Der letzte Zentaur - 2

Total number of words is 4316
Total number of unique words is 1786
33.3 of words are in the 2000 most common words
44.5 of words are in the 5000 most common words
49.4 of words are in the 8000 most common words
Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
Mütterchen, lahmer und preßhafter Männlein und ganz junger Kinder,
alles nämlich, was von jenem abgelegenen Dorfe entweder zu alt oder zu
jung gewesen war, um die nachbarliche Kirchweih mitzufeiern. Der
riesige fremde Gast mochte sich mit Gutem oder Bösem so in Respekt
gesetzt haben, daß man ihm ohne jede Anfechtung, weder durch Geschrei,
noch tätliche Neckereien, das Geleit gab. Aber je näher der
abenteuerliche Zug dem Kirchweihdorfe kam, desto deutlicher sah ich
besonders die Weiblein bemüht, die Aufmerksamkeit der noch
ahnungslosen Nachbarn schon von weitem zu erregen, durch Winke mit den
dürren Armen, Krückstöcken und Kopftüchern, auf die freilich über der
Tanzmusik und dem Festtreiben rings um mich her keine Menschenseele
aufmerksam wurde.
So konnte sich das heidnische Ungetüm unbeschrien der Dorfmark nähern,
und erst, als es bei den letzten Hütten vorbeitrabte und nun gerade
auf das Wirtshaus lossteuerte, wurden die Bauern inne, daß sich etwas
ganz Unerhörtes begab. Nun war freilich der Effekt, den dies
Intermezzo machte, um so gewaltiger. Im Nu stob alles auseinander,
was unten im Wirtsgarten und um die Schaubuden sich zusammengedrängt
hatte. Wie Ameisen durcheinander wimmeln, wenn man mit dem Stock in
ihren Bau stößt, so stürzten Männer und Weiber in wilder Flucht vom
Wirtshaus weg, und jedes suchte eine Tür, einen Zaun oder einen Baum
zu erreichen, hinter denen man vor dem ungefügen vierbeinigen Mirakel
auf den ersten Anlauf sicher wäre. Ebenso hastig aber fuhren alle,
die in den Häusern und oberen Räumen der Schenke waren, an die Fenster
und starrten entsetzt nach dem Scheuel und Greuel hinaus. Auf den
Lärm des ersten Aufruhrs folgte eine tiefe Stille; selbst die Hunde,
die erst wütend losgebellt hatten, zogen sich, als sie die mächtigen
Hufe des Ankömmlings gewahrten, vorsichtig mit bangem Winseln zurück,
und nur die kleinen Bauernpferde, die an ihren Krippen schmausten,
begrüßten ihn mit zutraulich gastfreundlichem Wiehern, da er ja
jedenfalls, soweit er zu ihnen gehörte, ihrem Geschlecht alle Ehre
machte.
Ich war vielleicht der einzige, der nicht den Kopf verlor, zunächst
als ein alter eingeteufelter Heide, der ich war, und in der ganzen
fabelhaften Naturgeschichte wohlbewandert, dann aber auch, weil das
Entzücken über die ungemeine Schönheit des Fremdlings keine Furcht
aufkommen ließ.
Was ich selber hernach an solchen Zwiegeschöpfen gemalt, oder Freund
Hähnel in seinem Dresdener Theaterfries gemeißelt hat, würde sich
gegen diesen göttlichen Burschen in Fleisch und Bein ausgenommen haben
wie Halbblut gegen Vollblut.
Obgleich freilich an das, was man heutzutage Vollblut nennt, nicht
gedacht werden darf, wenn man sich einen Begriff machen will von der
Gaulhälfte des wundersamen Kirchweihgastes. Denkt an den Bucephalus
oder das trojanische Pferd, oder meinethalben an den prachtvollen
Streithengst, der den Großen Kurfürsten auf der langen Brücke trägt,
und nun stellt euch vor, daß der ganze heroische Gliederbau von der
glattesten silbergrauen Decke überzogen war, unter der man jede Muskel
spielen und bei jedem Fältchen, das sie warf, die Sonne wie auf
hochgeschorenem Samt schimmern sah. Aus diesem mächtigen Gestell
wuchs ein Menschenleib hervor, der sich mit dem tierischen wohl messen
konnte--Arme, Brust, Schultern wie vom Farnesischen Herkules gestohlen,
so recht in der Mitte zwischen fett und hager, die Haut sanft
angebräunt und ebenfalls hie und da stark behaart, wie denn auch von
dem mächtigen dunklen Schopf, der ihm Stirn und Haupt umwallte, noch
eine wehende Mähne bis tief auf den Rücken hinunterwucherte, übrigens,
gleich dem lang nachschleppenden kohlschwarzen Roßschweif, dem
Anschein nach wohlgepflegt. Es war überhaupt nicht zu verkennen: das
Fabelwesen hielt etwas auf sein Äußeres. Keine Spur von
tausendjährigem Staub und Unrat, der Bart am Kinn zierlich gestutzt
und gekräuselt, und wie ich mich erst getraute, ihm näher in das
ernsthaft treuherzige Gesicht zu sehen, das nur etwa so wild war wie
ein Bube, der aus Verlegenheit trotzig dreinschaut, bemerkte ich, daß
er einen kleinen Rosenzweig, eben frisch, wie es schien, vom Strauch
gebrochen, in das dichte Haar hinters Ohr gesteckt hatte.
So kam das schöne Ungeheuer gemächlich in den Hof der Dorfschenke
getrabt, aus dem sofort auch der letzte Gast, den Maßkrug an die Brust
gedrückt, mit lautem Geschrei ins Haus oder in die Wirtschaftsgebäude
flüchtete. Der Schwarm von alten Weibern und Bauernkindern, der ihm
das Geleit gegeben, blieb draußen auf der Dorfstraße stehen, und über
der Verwegenheit des hohen Reisenden, sich so leichtbegleitet mitten
in die Kirchweih zu begeben, schien allen das Wort in der Kehle zu
erstarren. Wenigstens hörte man ringsum nur ein verhaltenes Summen
und Schwirren, aus dem nur dann und wann ein paar Naturlaute des
Schreckens und der Angst hervorkreischten. Alle erwarteten das
Entsetzlichste, und wohl nur wenige mochten sein, die den Spuk nicht
gerade für den leibhafen Gottseibeiuns hielten, der gekommen sei, das
sämtliche halb betrunkene Gesindel recht in seiner Sünden
Kirchweihblüte in die Hölle abzuführen.
Der alte Heide aber zeigte sich trotz seiner höllischen Pferdefüße als
ein ganz zahmer, menschenfreundlicher Kamerad. Er sprengte
geradeswegs auf die hohe Laube zu, auf der ich saß, und sah mit einer
höflichen Miene, wie einer, der gerne mit einem Fremden anbinden
möchte, mir ins Gesicht, der ich ihm ebenso artig zunickte. Dann aber
richtete er seine großen glänzenden Augen auf das Schenkmädchen, das
neben mir stand, zwei offene Flaschen voll Tirolerwein in den Händen.
Sie hatte sie für die Gäste heraufgetragen, die das Hasenpanier
ergriffen hatten, und stand nun, da sie, obwohl mit dem Dorfschneider
verlobt, ein munteres, kouragiertes Frauenzimmer war, ohne Scheu neben
mir auf dem Altan, um die Wundergestalt in aller Arglosigkeit zu
betrachten. Dem Fremdling mochte die saubere Dirne--man hieß sie die
schöne Nanni--ebenfalls einleuchten, nicht minder auch der rote Wein,
den sie trug. Mit so viel Lebensart, wie man solchen Roßmenschen kaum
zutrauen sollte, nahm er den Rosenzweig hinterm Ohre hervor, roch erst
daran und überreichte ihn dann ohne Mühe, da Haupt und Schultern noch
über die Brüstung der Laube herausragten, dem schönen Kinde, das etwas
geschämig tat, die Blumen aber doch nicht ausschlug, sondern in ihren
Brustlatz neben den silbernen Löffel steckte. Zugleich schien sie
gemerkt zu haben, worauf die ganze Huldigung abzielte.
Ohne Zaudern reichte sie ihrem Verehrer die beiden vollen Flaschen
hinaus, die er auch mit freundlichem Kopfnicken ergriff, und dann in
so raschen Zügen leerte, wie unsereins zwei Gläser Champagner
hinunterstürzt.
Ein beifälliges Murmeln unter den Kopf an Kopf gedrängten Zuschauern
begleitete diese ganze trauliche Szene, und ein paar kecke Burschen
wagten sogar ein "Wohl bekomm's!" oder "Gesegn' es Gott!" zu rufen,
wurden aber gleich von den Vorsichtigeren niedergezischt. Aber auch
dem fremden Gast schien der Wein die Zunge gelöst zu haben. Er sagte
erst dem Mädchen einige Artigkeiten, die sie aber nicht verstand und
nur mit Kichern und Kopfschütteln erwiderte. Dann wandte er sich an
mich, fragte mich, wo er sich hier befinde, und wie das wilde Volk
heiße mit den Pelzhauben und der ohrenzerreißenden Musik, unter das er,
er wisse selbst nicht wie, geraten sei. Ich antwortete-Erlauben Sie,
Herr Genelli, unterbrach ihn der Wirt, der gleich uns anderen begierig
gelauscht hatte, in welcher Sprache unterhielten Sie sich mit dem
antiken Herrn?
Im reinsten Griechisch, Herr Schimon; Sie mögen es nun glauben oder
nicht. Er sprach es natürlich etwas fließender als ich, aber mit
einem Anflug an den jonischen Dialekt, der mir hie und da das
Verständnis erschwerte. Indessen, es ging. Not bricht Eisen und
lehrt radebrechen. Sie werden selbst schon erlebt haben, daß Sie im
Traume ganz korrekt Ungarisch oder Spanisch sprachen, was Ihnen sonst
sauer werden möchte. Aber unterbrechen Sie mich nicht wieder; lassen
Sie mir lieber einen neuen Spitz Carlowitzer kommen. Wo war ich denn
stehen geblieben? Richtig, wo ich den Spieß umdrehte und ihn fragte,
wie es im Homer steht:
Wer er sei und woher, wo er wohnt und wer die Erzeuger.
Da kamen denn kuriose Dinge heraus.
Stellt euch vor, der arme Bursche war vor so und so viel tausend
Jahren hoch oben durchs Gebirge geritten, in Geschäften, wie er sagte,
da er als Landarzt--Kreisphysikus würde man's heute nennen--einen
gewaltig großen Bezirk zu versehen hatte, lauter wildes, armes Volk,
Hirten, Bärenjäger, Pfahlbauern usw. Nun war's gerade ein heißer Tag,
und er hatte bei seiner Praxis überall scharf gezecht, hineingegossen,
was die Leute ihm gerade vorsetzten, da er sie meist um ein Glas Wein
oder Enzianbranntwein kurierte, und wie er mittags an eine
Gletscherhöhle kommt, denkt er, du willst ein Schläfchen machen,
streckt sich in der dämmerigen blauen Eisspelunke hin und schläft
richtig ein. Was weiter geschehen, wußte er freilich nicht zu sagen,
und auch ich konnte ihm nur die Vermutung aussprechen, daß Schnee-
oder Eismassen um ihn zusammengestürzt und heute erst wieder aufgetaut
sein müßten, daß er, wie jenes Mammutungetüm im Polareise, frisch und
ohne jeden Hautgout sich in seinem Eiskeller konserviert habe, nur mit
dem Unterschiede, daß auch sein Geist, dank dem vielen genossenen
Spiritus, durch den unmäßigen Winterschlaf hindurch keinen Schaden
gelitten und er nun als ein vorsintflutliches mythologisches Rätsel
auf vier gesunden Beinen in unsere entgötterte Welt hineinsprengen
könne. Ich suchte ihm in aller Kürze, so gut es ging, über die
ungeheure Kluft hinwegzuhelfen, die sein Erwachen von seinem
Einschlafen trennte. Aber ich merkte bald, daß die summarische
Weltchronik, die ich vor ihm aufrollte, ihn sehr wenig interessierte.
Er schüttelte nur den Kopf, als ich ihm erzählte, die Götter
Griechenlands seien ein überwundener Standpunkt, und mit dem kleinen
Lutherischen Katechismus wußte er ebensowenig anzufangen wie mit dem
heiligen Augustin oder Pius IX. Auch die politischen Umwälzungen der
letzten dreitausend Jahre ließen ihn völlig kalt. Als ich endlich
schwieg, seufzte er so recht vom Grunde seiner ehrlichen
Zentaurenseele auf und sagte: er werde von allem, was ich ihm da
vorgefabelt, aus dem Zehnten nicht klug, und das sei ihm auch ganz
gleichgültig. So viel merke er, daß ihm ein recht hämischer Possen
gespielt worden sei mit jener Aufbewahrung im Eiskeller; inzwischen
sei alles anders geworden und nur er derselbe geblieben, wessen er
sich eben nicht schäme, denn nach den wenigen Proben scheine ihm die
Welt viel lumpiger, schäbiger und nicht einmal gescheiter geworden zu
sein, die Wälder dünner, der Wein saurer, die Weiber--bis auf seine
Freundin "Nannis oder Nannidion" (wie er sich das Nannerl ins
Griechische übersetzte)--plumper und einfältiger. Nun erzählte er,
was er seit seinem Erwachen für Erfahrungen gemacht hatte.
Kaum war ihm nämlich sein Gletschermantel von den Schultern
geschmolzen, und er hatte sich die letzten Nebel des Schlafs aus den
Augen gerieben, so war er ins Freie hinausgetrabt, ärgerlich über die,
wie er wähnte lange Versäumnis von vierundzwanzig Stunden, da er einen
schweren Patienten eine Stunde tiefer im Tal zu besuchen hatte. Als
er sich aber umsah, schien ihm alles so wunderlich, daß er noch
fortzuträumen glaubte. Dichte Wälder, durch die er sich sonst pfadlos
hindurchzuwinden hatte, waren verschwunden; auf Wiesen, wo sonst der
Ur und der wilde Steinbock gegrast, sah er Herden buntfarbiger Kühe
weiden; hie und da stand ein Blockhaus am Wege, hoch hinauf mit Heu
angefüllt, und nicht selten sah er kleine Steige gebahnt, oder Balken
über Gießbäche gelegt, die er früher mit einem mächtigen Satz hatte
überspringen müssen. Kopfschüttelnd hielt er still und überlegte bei
sich, wie sich das alles über Nacht verwandelt haben möchte. Da er
aber kein Freund von überflüssigem Nachsinnen war, beschloß er, eine
benachbarte Waldnymphe um Aufschluß zu bitten, mit der er auf
vertraulichem Fuße stand. Er rief ihren Namen in die Schlucht
hinunter, aus der noch wie damals die mächtigen Edeltannen
heraufragten. Sonst war sie gleich oben im Wipfel erschienen, da sie
sehr einsam lebte und gerne eine Ansprache hatte. Heut zeigte sich
nur ein altes Weib, das Enzian sammelte und beim Anblick des
vierbeinigen Ungeheuers mit heiserem Jammergeschrei und heftigem
Kreuzschlagen sich ins Dickicht verkroch.
Also trabte er immer nachdenklicher seines Weges weiter, und da es
gerade Sonntag war und die Kirchweih alles, was eine saubere Jacke und
ein paar Kreuzer in der Tasche trug, in das Dorf hinuntergelockt hatte,
begegnete er auch keiner Menschenseele, als ein paar Hüterbuben, die
ebenso hastig vor ihm Reißaus nahmen wie das Kräuterweib. Nun sah er
auch unten die ersten kleinen Häuser, die mit ihren weißgetünchten
Wänden und blanken Fensterchen als ein neues Rätsel ihm
entgegenschimmerten. Hier hatten sonst nur verfallene Hütten der
wilden Ziegenhirten gestanden, elende Pferche zwischen Gestrüpp und
Klippen. War eine Stadt aus der Ebene ausgewandert und hatte sich in
die Berge verstiegen? Ein seltsames Gebäude mit hohem Dach und
spitzem Turm ragte aus den Schindeldächern in die Lüfte, und oben aus
den schwarzen Turmluken drang ein unerklärliches Summen und Schallen
hervor, das er nie gehörte hatte, und das in seiner feierlichen
Eintönigkeit ihn vollends bestürzt machte.
Das Grauenhafteste aber in dem ganzen Märchen, das ihn an seinen
gesunden Sinnen zweifeln ließ, begegnete ihm, als er den ersten Hütten
des oberen kleinen Dorfs sich näherte. Unter einem spitzen,
rotgetünchten Bretterdach hing da ein Mann mit ausgebreiteten,
blutrünstigen Armen an ein Kreuz genagelt, aus einer Seitenwunde
blutend, die Stirn von großen Blutstropfen überquollen, die unter den
spitzigen Stacheln eines dicken Dornkranzes hervordrangen. Gleichwohl
schien der Gemarterte noch am Leben. Er hatte die Augen weit geöffnet
nach oben gekehrt, und der kundige Blick des Zentauren fand auch an
den nackten Gliedern noch nicht die Farbe der Verwesung.
Er redete den armen kleinen Mann mit seiner freundlichsten Stimme an,
fragte, um welches Verbrechen man ihn so schwer büßen lasse, ob er ihm
vielleicht von seinem Marterholz herunterhelfen und die Wunden
verbinden solle. Als er keine Antwort erhielt, berührte er sacht die
Brust des stummen Dulders. Da merkte er, daß es nur ein hölzernes
Bild war. Ein Rosenstrauch war neben dem Stamm des Kreuzes gepflanzt.
Von dem pflückte er einen kleinen Zweig, roch daran, wie um wieder
etwas Liebliches zu genießen, und verließ dann die Stätte mit immer
unheimlicherem Staunen.
Im Dorf hatte gerade der Pfarrer, ein altes Männlein, das den
Kirchweihfreuden längst abgestorben war, für die andern zu Hause
gebliebenen Invaliden einen Vespergottesdienst begonnen, zu dem die
kleinen Buben das Geläut besorgten. Wie nun der Fremdling, dem alles,
was ihm links und rechts in die Augen fiel, ein Rätsel war, an die
offene Kirchentüre kam, hielt er an und spähte neugierig in das
halbdunkle Innere. Ein Sonnenstrahl fiel durch das kleine
Seitenfenster neben dem Altar und beleuchtete das Bild einer
wunderschönen Frau mit goldenen Haaren in blau und rotem Gewand, die
einen Knaben auf dem Arm und eine Lilie in der Hand trug. Sie hatte
die großen, sanften Augen gerade auf ihn gerichtet, als wolle sie ihn
einladen, näher zu treten. Zu ihren Füßen, ihm den Rücken zuwendend,
stand der kleine Pfarrer im Ornat, und die sämtliche Gemeinde kniete
jetzt, gleich ihm, vor der schönen Frau. Du solltest doch
hineintreten und sie dir etwas näher betrachten, sagte der Fremde zu
sich selbst. Und gedacht, getan. Er trabt, ohne an etwas Arges zu
denken, durch das Portal und geradewegs über die Steinfliesen, die von
seinem mächtigen Hufschlag dröhnten, auf den Altar zu.
Welch einen Spektakel das gab, kann man sich denken. Im ersten
Augenblick freilich versteinerte der Schrecken über diese
Tempelschändung durch ein so unerhörtes, geradewegs der Hölle
entstiegenes Ungeheuer die ganze andächtige Gemeinde samt ihrem
Seelsorger. Dann aber besann sich dieser, der trotz seiner achtzig
Jahre durchaus kein Don Abbondio war, daß der Eindringling niemand
anders als der leibhaftige Satan sein könne, erhob, was er gerade
Geweihtes in der Hand hatte, und rief, es gegen den Versucher
schwingend, mit lauter Stimme sein "Apage! Apage! und nochmals Apage!"
--Beim Zeus, sagte der Zentaur, das freut mich, endlich einem
redenden Menschen zu begegnen, der noch dazu griechisch spricht. Du
wirst mir nun wohl auch sagen können, Alter, wer diese schöne Frau ist,
ob sie noch lebt, was ihr hier treibt, und wie sich überhaupt alles
seit gestern so fabelhaft verändert hat.--Den Pfarrer überlief es
eiskalt, als er sich von dem bösen Feinde anreden hörte, noch dazu in
einer Sprache, die ihm natürlich griechisch war. Wieder erhob er
seinen Ruf und schlug ein Kreuz über das andere, wich aber doch ein
wenig vom Altar zurück, da ihn die Unbefangenheit des hohen Fremden
einschüchterte, und hätte sich dieser nicht umgesehen, wer weiß, wie
es abgelaufen wäre. Jetzt aber kam die Reihe, sich zu fürchten, an
unsern Roßmenschen. Denn wie er die vom Schreck verstörten
Wackelköpfe der alten Männer und die verwelkten Gesichter der greisen
Weiblein unter ihren hohen Pelzhauben sämtlich anstarren sah, überkam
ihn plötzlich die Furcht, er möchte in ein Konventikel von Hexen und
Zauberern geraten sein und Strafe leiden, wenn er ihr geheimes Wesen
noch länger störe. Also machte er, nachdem er der schönen Blauäugigen
noch einen verehrungsvollen Blick zugeworfen, auf einmal kehrt und
stob mit gewaltigen Sätzen, den Schweif wie zur Abwehr böser Geister
hoch um den Rücken schlagend, über das hallende Pflaster zur offenen
Tür hinaus.
Werter Freund, sagt' ich, als er mir das alles treuherzig gebeichtet
und meine Aufklärungen nur halb verstanden hatte, Ihr seid in einer
verwünschten Lage. Wie Ihr da geht und steht, möchte es schwer halten,
Euch in der modernen Gesellschaft einen Platz ausfindig zu machen,
der zu Euren Gaben und Ansprüchen paßte. Wäret Ihr nur ein paar
Jahrhunderte früher aufgetaut, so etwa im Cinquecento, so hätte sich
alles machen lassen. Ihr hättet Euch nach Italien begeben, wo damals
alles Antike wieder sehr in Aufnahme kam und auch an Eurer heidnischen
Nackheit kein Mensch sich geärgert haben würde. Aber heutzutage und
unter dieser engbrüstigen, breitstirnigen, verschneiderten und
verschnittenen Lumpenbagage, die sich die moderne Welt nennt--ich
fürchte, mio caro, Ihr werdet es sehr bedauern, nicht lieber bis an
den jüngsten Tag im Eise geblieben zu sein! Wo Ihr Euch sehen laßt,
in Städten oder in Dörfern, werden Euch die Gassenbuben nachlaufen und
mit faulen Äpfeln bewerfen, die alten Weiber werden Zeter schreien und
die Pfaffen Euch für den Gottseibeiuns ausgeben. Die Zoologen werden
Euch betasten und begaffen und dann erklären, Ihr wäret ein
unorganisches Monstrum und könntet nichts Besseres tun, als Euch einer
kleinen Vivisektion unterziehen, damit man sähe, wie Euer
Menschenmagen sich mit Eurem Pferdemagen vertrage. Seid Ihr aber der
Scylla der Naturforscher entronnen, so fallt Ihr in die Charybdis der
Kunstgelehrten, die Euch ins Gesicht sagen werden, daß Ihr ein
schamloser Anachronismus, eine totgeborene nur galvanisch belebte
Reliquie aus der Zeit des Parthenonfrieses seid, und die Künstler, die
nur noch Hosen und Wämser und kleine witzige Armseligkeiten malen
können, werden sich in ihren tugendhaften Armenversorgungsanstalten,
genannt Kunstvereine, zusammenrotten und bei der Polizei darauf
antragen, daß Ihr ausgewiesen werdet, als der öffentlichen Moral im
höchsten Grade gefährlich. Daß Ihr Praxis bekommen könntet, auch nur
als Pferdearzt, ist vollends undenkbar. Man hat jetzt ein ganz
anderes Naturheilverfahren, als zu Euren Zeiten, der vielen anderen
gelehrten Systeme zu geschweigen, und daß ein Doktor seine Equipage
vors Krankenbette mitbringt, ist unerhört. Bliebe also nichts als der
Zirkus oder die Menagerie, um Euer Brot zu verdienen, und fern sei es
von mir, einem Mann von so guter Familie, wie Ihr, eine solche
Erniedrigung zuzumuten. Nein, Bester, bis uns etwas Gescheiteres
einfällt, will ich selbst mein bißchen Armut mit Euch teilen. Wenn
ich es recht bedenke, bin ich ja nicht viel besser daran als Ihr, muß
mir auch von Gassenbuben und bigotten Vetteln, Ästhetikern und meinen
eigenen werten Kollegen die größten Schnödigkeiten gefallen lassen,
und seht, ich lebe noch und fühle mich in meiner Haut tausendmal
wohler, als all das Gewürm und Gesindel, das mir nicht das Leben gönnt.
Coraggio! animo, amico mio! Dieser rote Wein ist zwar nur ein
säuerlicher Rachenputzer, aber ihr werdet Euch auch nicht zu oft in
Nektar gütlich getan haben, und corpo della Madonna! wenn zwei rechte
Kerls miteinander Brüderschaft trinken, so adeln sie den ordinärsten
Tropfen.
Damit reichte ich ihm meine Flasche, welche die Nanni wieder gefüllt
hatte, und klang, das Glas erhebend, mit ihm an, wozu er als zu einem
ganz neuen Brauch ein verdutztes Gesicht machte. Ich winkte dann dem
Mädel, für neue Zufuhr zu sorgen, und so schwammen wir bald im
Überfluß und wurden guter Dinge. Nach und nach machte unsere
Kordialität auch das Bauernvolk vertraulich. Einige der Beherztesten
wagten sich wieder in den Hof und zogen, da ihnen nichts zuleide
geschah, bald die anderen nach sich. Sie besahen nun den Fremdling
sorgfältig von allen Seiten. Der Jude Anselm Freudenberg, der mit
Pferden handelte, erklärte laut, daß um tausend Loisdors ein solcher
Hengst halb geschenkt wäre, stünde nur nicht das unnatürliche
Vorderteil im Wege. Denn trotz der großen Fortschritte beim Militär
habe man noch nirgends Kavalleriepferde eingeführt, denen ihre Reiter
angewachsen wären. Eine vorwitzige Dirne wagte das Wundertier zu
berühren und das samtweiche Fell am Bug zu streicheln. Das ermutigte
den Schmied des Dorfes, behutsam den linken Hinterfuß aufzuheben, was
der Zentaur, der eben das siebente Seidel an die Lippen setzte, in
aller Gutmütigkeit geschehen ließ. Es fiel ungemein auf, daß die
starken, lichtbraunen Hufe keine Spur irgend eines Beschlages zeigten,
und da auch sonst so vieles ganz anders war, als bei anderen
Reitpferden, erhob sich die Frage, welcher Rasse er angehöre. Endlich,
nachdem man lange gestritten, tat der Schulmeister den Ausspruch, da
alle übrigen Kennzeichen fehlten, werde es wohl die kaukasische Rasse
sein, wogegen selbst der Jude Freudenberg nichts einzuwenden wußte.
Während aber so die öffentliche Meinung sich eben mit dem Heidengreuel
auszusöhnen schien und er wenigstens, was man einen succès d'estime
nennt, davontrug, war eine bösartige Verschwörung gegen den arglosen
Fremdling im Gange. An der Spitze stand natürlich die hochwürdige
Geistlichkeit, die es für das Seelenheil ihrer Pfarrkinder sehr
nachteilig fand, sich mit einem gewiß ungetauften, völlig nackten und
wahrscheinlich sehr unsittlichen Tiermenschen näher einzulassen.
Ebenso aufgebracht, wenn auch aus anderen Gründen, äußerte sich der
Italiener, der Besitzer des ausgestopften Kalbes mit zwei Köpfen und
fünf Beinen. Seit der Fremde erschienen war, hatte er mit seiner
Mißgeburt schlechte Geschäfte gemacht. Den Roßmenschen sah man gratis,
er war lebendig und trank und schwatzte, und wer wußte, ob er sich
nicht noch bewegen ließ einige Kunstreiterstückchen zum besten zu
geben, wozu das Kalb durchaus keine Miene machte. Das konnte der
Italiener nicht so ruhig mit ansehen. Es sei ein Unterschied, setzte
er dem Pfarrer auseinander, zwischen einem zünftigen, von der Polizei
approbierten Naturspiel und einer ganz unwahrscheinlichen, nie
dagewesenen Mißgeburt, die ohne Paß und Gewerbeschein das Land
unsicher mache und ehrlichen fünfbeinigen Kälbern das Brot vorm Maule
wegstehle. Wenn das erst Sitte würde, daß solche Mondkälber sich ohne
Entrée sehen ließen, so wäre es ja gar nicht mehr der Mühe wert, mit
einem Kopf zu wenig oder ein paar Gliedmaßen zu viel auf der Welt zu
kommen.
Der hitzigste aber war der Dorfschneider, der Bräutigam der schönen
Nanni.
Er hatte sich zwar, als das Ungetüm herantrabte, Hals über Kopf von
der Laube ins Haus geflüchtet und seinen Schatz, der sich nicht
fürchtete, im Stich gelassen. Aber durchs Fenster sah er desto
grimmiger mit an, wie vertraulich das Blitzmädel mit dem hohen Herrn
schäkerte, seine Rosen annahm und ihn wohlgefällig betrachtete,
während er sich ihren Wein schmecken ließ. Was von dem Fremden über
die Brustwehr hervorragte, war wohl dazu angetan, den etwas schief
gedrechselten Schneider im Hinblick auf seine eigene dürftige Person
eifersüchtig zu machen. Zudem hatte ihn die Nanni, als er ihr das
Unanständige ihres Betragens vorwarf, schnippisch genug abgefertigt
und erwidert: sie verbitte sich's, daß er den Fremden einen
unverschämten Kerl, eine nackte Bestie, eine Staatsmähre schimpfe. Er
sei manierlicher und anständiger als manche Menschen, von denen
dreizehn aufs Dutzend gingen, und andere könnten froh sein, wenn sie
sich weniger zu schämen brauchten, sich nackt zu zeigen.--Das stieß
dem Faß den Boden aus. Zwar dem Mädel gegenüber hüllte sich der
Beleidigte in ein naserümpfendes Stillschweigen, ließ aber sein
Mundwerk desto zügelloser laufen gegenüber dem Herrn Pfarrer, dem er
seine Not klagte: die neue Mode, die der Unbekannte eingeführt, müsse
das ganze Schneiderhandwerk ruinieren und überdies alle Begriffe von
Anstand und guter Sitte über den Haufen werfen.
Von diesen Kabalen wußten wir natürlich nichts, sondern ließen uns
durch die wachsende Vertraulichkeit die übrigen Kirchweihgäste immer
mehr in die fröhlichste Feststimmung einwiegen. Der reichlich
genossene Wein tat das Übrige, und so wenig meinem neuen Duzbruder das
Volk um uns her in den hohen Hüten und Hauben, mit schwerfälligen
Stiefeln, kurzen Jacken und vielfältigen Röcken gefiel, war er doch
wohlgesittet genug, sich's nicht merken zu lassen und keinen
zurückzuweisen, der ihm das volle Glas hinaufreichte. Nachgerade aber
stieg ihm der Spuk zu Kopfe, seine Augen fingen an zu glänzen, er ließ
einige Naturlaute hören, die zwischen dem landüblichen Juhschreien und
gewöhnlichem Pferdegewieher die Mitte hielten, und als jetzt die
Musikanten, die lange pausiert hatten, frisch zu einem Schleifer
einsetzten, langte unser Freund, ohne ein Wort zu sagen, mit beiden
Armen über die Brüstung, umfaßte die schöne Nanni, und setzte sie mit
einem leichten Schwunge sich auf den Rücken, indem er sie durch
Zeichen anwies, sich in seiner wallenden Mähne festzuhalten. Dann
begann er nach dem Takte der Musik sehr zierlich sich in Bewegung zu
setzen und in dem engen Raume zwischen Tischen und Bänken in den
gewandtesten Courbetten seine Kunst zu zeigen, während die muntere
Dirne, ihre Arme fest um seinen Menschenleib geschlungen, dann und
wann mit der Ferse ihres kleinen Schuhes ihm in die Seite stieß, um
ihn zu einem rascheren Tempo anzufeuern.
Das Schauspiel sah sich so allerliebst mit an, daß alle anderen Tänzer
mit ihren Dirnen herauskamen und sich, um zuzuschauen, in einem
dichten Kreis um das Paar herumstellten. Ich ärgerte mich nur, daß
ich mein Skizzenbuch vergessen hatte und nirgends einen Fetzen Papier
auftreiben konnte. So mußte ich mich begnügen, mit den Augen zu
studieren, und wahrhaftig, ich konnte mich nicht satt sehen an den
hundert wechselnden Wendungen und Gruppierungen, wie sie der immer
übermütiger und wilder herumwirbelnde Tanz an mir vorübergaukeln ließ.
Als es aber etwa eine Viertelstunde gedauert hatte, nahm die
Herrlichkeit plötzlich ein Ende mit Schrecken. Zufällig sah ich
einmal über den Hof hinaus ins Tal hinunter und bemerkte eine
bedenkliche Kavalkade, die sich auf der Straße vom Tal herauf dem Dorf
näherte: ein halb Dutzend reitender Landgendarmen und mitten unter
ihnen, mit eifrigen Gebärden nach der Schenke hinaufdeutend, zwei
Zivilisten auf kleinen Bauernkleppern, in denen ich, als sie näher
kamen, die beiden verbissenen Kabalenmacher, den Italiener und den
Dorfschneider, erkannte. Ich rief meinem Freunde und Duzbruder in
You have read 1 text from German literature.
Next - Der letzte Zentaur - 3
  • Parts
  • Der letzte Zentaur - 1
    Total number of words is 4370
    Total number of unique words is 1731
    36.8 of words are in the 2000 most common words
    49.1 of words are in the 5000 most common words
    55.5 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
  • Der letzte Zentaur - 2
    Total number of words is 4316
    Total number of unique words is 1786
    33.3 of words are in the 2000 most common words
    44.5 of words are in the 5000 most common words
    49.4 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
  • Der letzte Zentaur - 3
    Total number of words is 1338
    Total number of unique words is 688
    47.1 of words are in the 2000 most common words
    56.5 of words are in the 5000 most common words
    61.5 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.