Der Spiegel des Cyprianus - 1

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Der Spiegel des Cyprianus
Theodor Storm

Das Grafenschloß--eigentlich war es eine Burg--lag frei auf der Höhe;
uralte Föhren und Eichen ragten mit ihren Wipfeln aus der Tiefe; und über
ihnen und den Wäldem und Wiesen, die sich unterhalb des Berges
ausbreiteten, lag der Sonnenglanz des Frühlings. Drinnen aber waltete
Trauer; denn das einzige Söhnlein des Grafen war von unerklärlichem
Siechtum befallen; und die vornehmsten Ärzte, die herbeigerufen wurden,
vermochten den Ursprung des Übels nicht zu erkennen.
Im verhangenen Gemache lag der Knabe schlafend mit blutlosem Antlitz.
Zwei Frauen saßen je zu einer Seite des Bettes, mit dem gespannten Blick
der Sorge ihn betrachtend; die eine alt, in der Kleidung einer vornehmeren
Dienerin, die andere, unverkennbar die Dame des Hauses, fast jung noch,
aber die Spuren vergangenen Leides in dem blassen, gütevollen Angesicht.
In den schönsten Tagen ihrer Jugend hatte der Graf um sie, das wenig
begüterte Fräulein, geworben; aber da schon nichts mehr fehlte als das
ausgesprochene Wort, hatte er sich abgewandt. Eine reiche, schöne Dame,
die dem armen Fräulein dem stattlichen Gemahl und dessen Herrschaft
neidete, hatte den leichtblütigen Mann in ihrem Liebesnetz verstrickt; und
während diese als Herrin in das Grafenschloß einzog, blieb die Verlassene
in dem Witwenstübchen ihrer Mutter.
Aber das Glück der jungen Gräfin hatte keinen Bestand. Als sie nach
Jahresfrist dem kleinen Kuno das Leben gegeben, wurde sie von einem bösen
Kindbettfieber hingerafft; und als wiederum ein Jahr vorbei war, da wußte
der Graf für sein verwaistes Söhnlein keine bessere Mutterhand als die,
welche er einst verschmäht hatte. Und sie mit ihrem stillen Herzen vergab
ihm alle Kränkung und wurde jetzt sein Weib.
So saß sie nun sorgend und wachend bei dem Kind ihrer einstigen
Nebenbuhlerin.
"Er schläft jetzt ruhig", sagte die Alte; "Frau Gräfin sollten auch ein
wenig ruhen."
"Nicht doch, Amme", erwiderte die sanfte Frau; "ich bedarf's noch nicht;
ich sitze hier ja gut in meinem weichen Sessel."
"Aber die vielen Nächte durch! Es ist doch nimmer ein Schlaf, wenn der
Mensch nicht aus den Kleidern kommt." Und nach einer Weile setzte sie
hinzu: "Es hat nicht immer solche Stiefmütter gegeben hier im Schloß."
"Du mußt mich nicht so loben, Amme!"
"Kennt Ihr denn nicht die Geschichte von dem Spiegel des Cyprianus?" sagte
wiederum die Alte; und als die Gräfin es verneinte, fuhr sie fort: "So
will ich sie Euch erzählen; es hilft die Gedanken zerstreuen. Und seht
nur, wie das Kind schläft, der Atem geht ganz ruhig aus dem kleinen Mund!
--Nehmt noch dies Kissen unterm Kreuz, und nun die Füßchen auf den Schemel
hier!--Und nun wartet ein Weilchen, daß ich mich recht besinne."
Dann, als die Gräfin sich in die Kissen gesetzt und ihr freundlich
zugenickt hatte, begann die erfahrene Dienerin des Hauses ihre Erzählung:
"Vor über hundert Jahren hat einmal eine Gräfin in diesem Schloß gelebt;
die ist von allen Leuten nur die gute Gräfin genannt worden. Der Name hat
auch rechtgehabt; denn sie ist demütig in ihrem Herzen gewesen und hat die
Armen und Niedrigen nicht gering geachtet. Aber eine frohe Gräfin ist sie
nicht gewesen. Wenn sie unten im Dorf hilfebringend in die Wohnungen der
Käthner gegangen, so hat sie mit Leid auf die Häuflein der Kinder geblickt,
die ihr oft den Eingang in die niedrigen Türen versperrten, und dabei
gedacht: 'Was gäbst du nicht hin um ein einziges solcher pausbäckiger
Englein!' Denn schon zehn Jahre lebte sie mit ihrem Gemahl; aber ihre Ehe
blieb ungesegnet; auch war ihr nicht, wie Euer Gnaden, ein mutterlos Kind
vom Herrgott in den Arm gelegt, dem sie den Schatz ihrer Liebe hätte
schenken können. Der Graf, sonst ein gerechter Mann und der guten Gräfin
in Treue zugetan, hatte begonnen mitunter finster drein zu sehen, daß ihm
der Erbe seiner großen Herrschaft noch immer nicht geboren wurde.--Du
lieber Gott!"--unterbrach sich die Erzählerin--"den Reichen fehlt's; und
die Armen wünschen oft vergebens, daß sie von ihrem Häuflein ein Englein
oder zwei im Himmel hätten, die droben für sie beten könnten."
"Erzähle weiter!" bat ihre Herrin; und die Alte fuhr fort:
Es ist in der letzten Zeit des großen Krieges gewesen, und das Schloß
hier noch oft von Feindes und Freundes Truppen überzogen worden, da hat
es sich eines Tages begeben, daß ein alter Arzt, der mit den Schweden
ins Land gekommen, bei einem Gefecht, dort hinten an dem Wald, von einer
kaiserlichen Kugel verwundet worden, während er des Ausgangs harrend bei
seinen Theriatskasten Wache hielt. Der Mann, welcher Cyprianus geheißen,
ist hier ins Schloß getragen und, obwohl die Herrschaft gut kaiserlich
gewesen, von der guten Gräfin mit großer Hingebung gepflegt worden. Sie
hat eine glückliche Hand gehabt; doch ist viel Zeit darüber hingegangen.
Der Friede ist schon geschlossen gewesen, als sie noch oft in dem kleinen
Würzgärtlein hinter dem Schloß an der Seite des genesenden Greises auf und
ab gewandelt ist und seinen Reden von den Kräften und Geheimnissen der
Natur gelauscht hat. Manchen Wink und manches Heilmittel aus den Kräutern
der Berge hat er ihr angegeben, das später ihren Kranken zugute kommen
konnte. Und so ist allmählich zwischen der schönen Frau und dem alten
weisen Meister eine gegenseitige dankbare Freundschaft entstanden.
Um diese Zeit ist auch der Graf, welcher seit einem Jahr in der Armee des
Kaisers mit zu Feld gelegen, auf sein Schloß zurückgekehrt. Als nun die
erste Freude des Wiedersehens vorüber war, glaubte der Arzt mit seinen
forschenden Augen den Zug eines stillen Kummers in dem Gesicht der guten
Gräfin zu erkennen; doch die Bescheidenheit des Alters hatte immer noch
eine Frage darüber auf seinen Lippen zurückgehalten. Als er aber eines
Tages ein Weib von den schwarzen fahrenden Leuten, die derzeit unter ihrem
Herzog Michel durch das ganze Reich zogen, aus ihrer Kammer schlüpfen sah,
da hat er abends beim Lustwandeln in dem Gärtlein ihre Hand genommen und
ihr eindringlich zugeredet: "Ihr wißt, gnädige Gräfin, ich trage ein
väterlich Herz zu Euch; so sagt mir auch, was ließet Ihr um Mittag, da
Euer Herr sein Schläfchen tat, die arge Heidin in Eure Kammer?"
Die gute Gräfin erschrak; aber als sie in das milde Gesicht des Greises
sah, da sprach sie: "Ich habe ein großes Leid, Meister Cyprianus, und
möchte wissen, ob noch eine Zeit kommt, wo es von mir genommen wäre."
"So öffnet mir Euer Herz!" entgegnete er; "vielleicht, daß ich
bessern Rat weiß als jene fahrenden Leute, die wohl den Betrug der
Leichtgläubigen, aber keineswegs die Zukunft verstehen!"
Auf diese Worte hat die Gräfin dem alten Meister ihren Kummer vertraut,
und wie sie durch ihre Kinderlosigkeit sogar das Herz ihres Gemahls zu
verlieren fürchte.
Sie gingen währenddessen an der Umfassungsmauer des Gärtleins entlang, und
Cyprianus schaute über die unten liegenden Wälder hinaus, auf die schon
der rote Abendschein sich legte. "Die Sonne scheidet", sprach er; "und
wenn sie morgen emporsteigt, so muß sie mich auf der Reise nach meinem
Heimatland sehen. Aber ich schulde Euch Leben und Gesundheit, und so will
ich denn gebeten haben, wollet eine Dankesgabe, die ich durch sichere Hand
aus der Heimat an Euch senden werde, nicht verschmähen."
"So müßt Ihr wirklich fort, Meister Cyprianus?" rief die trauemde Frau.
"Da wird mein liebreichster Tröster mich verlassen!"
"Klagt darüber nicht, Frau Gräfin!" entgegnete er; "die Gabe, von der ich
sprach, ist ein speculum, zu deutsch ein Spiegel, unter sondrer Kreuzung
der Gestirne und in der heilbringendsten Zeit des Jahres gefertigt. Wollt
ihn in Eure Kammer stellen und dort nach Frauen Art gebrauchen, so dürfte
er Euch bald bessere Kunde bringen als die trügerischen Leute der Haide.
--Man hält mich", setzte der Greis geheimnisvoll lächelnd hinzu, "in
meiner Heimat für nicht unkundig der Dinge der Natur." Die Erzählerin
unterbrach sich.--"Ihr wißt wohl, gnädige Gräfin, daß der Name Cyprianus
später im ganzen Norden als eines mächtigen Zauberers bekannt geworden ist.
Die Bücher, die er geschrieben, hat man nach seinem Tod in dem
unterirdischen Gewölbe eines Schlosses an Ketten gelegt, weil man geglaubt
hat, es seien böse, das Heil der Seele gefährdende Dinge darin enthalten.
Aber die das getan, haben sich geirrt, oder sie sind selbst nicht reinen
Herzens gewesen; denn--wie Cyprianus während seines Aufenthalts in diesem
Haus oft gesagt haben soll--'die Kräfte der Natur sind niemals böse in
gerechter Hand.'"
Aber ich will in meiner Geschichte fortfahren.--Einige Monde später,
nachdem der Meister unter trostvollem Zuspruch an die beiden Ehegatten das
Schloß verlassen hatte, hielt eines Tages ein Wägelchen mit einer großen
Holzkiste auf dem Hof; und da der Graf und seine Gemahlin, welche in der
Nachmittagsstunde müßig am Fenster standen, von Neugierde getrieben
hinabgegangen waren, war ihnen von dem Fuhrmann ein auf Pergament
geschriebener Brief des Cyprianus überreicht. Die Kiste aber enthielt
die bei seinem Abschied verheißene Dankesgabe. "Möge"--so lautete das
Schreiben--"dieser Spiegel so viele Tage der Freude eurem Leben zulegen,
als er mich Stunden heiligster Arbeit gekostet hat. Wollt aber nicht
vergessen, das Letzte in allen Dingen steht allezeit in der Hand des
unergründlichen Gottes.--Nur eines ist zu verhüten. Niemals darf das Bild
einer argen Tat in diesen Spiegel fallen; die heilsamen Kräfte, welche bei
seiner Anfertigung mitgewirkt haben, würden sich sonst in ihr Widerspiel
verkehren; insonders möchte den Kindern, so--das walte Gott!--euch bald
umgeben werden, daraus eine tödliche Gefahr erwachsen, und nur eine Sühne,
aus des Übeltäters eigenem Blut entsprossen, vermochte die Heilkraft des
Spiegels wieder herzustellen. Allein die Güte eures Hauses ist so groß,
daß solches nicht geschehen kann; und somit wollt in Hoffnung und
Vertrauen diese Gabe aus der Hand eines dankbaren Freundes empfangen."
Und wie der Meister es gewollt, in Hoffnung und Vertrauen empfingen die
Ehegatten sein Geschenk. Als die Kiste in den Flur getragen und geöffnet
war, zeigte sich zuerst ein Gestell, künstlich in Bronze gearbeitet. Dann
hob man den Spiegel heraus; ein hohes schmales Glas von einem wunderbar
bläulichen Lichtglanz. "Ist es nicht, mein Gemahl", rief die Gräfin, die
einen Blick hineingeworfen, "als liege die drinnen abgespiegelte Welt in
sanftem Mondenschein?" Der Rahmen war von geschliffenem Stahl, in dessen
tausenden Facetten der gefangene und gebrochene Lichtstrahl wie in
farbigem Feuer blitzte.
Bald war das schöne Werk in dem Schlafgemach der Eheleute aufgestellt; und
an jedem Morgen, während die Dienerin ihr das blonde Haar strählte oder
die seidene Flechte in einen Knoten legte, saß die gute Gräfin mit
gefalteten Händen vor dem Spiegel des Cyprianus und schaute andächtig und
voll Hoffnung in ihr eigenes liebes Antlitz. Wenn aber die Frühsonne auf
die Facetten des Rahmens leuchtete, dann saß das Bild der schönen Frau wie
in einem Kranz von Sternenfunken. Oft nach seinem ersten Gang durch Feld
und Wald trat ihr Gemahl wieder in das Schlafgemach und lehnte schweigend
hinter ihrem Stuhl; und wenn sie ihn dann im Spiegel sah, so meinte sie
jedes Mal, daß seine Augen weniger finster blickten.
Eine geraume Zeit war vergangen, als die Gräfin eines Morgens, da die
Kammerzofe sie schon verlassen, im Vorübergehen noch einen Blick in den
Spiegel tun wollte. Aber es schien ein Hauch auf dem Glas, so daß sie ihr
Antlitz nicht deutlich zu sehen vermochte. Sie nahm ihr Schweißtüchlein
und suchte es fortzuwischen; aber es half nicht; und sie sah nun wohl, daß
es nicht ober-, sondem innerhalb des Glases war. Näherte sie sich dem
Spiegel, so trat ihr Antlitz klar daraus hervor; wenn sie aber weiter
zurücktrat, so schwamm es wie ein rosiger Duft zwischen ihr und ihrem
Spiegelbild.--Sinnend steckte sie ihr Tüchlein ein und ging den Tag über
schweigend und voll stiller Ahnung im Haus umher, so daß ihr Gemahl, der
ihr im Korridor begegnete, ausrief: "Was lächelst du denn so selig,
Herzensfrau?"--Sie schwieg noch immer und legte nur die Arme um seinen
Hals und küßte ihn.
Tag für Tag aber, wenn ihr Gemahl und die Dienerin sie verlassen, stand
sie in der Einsamkeit vor dem Spiegel des guten Meisters, und mit jedem
Morgen sah sie das Rosenwölkchen deutlicher hinter dem Glas schwimmen.
So war der Mai gekommen, und von draußen aus dem Gärtlein wehte der
Veilchenduft durchs offene Fenster; da trat die gute Gräfin eines Morgens
wieder vor den Spiegel. Kaum hatte sie hineingeblickt, da brach ein
'Ach!' des Entzückens aus ihren Lippen, und ihre Hände fuhren nach dem
Herzen; denn in der Frühlingssonne, die hell in den Spiegel leuchtete,
erkannte sie deutlich ein schlummerndes Kinderantlitz, das aus dem
Rosenwölkchen blickte. Mit verhaltenem Atem stand sie; sie konnte sich
an dem Anblick nicht ersättigen.
Da hörte sie von draußen vor der Brücke Hörnerschall, und sie entsann
sich, es müsse ihr Gemahl sein, der von der Jagd zurückkehrte. Sie schloß
die Augen und blieb wartend stehen, bis er, gefolgt von seinem Hund, zu
ihr ins Gemach trat. Dann umfing sie ihn mit beiden Armen, und in den
Spiegel zeigend, sprach sie leise: "Dich grüßt der Erbe deines Hauses!
"--Nun hatte der gute Graf auch das kleine Antlitz in dem Rosenwölkchen
erkannt; aber, der Freudenblitz aus seinen Augen verschwand auf einmal,
und die Gräfin sah im Spiegel, wie er erblaßte. "Siehst du es denn
nicht?" flüsterte sie.
"Ich sehe es freilich, Herzensfrau", erwiderte er; "aber es erschreckt
mich, daß das Kindlein weint."
Sie kehrte sich zu ihm und wiegte das Haupt. "Du törichter Mann", sprach
sie, "es schlummert, es lächelt ja im Traum."
Und so blieb es mit den beiden. Er ging in Sorge; sie aber rüstete
heiteren Sinnes mit ihrer Schaffnerin die Wiege nebst den Daunenkissen und
den kleinen zarten Gewändern für den künftigen Erben des Hauses. Mitunter,
wenn sie vor dem Spiegel stand, streckte sie wohl wie in traumhafter
Sehnsucht ihre Arme nach dem Rosenwölkchen aus, aber wenn dann ihre Finger
an die kalte Spiegelfläche stießen, so ließ sie die Arme wieder sinken und
gedachte an ein Wort des Cyprianus: 'Es will alles seine Zeit.'
Und auch ihre Stunde kam. Das Wölkchen im Spiegel verschwand, und statt
dessen lag ein rosiger Knabe auf dem weißen Leintuch ihres Bettes. Das
gab große Freude im Schloß und drunten im Dorf, und als der gute Graf
morgens durch seine lachenden Fluren ritt, da ließ er dem wiehernden
Goldfuchs die Zügel schießen und rief es jubelnd in den Sonnenschein
hinaus: "Mir ist ein Sohn geboren!"
Nachdem die Gräfin als Sechswöchnerin ihren Kirchgang gehalten, sah man
sie wiederum an warmen Sommertagen in die Käthnerhäuser des Dorfes gehen;
nur daß sie jetzt nicht mehr in Leid auf die Bauernkinder herabsah. Sie
stand oft lange und bückte sich zu ihnen und wies sie an in ihren Spielen;
und wo sie einen recht kräftigen Jungen sah, da dachte sie auch wohl: "Der
Meine ist ihm doch noch über!"
Aber, wie Cyprianus geschrieben hatte, das Letzte ruht in der Hand des
unerforschten Gottes.--Mit dem Herbst fiel ein böses Fieber über das Dorf;
die Menschen starben; doch ehe sie starben, lagen sie verschmachtend und
hilfeflehend auf ihrem Lager. Und die gute Gräfin ließ nicht auf sich
warten. Mit den Arkanen des alten Meisters ging sie in die Hütten; sie
saß an den Betten der Kranken und wischte, wenn es zum Sterben ging, mit
ihrem Tüchlein den letzten Schweiß von ihren Stirnen. Endlich aber, da
der kleine Kuno die Hälfte seines ersten Jahres erreicht hatte, schritt
der Tod, dem sie so manches Leben entrissen hatte, mit ihr selber nach dem
Schloß hinauf; und nachdem ihre armen Wangen im Fieber wie zwei dunkle
Rosen gebrannt hatten, streckte er sie weiß und kalt auf ihrem Lager aus.
Da war alle Freude ausgetan. Der Graf ritt mit gesenktem Haupt durch
seine Fluren und ließ sein Roß die Wege, die es wollte, suchen. "Nun weiß
ich, warum mein armes Knäblein schon vor der Geburt hat weinen müssen", so
sprach er immer wieder bei sich selbst; "denn Mutterlieb ist nur einmal
auf der Welt."
Einsam stand der kunstreiche Spiegel in dem Schlafgemach; und wie oft
auch die Frühsonne ihre Funken auf den Stahlkranz des Rahmens streute, das
Bild der guten Gräfin saß nicht mehr darin. "Trage ihn fort", sagte der
Graf eines Morgens zu seinem alten Hausmeister; "das Blitzen tut meinen
Augen weh!"--Der Hausmeister ließ den Spiegel in ein entlegenes Gemach des
oberen Stockwerkes bringen, das derzeit zur Aufbewahrung allerlei alten
Gewaffens diente; und als die Diener, die ihn hinaufgetragen, sich
entfernt hatten, holte der alte Mann ein schwarzes Bahrtuch vom Begräbnis
der guten Gräfin und verhing damit das Kunstwerk des Meisters Cyprianus,
so daß kein Lichtstrahl fürder es berühren konnte.
Allein der Graf war noch jung; und als ein paar Jahre ins Land gegangen
waren und der kräftige Knabe anfing, in den weiten Korridoren des
Schlosses umherzutoben, da dachte der Graf: "Es ziemte sich, daß du deinem
Sohn eine neue Mutter suchtest, die ihn aufzöge in edler Sitte, wie es
sich für deinen Erben ziemt." Und weiter dachte er: "Am Hofe des Kaisers
sind viel holde Frauen; es sollte schlimm kommen, so du nicht die rechte
fändest." Auch eine Stimme war in seinen Ohren, die sprach: "Eine Mutter
für das Kind, ein Weib für dich; denn Frauenliebe ist ein süßer Trank!"
"Und so, als wieder einmal der Mai gekommen war, wurde das Reisezeug
gerüstet, und der Graf zog mit seinem Knaben, von stattlicher Dienerschaft
begleitet, nach der großen Stadt Wien.
"Lange blieben sie aus, und der alte Hausmeister ging in den hohen leeren
Gemächem umher und ließ die Fenster aufsperren, damit das Geräte, das
einst der guten Herrin gedient, in der eingeschlossenen Luft nicht
zugrunde gehe. Endlich aber, da schon die Herbstfäden über die Felder
flogen, gelangten nacheinander viele Kisten mit kostbaren Teppichen,
goldgepreßten Ledertapeten und allerart modischen Dingen an, wie es von
dem Gesinde dort nie zuvor gesehen war, und der Hausmeister erhielt
Befehl, die großen Gemächer des Erdgeschosses für die neue Herrin zu
bereiten."
Die alte Erzählerin hielt einige Augenblicke inne; denn der kleine Kranke
hatte im Schlaf das Deckbett abgestoßen. Dann aber, als sie ihn
sorgfältig wieder zugedeckt, und da der Knabe fort schlief, begann sie
wieder:
"Ihr kennt sie, gnädige Gräfin; das lebensgroße Frauenbild, das im
Rittersaal oben neben dem Kamin hängt, soll ihr ähnliches Konterfei sein.
Es ist ein Füchschen mit goldrötlichem Haar, wie sie den Männern,
besonders den älteren, so gefährlich sind. Ich habe sie mir oft drauf
angesehen; wie sie den Kopf so leicht zurückwirft, und wie der Mund so süß
und hinterhältig lächelt und das goldfarbige Haar in freien Liebeslocken
über den weißen Nacken weht, da hätte vielleicht auch ein kühleres Blut
als das des guten Grafen nicht zu widerstehen vermocht.--Ich will nur das
noch sagen, sie ist eine junge Wittib gewesen; und soll ein Kind aus
dieser ersten Ehe, ein Töchterlein, bei den Verwandten ihres verstorbenen
Gemahls in der Kaiserstadt zurückgelassen haben. So viel ist gewiß, auf
das Schloß hier ist diese Tochter nie gekommen."
Nun aber! Endlich rasselten die Wagen in den Schloßhof; und das
versammelte Gesinde sah staunend zu, wie der Graf und eine fremdredende
Kammerjungfer der Dame aus dem Wagen halfen. Und als sie nun in ihrem
mandelfarbenen Seidenkleid mit leichtem Kopfneigen die Treppe
emporschritt, da hörte ihr feines Ohr manch leis gerauntes Wort über die
Schönheit der neuen Herrin.
Erst als die Dame in der Tür verschwunden war, kam aus dem nachfolgenden
Gesindewagen der kleine Kuno hervorgeklettert. "Ei, Junker", rief eine
rotwangige Magd ihm zu, "habt Ihr eine schöne Mutter jetzt!" Aber der
Knabe runzelte die Stirn und sagte trotzig: "Es ist nicht meine Mutter!"
Und der alte Hausmeister, der eben von der Begleitung der Herrschaft
zurückkam, sagte finster zu der Dirne: "Siehst du denn nicht, daß das der
Sohn der guten Gräfin ist!" Und dem Knaben zärtlich in die blauen Augen
sehend, nahm er ihn auf seinen Arm und trug ihn in sein väterliches Haus.
Dort wartete denn von nun an die fremde Frau. Das Gesinde pries ihre
Leutseligkeit, und die Armen im Dorf meinten bald, sie habe eine noch
freigebigere Hand als die Verstorbene; nur auf die Kinder sehe sie gar
nicht, und auch seine Not könne man ihr so nicht klagen wie einst der
guten Gräfin.--Während sie aber die meisten der Schloßbewohner mit ihrer
Schönheit bestrickte, hatte der Hausmeister nur kalte Blicke für sie; es
mißfiel ihm, daß sie auch an Werktagen, wie er sagte, 'geschmückt wie eine
Jesabel' einherging. Er traute den Liebkosungen nicht, womit sie zuweilen
in seiner und des Grafen Gegenwart den kleinen Kuno überschüttete. Und
auch den Knaben selbst gewann sie nicht damit; er hatte für sie nichts als
ein schweigendes Anstarren; und wenn ihre Arme und Augen ihn losließen, so
rannte er hinaus ins Freie, holte seine kleine Armbrust und schoß nach
einem Holzvogel, den der Hausmeister ihm geschnitzt hatte; oder er saß
abends in der Stube seines alten Freundes und bilderte in einem großen
Buch von den Freuden des edlen Waidwerks.--Der gute Graf aber sah nichts
als die Schönheit seines Weibes. Wenn er in das Zimmer und ihr entgegen
trat, so stand sie lächelnd, bis er sie umfing; hatte sie der Tür den
schönen Nacken zugewandt, so hob sie wohl das Handspieglein, das ihr an
goldner Kette vom Gürtel herabhing, aus den Falten ihres Seidenrockes und
nickte dem Eintretenden daraus entgegen.
Als aber das Frühjahr wiederkam, da befiel den Knaben ein Fieber, das er
sich im feuchten Moose des Waldes geholt hatte, und er lag in unruhigem
Krankenschlummer in seinen Kissen. Neben dem Bett stand der Stuhl der
guten Gräfin mit der geschnitzten Lehne und dem blauen Samtpolster, auf
dem sie so oft vor dem Spiegel des Meisters Cyprianus gesessen hatte,
einst als in der Frühlingsluft die Veilchendüfte zu ihr ins offene Fenster
wehten. Jetzt blühten draußen wieder einmal die Veilchen; aber der Stuhl
stand leer. Die schöne Stiefmutter war zwar auch zugegen und saß neben
dem Grafen zu Füßen des kleinen Bettes; denn sie sah es wohl, wie der
Vater um sein Kind sorgte, und wollte es an sich nicht fehlen lassen. Da
rief der Knabe aus seinem Fieber: 'Mutter, Mutter!' und hob sich mit
offenen Augen aus seinen Kissen. 'Hörst du, mein Gemahl!' sagte die
schöne Frau, 'unser Sohn verlangt nach mir!' Als sie aber auf stand und
sich zu ihm neigte, da streckte das Kind an ihr vorbei seine Arme nach dem
leeren Stuhl der guten Gräfin.
Der Graf erblaßte, und von dem Leid plötzlicher Erinnerung bezwungen, fiel
er neben dem Bett seines Sohnes in die Knie. Die stolze Frau trat zurück,
und indem sie heimlich die kleine Faust um ihren Gürtel ballte, verließ
sie das Gemach, um es nicht wieder zu betreten. Doch der Knabe wurde
gesund auch ohne ihre Pflege.
Bald darauf, als draußen die Rosenknospen ausschlugen, genaß die Gräfin
eines Söhnleins. Der Graf aber wußte nicht, weshalb es ihm so schwer aufs
Herz fiel, als der kleine Kuno ihm mit dieser Nachricht entgegensprang.
Zwar ließ er auch jetzt sein Roß aus dem Stall führen, um mit seinen
Gedanken in die Heide hinaus zu reiten; aber nicht, um sie jubelnd über
Flur und See zu rufen. Als er eben im Bügel saß, hob der alte Hausmeister
den kleinen Kuno zu ihm auf den Sattel und sagte: 'Vergeßt den Sohn der
guten Gräfin nicht!' Der Vater schloß die Arme um sein Kind und ritt mit
ihm Berg auf und ab, bis die Sonne hinabgesunken war; als sie aber bei der
Heimkehr unter den Fenstem der Kapelle vorüber ritten, in der die
gräflichen Grabgewölbe waren, da ließ er sein Roß langsamer gehen und
raunte in das Ohr des Knaben: 'Vergiß ihrer nicht; denn Mutterliebe ist
nur einmal der auf Welt!'--Als bei seinem Eintritt in das Zimmer der
Wöchnerin die Wartefrau den Neugeborenen in seine Arme legte, überfiel ihn
aufs neue das Heimweh nach der Toten, und er wußte es plötzlich, daß sie
doch allein die Frau seines Herzens gewesen war; der Knabe, obwohl sein
eigen Blut, war ihm wie fremd, weil er nicht auch aus ihrem Blut war.--Die
Augen der Gräfin, welche bald schöner als je aus ihren Wochen erstanden
war, übten fürder keinen Zauber mehr auf ihn. Einsam ritt er durch die
Felder; ein Wort des Meisters Cyprianus stand wie in dunkler Schrift vor
seinen Augen: 'Rückwärts zu leben ist auch durch Gottes Hilfe nicht
vergönnt!'
Indessen wuchsen die beiden Knaben zusammen auf, und bald zeigte sich eine
große Liebe zwischen ihnen. Als der kleine Wolf erst mit ins Freie konnte,
wurde Kuno sein Lehrer in allen Künsten, die von den Knaben geübt werden.
Er ließ ihn über Felsen und auf Bäume klettern, er schnitzte ihm die
Bolzen für seine kleine Armbrust und schoß mit ihm nach der Scheibe oder
wohl gar nach dem unerreichbaren Raubvogel, der über ihnen im Sonnenglanz
revierte.
So war wieder einmal der Winter herangekommen, als eines abends ein Mann
in der Uniform eines kaiserlichen Feldobristen mit seinem Diener in den
Schloßhof geritten kam.--Hager hat er geheißen, und ein hagerer knochiger
Mann soll es gewesen sein, mit eckiger Stim und kleinen grimmigen Augen;
der struppige strohgelbe Bart--so heißt es--habe ihm wie Strahlen vom Kinn
und von den Nasenflügeln abgestanden. Er nannte sich einen Vetter von dem
ersten Gemahl der Gräfin und war, wie er sagte, nur auf Besuch gekommen;
aber er blieb von einer Woche in die andere und wurde allmählich als ein
ständiger Hausgenosse angesehen.--Der Graf hatte sich anfänglich um den
Besuch gar nicht gekümmert; aber der Obrist zeigte sich bald als einen
Meister des edlen Waidwerks, und als der erste Schnee gefallen war, zogen
die beiden Männer zusammen in das Tannendickicht, und von nun an hörte man
fast täglich das Toben der Rüden und das 'Ho Ridoh' der Jäger durch den
stillen Wald. Da eines Nachmittags bei einer Sauhatz tönte das Hifthorn
des Obristen aus einem entlegenen Talgrund, wohin er ohne Gefolge mit dem
Grafen sich verloren hatte; und als der Rüdenmann und die Jäger, dem Ruf
folgend, dort zusammentrafen, sahen sie das Wildschein verendet zwischen
den Tannen liegen; daneben aber lag auch der Graf in seinem Blut. Der
Obrist stand auf seinen Jagdspeer gelehnt, das Hifthorn in der Hand.
'Eure Saufedern taugen nichts', sagte er kurz, 'der Keiler hat sie
abgeschlagen'; und als alle von Schreck gelähmt dastanden, blitzte er sie
mit seinen kleinen grimmen Augen an: 'Was steht ihr noch! Brecht Zweige
zu einer Bahre und tragt euren Herrn ins Schloß!' Und die Leute taten, wie
er befohlen hatte.
Der Graf aber ist nicht wieder mit dem Oberst auf die Jagd gezogen. Denn
als der alte Hausmeister den Reitknecht nach einem Arzt entsenden wollte,
damit die Wunde untersucht würde, erhielt er den Bescheid, der Arzt sei
nimmer nötig, der Graf sei schon verschieden.
Und bald ruhte er im Grabgewölbe bei seiner guten Gräfin, und der kleine
Kuno war ein vater- und mutterloses Kind. Der Obrist aber blieb nach wie
vor im Schlosse, und die Gräfin duldete es, daß unmerklich ein Stück des
Hausregiments nach dem andern in seine Hand ging. Das Gesinde murrte
zwar, wenn er sie mit seiner scharfen Stimme anherrschte; aber sie wagten
es gleichwohl nicht, sich dem grimmen Manne zu widersetzen.--Auch mit den
beiden Knaben machte er sich zu schaffen. Eines Morgens, als Kuno in den
Stall hinabkam, stand neben dem Rappen des Obersten ein kleines schwarzes
Nordlandsroß mit roter goldgestickter Schabracke. 'Das ist dein eigen',
sagte der Oberst, der mit hineingetreten war, 'klettere hinauf, so zeig
ich dir, wie ein Mann zu Pferde sitzen muß.' Bald sorgte er, daß auch der
kleine Wolf ein Roß bekam, und nun lehrte er die beiden Reiten nach den
Regeln der Kunst. Nicht lange, so sah man den hagern Obristen auf seinem
hochbeinigen Rappen zwischen den beiden Knaben auf ihren kleinen
Nordlandsrossen über die Felder reiten. Aber seltsame Reden waren es, die
er dabei mit ihnen führte. Wenn sie, wie es bei Kindern geschieht, einmal
in Zank gerieten, so bückte er sich von seinem hohen Rappen und flüsterte
dem ältem zu: 'Du bist der Herr; vom Hof kannst du den Burschen jagen!'
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