbeiten kann
jeder, das große Los gewinnen kann nicht jeder. Und so blieb er denn
bei der Versicherungsgesellschaft lediglich nur noch als verhätscheltes
Zierstück, weil es damals wie jetzt einen guten Eindruck machte,
Personen der Art im Dienst oder gar als Teilnehmer zu haben. An der
Spitze muß immer ein Fürst stehen. Und Schickedanz war jetzt Fürst.
Alles drängte sich nicht bloß an ihn, sondern seine Stammtischfreunde,
die zu seiner zweimal bewährten Glückshand ein unbedingtes Vertrauen
hatten, drangen sogar eine Zeitlang in ihn, die Lotterielose für sie
zu ziehen. Aber keiner gewann, was schließlich einen Umschlag schuf
und einzelne von »bösem Blick« und sogar ganz unsinnigerweise von
Mogelei sprechen ließ. Die meisten indessen hielten es für klug, ihr
Übelwollen zurückzuhalten; war er doch immerhin ein Mann, der jedem,
wenn er wollte, Deckung und Stütze geben konnte. Ja, Schickedanz' Glück
und Ansehen waren groß, am größten natürlich an seinem Jubiläumstage.
Nicht zu glauben, wer da alles kam. Nur ein Orden kam nicht, was denn
auch von einigen Schickedanzfanatikern sehr mißliebig bemerkt wurde.
Besonders schmerzlich empfand es die Frau. »Gott, er hat doch immer
so treu gewählt,« sagte sie. Sie kam aber nicht in die Lage, sich
in diesen Schmerz einzuleben, da schon die nächsten Zeiten bestimmt
waren, ihr Schwereres zu bringen. Am 21. September war das Jubiläum
gewesen, am 21. Oktober erkrankte er, am 21. Dezember starb er. Auf
dem Notizenzettel, den man damals dem Kandidaten zugestellt hatte,
hatte dieser dreimal wiederkehrende »einundzwanzigste« gefehlt, was
alles in allem wohl als ein Glück angesehen werden konnte, weil,
entgegengesetztenfalls die »drei Tage vor Weihnachten« entweder gar
nicht zustande gekommen oder aber durch eine geteilte Herrschaft in
ihrer Wirkung abgeschwächt worden wären.
Schickedanz war bei voller Besinnung gestorben. Er rief, kurz vor
seinem Ende, seine Frau an sein Bett und sagte: »Riekchen, sei ruhig.
Jeder muß. Ein Testament hab ich nicht gemacht. Es gibt doch bloß immer
Zank und Streit. Auf meinem Schreibtisch liegt ein Briefbogen, drauf
hab ich alles Nötige geschrieben. Viel wichtiger ist mir das mit dem
Haus. Du mußt es behalten, damit die Leute sagen können: ›Da wohnt
Frau Schickedanz.‹ Hausname, Straßenname, das ist überhaupt das Beste.
Straßenname dauert noch länger als Denkmal.«
»Gott, Schickedanz, sprich nicht so viel; es strengt dich an. Ich will
es ja alles heilig halten, schon aus Liebe ...«
»Das ist recht, Riekchen. Ja, du warst immer eine gute Frau, wenn wir
auch keine Nachfolge gehabt haben. Aber darum bitte ich dich, vergiß
nie, daß es meine Puppe war. Du darfst bloß vornehme Leute nehmen;
reiche Leute, die bloß reich sind, nimm nicht; die quängeln bloß und
schlagen große Haken in die Türfüllung und hängen eine Schaukel dran.
Überhaupt, wenn es sein kann, keine Kinder. Hartwigen unten mußt du
behalten; er ist eigentlich ein Klugschmus, aber die Frau ist gut. Und
der kleine Rudolf, mein Patenkind, wenn er ein Jahr alt wird, soll er
hundert Taler kriegen. Taler, nicht Mark. Und der Schullehrer in Kaputt
soll auch hundert Taler kriegen. Der wird sich wundern. Aber darauf
freu ich mich schon. Und auf dem Invalidenkirchhof will ich begraben
sein, wenn es irgend geht. Invalide ist ja doch eigentlich jeder. Und
anno siebzig war ich doch auch mit Liebesgaben bis dicht an den Feind,
trotzdem Luchterhand immer sagte: ›Nicht so nah ran.‹ Sei freundlich
gegen die Leute und nicht zu sparsam (du bist ein bißchen zu sparsam)
und bewahre mir einen Platz in deinem Herzen. Denn treu warst du, das
sagt mir eine innere Stimme.«
Diesem allem hatte Riekchen seitdem gelebt. Die Beletage, die leer
stand, als Schickedanz starb, blieb noch drei Vierteljahre unbewohnt,
trotzdem sich viele Herrschaften meldeten. Aber sie deckten sich nicht
mit der Forderung, die Schickedanz vor seinem Hinscheiden gestellt
hatte. Herbst fünfundachtzig kamen dann die Barbys. Die kleine Frau
sah gleich »ja, das sind die, die mein Seliger gemeint hat«. Und sie
hatte wirklich richtig gewählt. In den fast zehn Jahren, die seitdem
verflossen waren, war es auch nicht ein einziges Mal zu Konflikten
gekommen, mit der gräflichen Familie schon gewiß nicht, aber auch kaum
mit den Dienerschaften. Ein persönlicher Verkehr zwischen Erdgeschoß
und Beletage konnte natürlich nicht stattfinden, -- Hartwig war einfach
der ~alter ego~, der mit Jeserich alles Nötige durchzusprechen hatte.
Kam es aber ausnahmsweise zwischen Wirtin und Mieter zu irgendeiner
Begegnung, so bewahrte dabei die kleine winzige Frau (die nie »viel«
war und seit ihres Mannes Tode noch immer weniger geworden war)
eine merkwürdig gemessene Haltung, die jedem mit dem Berliner Wesen
Unvertrauten eine Verwunderung abgenötigt haben würde. Riekchen
empfand sich nämlich in solchem Augenblicke durchaus als »Macht gegen
Macht«. Wie beinah jedem hierlandes Geborenen, war auch ihr die Gabe
wirklichen Vergleichenkönnens völlig versagt, weil jeder echte, mit
Spreewasser getaufte Berliner, männlich oder weiblich, seinen Zustand
nur an seiner eigenen kleinen Vergangenheit, nie aber an der Welt
draußen mißt, von der er, wenn er ganz echt ist, weder eine Vorstellung
hat noch überhaupt haben will. Der autochthone »Kellerwurm«, wenn er
fünfzig Jahre später in eine Steglitzer Villa zieht, bildet -- auch
wenn er seiner Natur nach eigentlich der bescheidenste Mensch ist --
eine gewisse naive Krösusvorstellung in sich aus und glaubt ganz
ernsthaft, jenen Gold- und Silberkönigen zuzugehören, die die Welt
regieren. So war auch die Schickedanz. Hinter einem Dachfenster in
der Georgenkirchstraße geboren, an welchem Dachfenster sie später
für ein Weißzeuggeschäft genäht hatte, kam ihr ihr Leben, wenn sie
rückblickte, wie ein Märchen vor, drin sie die Rolle der Prinzessin
spielte. Dementsprechend durchdrang sie sich, still aber stark, mit
einem Hochgefühl, das sowohl Geld- wie Geburtsgrößen gegenüber auf
Ebenbürtigkeit lossteuerte. Sie rangierte sich ein und wies sich,
soweit ihre historische Kenntnis das zuließ, einen ganz bestimmten
Platz an: Fürst Dolgorucki, Herzog von Devonshire, Schickedanz.
Die Treue, die der Verstorbene noch in seinen letzten Augenblicken
ihr nachgerühmt hatte, steigerte sich mehr und mehr zum Kult. Die
Vormittagsstunden jedes Tages gehörten dem hohen Palisanderschrank
an, drin die Jubiläumsgeschenke wohlgeordnet standen: ein großer
Silberpokal mit einem drachentötenden Sankt Georg auf dem Deckel, ein
Album mit photographischen Aufnahmen aller Sehenswürdigkeiten von
Kaputt, eine große Huldigungsadresse mit Aquarellarabesken, mehrere
Lieder in Prachtdruck (darunter ein Kegelklublied mit dem Refrain
»alle Neune«), Riesensträuße von Sonnenblumen, ein Oreiller mit dem
Eisernen Kreuz und einem aufgehefteten Gedicht, von einem Damenkomitee
herrührend, in dessen Auftrag er, Schickedanz, die Liebesgaben bis
vor Paris gebracht hatte. Neben dem Schrank, auf einer Ebenholzsäule,
stand eine Gipsbüste, Geschenk eines dem Stammtisch angehörigen
Bildhauers, der daraufhin einen leider ausgebliebenen Auftrag in
Marmor erwartet hatte. Fauteuils und Stühle steckten in großblumigen
Überzügen, desgleichen der Kronleuchter in einem Gazemantel, und an
den Frontfenstern standen, den ganzen Winter über, Maiblumen. Riekchen
trug auch Maiblumen auf jeder ihrer Hauben, war überhaupt, seit das
Trauerjahr um war, immer hell gekleidet, wodurch ihre Gestalt noch
unkörperlicher wirkte. Jeden ersten Montag im Monat war allgemeines
Reinmachen, auch bei Wind und Kälte. Dies war immer ein Tag größter
Aufregung, weil jedesmal etwas zerbrochen oder umgestoßen wurde. Das
blieb auch so durch Jahre hin, bis das Auftreten von Hedwig, die sich
einer sehr geschickten Hand erfreute, Wandel in diesem Punkte schaffte.
Die Nippsachen zerbrachen nun nicht mehr, und Riekchen war um so
glücklicher darüber, als Hartwigs hübsche Nichte, wenn sie mal wieder
den Dienst gekündigt hatte, regelmäßig allerlei davon zu erzählen und
mit immer neuen und oft sehr intrikaten Geschichten ins Feld zu rücken
wußte.
Die Barbys hatten alle Ursache, mit dem Schickedanzschen Hause
zufrieden zu sein. Nur eines störte, das war, daß jeden Mittwoch und
Sonnabend die Teppiche geklopft wurden, immer gerade zu der Stunde,
wo der alte Graf seine Nachmittagsruhe halten wollte. Das verdroß ihn
eine Weile, bis er schließlich zu dem Ergebnis kam: »Eigentlich bin
ich doch selber schuld daran. Warum setz ich mich immer wieder in die
Hinterstube, statt einfach vorn an mein Fenster? Immer hasardier ich
wieder und denke: heute bleibt es vielleicht ruhig; willst es doch noch
mal versuchen.«
* * * * *
Ja, der alte Graf war nicht bloß froh, die Wohnung zu haben, er hielt
auch beinah abergläubisch an ihr fest. So lange er darin wohnte, war es
ihm gut ergangen, nicht glänzender als früher, aber sorgenloser. Und
das sagte er sich jeden neuen Tag.
Sein Leben, so bunt es gewesen, war trotzdem in gewissem Sinne
durchschnittsmäßig verlaufen, ganz so wie das Leben eines preußischen
»Magnaten« (worunter man in der Regel Schlesier versteht; aber es gibt
doch auch andre) zu verlaufen pflegt.
Im Juli dreißig, gerade als die Franzosen Algier bomdardierten und
nebenher das Haus Bourbon endgültig beseitigten, war der Graf auf
einem der an der mittleren Elbe gelegenen Barbyschen Güter geboren
worden. Auf eben diesem Gute -- das landwirtschaftlich einer von
fremder Hand geführten Administration unterstand -- vergingen ihm die
Kinderjahre; mit zwölf kam er dann auf die Ritterakademie, mit achtzehn
in das Regiment Garde-du-Corps, drin die Barbys standen, solang es
ein Regiment Garde-du-Corps gab. Mit dreißig war er Rittmeister und
führte eine Schwadron. Aber nicht lange mehr. Auf einem in der Nähe von
Potsdam veranstalteten Kavalleriemanöver stürzte er unglücklich und
brach den Oberschenkel, unmittelbar unter der Hüfte. Leidlich genesen,
ging er nach Ragaz, um dort völlige Wiederherstellung zu suchen, und
machte hier die Bekanntschaft eines alten Freiherrn von Planta, der
ihn alsbald auf seine Besitzungen einlud. Weil diese ganz in der Nähe
lagen, nahm er die Einladung nach Schloß Schuder an. Hier blieb er
länger als erwartet, und als er das schön gelegene Bergschloß wieder
verließ, war er mit der Tochter und Erbin des Hauses verlobt. Es war
eine große Neigung, was sie zusammenführte. Die junge Freiin drang
alsbald in ihn, den Dienst zu quittieren, und er entsprach dem um so
lieber, als er seiner völligen Wiederherstellung nicht ganz sicher
war. Er nahm also den Abschied und trat aus dem militärischen in den
diplomatischen Dienst über, wozu seine Bildung, sein Vermögen, seine
gesellschaftliche Stellung ihn gleichmäßig geeignet erscheinen ließen.
Noch im selben Jahre ging er nach London, erst als Attaché, wurde dann
Botschaftsrat und blieb in dieser Stellung zunächst bis in die Tage
der Aufrichtung des Deutschen Reiches. Seine Beziehungen sowohl zu
der heimisch-englischen wie zu der außerenglischen Aristokratie waren
jederzeit die besten, und sein Freundschaftsverhältnis zu Baron und
Baronin Berchtesgaden entstammte jener Zeit. Er hing sehr an London.
Das englische Leben, an dem er manches, vor allem die geschraubte
Kirchlichkeit, beanstandete, war ihm trotzdem außerordentlich
sympathisch, und er hatte sich daran gewöhnt, sich als verwachsen
damit anzusehen. Auch seine Familie, die Frau und die zwei Töchter --
beide, wenn auch in großem Abstande, während der Londoner Tage geboren
-- teilten des Vaters Vorliebe für England und englisches Leben. Aber
ein harter Schlag warf alles um, was der Graf geplant: die Frau starb
plötzlich, und der Aufenthalt an der ihm so lieb gewordenen Stätte war
ihm vergällt. Er nahm in der ersten Hälfte der achtziger Jahre seine
Demission, ging zunächst auf die Plantaschen Güter nach Graubünden und
dann weiter nach Süden, um sich in Florenz seßhaft zu machen. Die Luft,
die Kunst, die Heiterkeit der Menschen, alles tat ihm hier wohl, und
er fühlte, daß er genas, soweit er wieder genesen konnte. Glückliche
Tage brachen für ihn an, und sein Glück schien sich noch steigern
zu sollen, als sich die ältere Tochter mit dem italienischen Grafen
Ghiberti verlobte. Die Hochzeit folgte beinah unmittelbar. Aber die
Fortdauer dieser Ehe stellte sich bald als eine Unmöglichkeit heraus,
und ehe ein Jahr um war, war die Scheidung ausgesprochen. Kurze Zeit
danach kehrte der Graf nach Deutschland zurück, das er, seit einem
Vierteljahrhundert, immer nur flüchtig und besuchsweise wiedergesehen
hatte. Sich auf das eine oder andere seiner Elbgüter zu begeben,
widerstand ihm auch jetzt noch, und so kam es, daß er sich für Berlin
entschied. Er nahm Wohnung am Kronprinzenufer und lebte hier ganz sich,
seinem Hause, seinen Töchtern. Von dem Verkehr mit der großen Welt
hielt er sich so weit wie möglich fern, und nur ein kleiner Kreis von
Freunden, darunter auch die durch einen glücklichen Zufall ebenfalls
von London nach Berlin verschlagenen Berchtesgadens waren, versammelte
sich um ihn. Außer diesen alten Freunden waren es vorzugsweise
Hofprediger Frommel, Doktor Wrschowitz und seit letztem Frühjahr
auch Rittmeister von Stechlin, die den Barbyschen Kreis bildeten.
An Woldemar hatte man sich rasch attachiert, und die freundlichen
Gefühle, denen er bei dem alten Grafen sowohl wie bei den Töchtern
begegnete, wurden von allen Hausbewohnern geteilt. Selbst die Hartwigs
interessierten sich für den Rittmeister, und wenn er abends an der
Portierloge vorüberkam, guckte Hedwig neugierig durch das Fensterchen
und sagte: »So einen, -- ja, das lass' ich mir gefallen.«
Dreizehntes Kapitel
Woldemar, als er sich von den jungen Damen im Barbyschen Hause
verabschiedet hatte, hatte versprechen müssen, seinen Besuch recht bald
zu wiederholen.
Aber was war »recht bald«? Er rechnete hin und her und fand, daß der
dritte Tag dem etwa entsprechen würde; das war »recht bald« und doch
auch wieder nicht zu früh. Und so ging er denn, als der Abend dieses
dritten Tages da war, auf die Hallesche Brücke zu, wartete hier die
Ringbahn ab und fuhr, am Potsdamer und Brandenburger Tor vorüber,
bis an jene sonderbare Reichstagsuferstelle, wo, von mächtiger
Giebelwand herab, ein wohl zwanzig Fuß hohes, riesiges Kaffeemädchen
mit einem ganz kleinen Häubchen auf dem Kopf freundlich auf die Welt
der Vorübereilenden herniederblickt, um ihnen ein Paket Kneippschen
Malzkaffee zu präsentieren. An dieser echt berlinisch-pittoresken Ecke
stieg Woldemar ab, um die von hier aus nur noch kurze Strecke bis an
das Kronprinzenufer zu Fuß zurückzulegen.
Es war gegen acht, als er in dem Barbyschen Hause die mit Teppich
überdeckte Marmortreppe hinaufstieg und die Klingel zog. Im selben
Augenblick, wo Jeserich öffnete, sah Woldemar an des Alten verlegenem
Gesicht, daß die Damen aller Wahrscheinlichkeit nach wieder nicht zu
Hause waren. Aber eine Verstimmung darüber durfte nicht aufkommen, und
so ließ er es geschehen, daß Jeserich ihn bei dem alten Grafen meldete.
»Der Herr Graf lassen bitten.«
Und nun trat Woldemar in das Zimmer des wieder mal von Neuralgie
Geplagten ein, der ihm, auf einen dicken Stock gestützt, unter
freundlichem Gruß entgegenkam.
»Aber Herr Graf,« sagte Woldemar und nahm des alten Herrn linken
Arm, um ihn bis an seinen Lehnstuhl und eine für den kranken Fuß
zurechtgemachte Stellage zurückzuführen. »Ich fürchte, daß ich störe.«
»Ganz im Gegenteil, lieber Stechlin. Mir hochwillkommen. Außerdem hab
ich strikten Befehl, Sie, ~coûte que coûte~, festzuhalten; Sie wissen,
Damen sind groß in Ahnungen, und bei Melusine hat es schon geradezu was
Prophetisches.«
Woldemar lächelte.
»Sie lächeln, lieber Stechlin, und haben recht. Denn daß sie nun
schließlich doch gegangen ist (natürlich zu den Berchtesgadens) ist ein
Beweis, daß sie sich und ihrer Prophetie doch auch wieder einigermaßen
mißtraute. Aber man ist immer nur klug und weise für andre. Die Doktors
machen es ebenso; wenn sie sich selber behandeln sollen, wälzen sie die
Verantwortung von sich ab und sterben lieber durch fremde Hand. Aber
was sprech ich nur immer von Melusine. Freilich, wer in unserm Hause so
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