Der Ketzer von Soana - 6

Total number of words is 4245
Total number of unique words is 1670
36.3 of words are in the 2000 most common words
49.1 of words are in the 5000 most common words
54.7 of words are in the 8000 most common words
Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
* * * * *
»Warum bist du heut nicht zur Kirche gekommen?« Francesco tat diese
Frage, sich erhebend, in einem Ton und mit einem Ausdruck seines
bleichen Gesichts, den man als einen zornigen deuten mußte, obgleich
er eine andere Erregung des Gemütes als Ursache hatte. Sei es, weil er
diese Erregung verstecken wollte, oder aus Verlegenheit, ja
Hilflosigkeit, oder weil wirklich der Seelsorger in ihm in Entrüstung
geriet: der Zorn nahm zu und trat in einer Weise hervor, der den
Hirten befremdet aufblicken machte, dem Mädchen aber nacheinander die
Röte und Blässe der Bestürzung und Scham ins Antlitz trieb.
Aber während Francesco sprach und mit Worten strafte -- Worten, die
ihm geläufig waren, ohne daß seine Seele in ihnen zu sein brauchte,
war es in seinem Inneren still, und während die Adern seiner
alabasternen Stirn aufschwollen, empfand er die Wonnen einer Erlösung.
Die noch eben empfundene, tiefste Lebensnot war in Reichtum
verwandelt, der marternde Hunger in Sättigung, die noch eben
verfluchte, infernalische Welt troff jetzt vom Glanze des Paradieses.
Und indem sich die Wollust seines Zornes stärker und stärker ergoß,
wurde sie selber stärker und stärker. Er hatte den verzweifelten
Zustand nicht vergessen, in dem er soeben gewesen war, aber es
jubilierte in ihm, und er mußte ihn segnen und wieder segnen. Dieser
Zustand war ja die Brücke gewesen zur Seligkeit. So weit war Francesco
allbereits in die magischen Kreise der Liebe hineingeraten, daß die
bloße Gegenwart des geliebten Gegenstandes jenen Genuß mit sich
brachte, der mit Glück betäubt und an eine noch so nahe Entbehrung
nicht denken läßt.
Bei alledem fühlte der junge Priester und verbarg sich nicht mehr,
welche Veränderung mit ihm vorgegangen war. Der wahre Zustand seines
Wesens war gleichsam nackt hervorgetreten. Die tolle Jagd, die er
hinter sich hatte, er wußte es wohl, war von der Kirche nicht
vorgezeichnet und außerhalb des geheiligten Wegenetzes, das seinem
Wirken deutlich und streng gezogen war. Zum erstenmale geriet nicht
nur sein Fuß, sondern auch seine Seele in die Weglosigkeit und es kam
ihm vor, als wenn er nicht so als Mensch, sondern eher als ein
fallender Stein, ein fallender Tropfen, ein vom Sturme getriebenes
Blatt, an die Stelle, auf der er nun stand, gelangt wäre.
Jedes seiner zornigen Worte belehrte Francesco, daß er seiner selbst
nicht mehr mächtig war, hingegen aber gezwungen wurde, um jeden Preis
Gewalt über Agata zu suchen und auszuüben. Er nahm sie mit Worten in
Besitz. Je mehr er sie demütigte, desto voller tönten in ihm die
Harfen der Seligkeit. Jeder Schmerz, den er ihr strafend zufügte,
weckte einen Taumel in ihm: es fehlte nicht viel, ja, wäre der Hirte
nicht zugegen gewesen, Francesco wäre, in einem solchen Taumel, der
letzten Beherrschung seiner selbst verlustig gegangen und hätte, dem
Mädchen zu Füßen fallend, den echten Schlag seines Herzens verraten.
Agata hatte bis diesen Tag, trotzdem sie in dem verrufenen Anwesen
groß geworden war, den Unschuldstand einer Blume bewahrt. Ebensowenig,
als der Bergenzian waren ihre, diesem gleichenden, blauen Augensterne
jemals im Tale, unten am See gesehen worden. Sie hatte den engsten
Erfahrungskreis. Doch, obgleich der Priester für sie eigentlich gar
kein Mensch, viel eher ein Ding zwischen Gott und Mensch, eine Art
fremder Zauberer war, erriet sie doch plötzlich, und bekundete es
durch einen erstaunten Blick, was Francesco verbergen wollte.
Die Kinder hatten den Ziegenbock, über Geröll empor, davongeführt.
Dem Holzknecht war in Gegenwart des Priesters nicht wohl geworden.
Er nahm den Topf vom Feuer und kletterte damit unter vielen Mühen
wahrscheinlich zu einem Kameraden hinauf, der Lasten Reisig an einem
unendlich langen Draht über einen Abgrund zur Tiefe hinab beförderte.
Mit einem schleifenden Geräusch zog jeweilen solch ein dunkles Bündel
längs der Felsbastionen dahin, einem braunen Bären oder dem Schatten
eines Riesenvogels nicht unähnlich. Übrigens schien es zu fliegen, da
der Draht nicht sichtbar war. Als nach einem urkräftigen Jodler, der
von den Zinnen und Bastionen des Generoso widerhallte, der Hirt dem
Gesichtskreis entschwunden war, küßte Agata, gleichsam zerknirscht,
dem Priester den Saum des Gewandes und dann die Hand.
* * * * *
Francesco hatte mechanisch über den Scheitel des Mädchens das Zeichen
des Kreuzes gemacht, wobei seine Finger ihr Haar berührt hatten. Nun
aber ging ein krampfhaftes Zittern durch seinen Arm, als ob ein Etwas
mit letzter Kraft ein anderes Etwas in seiner Gewalt behalten wollte.
Aber das angespannte, hemmende Etwas vermochte doch nicht zu
verhindern, daß die segnende Hand sich langsam spreizte und mit ihrer
Fläche dem Haupte der reuigen Sünderin näher und näher kam und
plötzlich fest und voll darauf ruhte.
Feige sah sich Francesco ringsum. Es lag ihm fern, sich etwa jetzt
noch selbst zu belügen, und die Lage, in der er war, mit den
Obliegenheiten seines heiligen Amtes zu rechtfertigen, dennoch
redete allerlei aus ihm von Beichte und Firmelung. Und die nahezu
ungebändigte, sprungbereite Leidenschaft fürchtete so sehr die
Möglichkeit, bei ihrer Entdeckung Entsetzen und Abscheu zu erregen,
daß auch sie noch einmal feige unter die Maske der Geistlichkeit
flüchtete.
»Du wirst zu mir hinunter in die Schule nach Soana kommen, Agate,«
sagte er. »Dort wirst du lesen und schreiben lernen. Ich will dich ein
Morgen- und ein Abendgebet lehren, ebenso Gottes Gebote, und wie du
die sieben Hauptsünden erkennen und vermeiden kannst. Wöchentlich
wirst du dann bei mir beichten.«
Aber Francesco, der sich nach diesen Worten losgerissen hatte und,
ohne sich umzublicken, bergabwärts gestiegen war, entschloß sich am
nächsten Morgen, nach einer übeldurchwachten Nacht, selbst zur Beichte
zu gehen. Als er einem tabakschnupfenden Erzpriester des nahen
Bergstädtchens, Arogno mit Namen, seine Gewissensnöte, nicht ohne
Versteckensspiel, eröffnete, ward er bereitwilligst absolviert.
Es war eine Selbstverständlichkeit, daß sich der Teufel dem Versuche
des jungen Priesters, verirrte Seelen in den Schoß der Kirche
zurückzuleiten, entgegensetzte, besonders da das Weib für den Mann
immer die nächste Gelegenheit zur Sünde sei. Nachdem Francesco dann
mit dem Arciprete im Pfarrhaus gefrühstückt hatte und bei offenem
Fenster, linder Luft, Sonne und Vogelsang manches offene Wort über den
öfteren Widerstreit menschlicher mit kirchlichen Angelegenheiten
gefallen war, gab sich Francesco der Täuschung hin, ein erleichtertes
Herz davon zu tragen.
Zu dieser Wandlung hatten wohl auch für ihren Teil einige Gläser jenes
schweren, schwarzvioletten Weines beigetragen, den die Bauern Arognos
kelterten und dessen der Pfaff einige Oxhofte voll besaß. Zu dem
Kellergewölbe unter gewaltigen zartbelaubten Kastanien, wo dieser
Reichtum auf Balken lagerte, gab sogar schließlich noch, nach
beendeter Mahlzeit der Priester dem Priester und Beichtkinde das
Geleit, da er gewohnheitsgemäß um diese Zeit für den weiteren
Tagesbedarf seinen mitgenommenen Fiasco zu füllen pflegte.
Kaum aber hatte Francesco seinem Beichtvater auf der blumigen,
windbewegten Wiese vor der eisenbeschlagenen Pforte des Felsgewölbes
Lebewohl gesagt, kaum hatte er, rüstig um eine Biegung des Weges davon
schreitend, hügeliges Land genug, mit Baum und Gebüsch, zwischen sich
und ihn gebracht, als er auch schon einen unerklärlichen Widerwillen
gegen den Trost des Kollegen empfand und die ganze Zeit, die er mit
ihm verbracht hatte.
Dieser schmuddlige Bauer, dessen abgenutzte Soutane und schweißiges
Unterzeug einen widerlichen Geruch verbreitete, dessen schinniger Kopf
und mit eingefressenem Schmutz bedeckte, rauhe Hände bewiesen, daß
Seife für ihn eine fremde Sache war, schien ihm vielmehr ein Tier, ja,
ein Klotz, statt ein Priester Gottes zu sein. Die Geistlichen sind
geweihte Personen, sagte er sich, wie die Kirche lehrt, die durch die
Weihe übernatürliche Würde und Gewalt erhalten haben, so daß selbst
Engel vor ihnen sich neigen. Diesen konnte man nur als eine
Spottgeburt auf das alles bezeichnen. Welche Schmach, die
priesterliche Allmacht in solche Rüpelhände gelegt zu sehen. Da doch
Gott sogar solcher Allmacht unterliege und er durch die Worte: »hoc
est enim meum corpus« unwiderstehlich gezwungen wird, auf den Meßaltar
niederzusteigen.
Francesco haßte ihn, ja, verachtete ihn. Dann wieder empfand er tiefes
Bedauern. Aber endlich kam es ihm vor, als ob sich der stinkende,
häßliche, unflätige Satan in ihn verkleidet hätte. Und er gedachte
solcher Geburten, die mit Hilfe eines incubus oder eines succubus
zustande gekommen sind.
Francesco erstaunte selbst über solche Regungen seines Innern und
über seinen Gedankengang. Sein Wirt und Beichtiger hatte, außer durch
sein Dasein, kaum einen Anlaß dazu gegeben, denn seine Worte, auch
über Tisch, waren durchaus getragen vom Geiste der Wohlanständigkeit.
Aber Francesco schwamm bereits wiederum in einem solchen Gefühl von
Gehobenheit, glaubte eine so himmlische Reinheit zu atmen, daß ihm,
verglichen mit diesem geheiligten Element, das Alltägliche wie im
Stande der Verdammnis festgekettet schien.
* * * * *
Der Tag war gekommen, an dem Francesco die Sünderin von der Alpe zum
erstenmal im Pfarrhause zu Soana erwartete. Er hatte ihr aufgetragen,
die Schelle, unweit der Kirchtür, zu ziehen, durch die man ihn in den
Beichtstuhl rufen konnte. Aber es ging schon gegen die Mittagszeit,
ohne daß die Schelle sich regen wollte, während er, immer zerstreuter
werdend, einige halberwachsene Mädchen und Knaben im Schulzimmer
unterrichtete. Der Wasserfall sandte sein Brausen, jetzt
aufschwellend, jetzt absinkend, durchs offene Fenster herein, und die
Erregung des Priesters wuchs, so oft es sich steigerte. Er war dann
besorgt, womöglich das Läuten der Schelle zu überhören. Die Kinder
befremdete seine Unruhe, seine Geistesabwesenheit. Am wenigsten
entging es den Mädchen, deren irdische, wie himmlische Sinne
schwärmerisch an dem jungen Heiligen sich weideten, daß er mit der
Seele nicht bei der Sache und also auch nicht bei ihnen war. Durch
tiefen Instinkt mit den Regungen seines jugendlichen Wesens verknüpft,
empfanden sie sogar jene Spannung mit, die es augenblicklich
beherrschte.
Kurz vor dem Zwölfuhrglockenschlag entstand Gemurmel von Stimmen auf
dem Dorfplatz, der mit seinen mailich sprossenden Kastanienwipfeln bis
dahin still im Lichte der Sonne lag. Eine Menschenmenge näherte sich.
Man hörte ruhigere, scheinbar protestierende, männliche Kehllaute.
Aber ein unaufhaltsamer Strom von weiblichen Worten, Schreien,
Verwünschungen und Protesten überschwoll mit einemmal jene und dämpfte
sie bis zur Unhörbarkeit. Dann trat eine bange Ruhe ein. Plötzlich
schlugen ans Ohr des Priesters dumpfe Geräusche, deren Ursache im
ersten Augenblick unbegreiflich blieb. Man war im Mai und doch klang
es, als wenn im Herbst ein Kastanienbaum, unter der Wucht eines
Windstoßes, Lasten von Früchten auf einmal abschüttelte. Platzend
trommeln die harten Kastanien auf das Erdreich.
Francesco beugte sich aus dem Fenster.
Er sah mit Entsetzen, was auf der Piazza im Gange war. Er war so
erschrocken, ja, so bestürzt, daß ihn erst der ohrzerreißende,
gellende Laut des Beichtglöckchens zur Besinnung brachte, an dem mit
verzweifelter Hartnäckigkeit gerissen wurde. Und schon war er in die
Kirche und vor die Kirchtür geeilt und hatte das Beichtkind, es war
Agata, vom Zug der Klingel weg und in die Kirche hineingerissen. Dann
trat er vor das Portal hinaus.
Soviel war klar: der Eintritt der Verfemten in den Ort war bemerkt
worden und geschehen, was in diesem Falle gewöhnlich war. Man hatte
versucht, sie mit Steinen, wie jeden räudigen Hund, oder wie man einem
Wolfe getan hätte, aus dem Wohnbereich der Menschen zu jagen. Bald
hatten sich Kinder und Mütter von Kindern zusammengetan und hatten das
ausgestoßene, fluchbringende Wesen gehetzt, ohne sich durch die schöne
Mädchengestalt irgendwie in der Annahme stören zu lassen, ihre
Steinwürfe gälten einem gefährlichen Tier, einem Ungeheuer, das Pest
und Verderben verbreite. Indessen hatte Agata, des priesterlichen
Schutzes gewiß, sich von ihrem Ziel nicht abbringen lassen. So war das
entschlossene Mädchen, verfolgt und gehetzt, vor der Kirchtür
angelangt, die jetzt noch von einigen geworfenen Steinen aus
Kinderhänden getroffen wurde.
Der Priester hatte nicht nötig, die aufgeregten Gemeindeglieder durch
eine Strafpredigt zur Besinnung zu bringen: sie verflüchtigten sich,
sobald sie ihn sahen.
In der Kirche hatte Francesco der hochatmenden, stummen Verfolgten
durch einen Wink bedeutet, mit ihm ins Pfarrhaus zu gehn. Auch er war
erregt, und so hörten sich beide stoßweise atmen. Auf einem engen
Treppchen des Pfarrhäuschens, zwischen weißgetünchten Mauern, stand
die bestürzte, doch schon wieder ein wenig beruhigte Schaffnerin, um
das gehetzte Wild zu empfangen. Man merkte ihr an, daß sie bereit zu
helfen war, wenn es irgendwie not täte. Erst beim Anblick der alten
Frau schien Agata sich des Demütigenden ihres augenblicklichen
Zustands bewußt zu werden. Vom Lachen zum Zorn, vom Zorn zum Lachen
übergehend, stieß sie starke Verwünschungen aus, und gab so dem
Priester Gelegenheit, zum erstenmal ihre Stimme zu hören, die, wie ihm
vorkam, voll, sonor und heroisch klang. Ihr war nicht bekannt, weshalb
sie verfolgt wurde. Sie sah das Städtchen Soana etwa wie ein Nest von
Erdwespen oder einen Ameisenhaufen an. So wütend und entrüstet sie
war, kam es ihr doch nicht in den Sinn, über die Ursache einer so
gefährlichen Bösartigkeit nachzudenken. Kannte sie doch diesen
Zustand von Kindheit an und nahm ihn für einen nur natürlichen.
Allein man wehrt sich auch gegen Wespen und Ameisen. Mögen es Tiere
sein, die uns angreifen, wir werden durch sie, je nachdem, zum Haß,
zur Wut, zur Verzweiflung empört und entladen die Brust, wiederum
jenachdem, durch Drohungen, Tränen oder durch Regungen tiefster
Verachtung. So tat auch Agata, während ihr nun die Haushälterin die
ärmlichen Lumpen zurecht zupfte, sie selber aber den staunenerregenden
Schwall ihres rost- bis ockerfarbenen Haares, das sich im hastigen
Lauf gelöst hatte, aufsteckte.
Wie nie zuvor, litt der junge Francesco in diesem Augenblick unter dem
Zwang seiner Leidenschaft. Die Nähe des Weibes, das, wie eine wilde,
köstliche Frucht, in der Bergödenei zur Reife gediehen war, die
berauschende Glut, die ihr erhitzter Körper ausströmte, der Umstand,
daß die bis dahin ferne Unerreichliche jetzt die Enge der eigenen
Wohnung umschloß, alles das brachte zuwege, daß Francesco die Fäuste
ballen, die Muskeln spannen, die Zähne zusammenbeißen mußte, um nur in
einer Verfassung aufrecht zu bleiben, die ihm das Hirn sekundenlang
völlig verfinsterte. Wurde es hell, so war ein ungeheurer Aufruhr von
Bildern, Gedanken und Gefühlen in ihm: Landschaften, Menschen,
fernste Erinnerungen, lebendige Augenblicke der familiären und
beruflichen Vergangenheit vermählten sich mit Vorstellungen der
Gegenwart. Gleichsam fliehend von diesen, stieg süß und schrecklich
eine unentrinnbare Zukunft empor, der er sich ganz verfallen wußte.
Gedanken zuckten über dies Bilderchaos der Seele hin, unzählbar,
ruhelos, aber ohnmächtig. Der bewußte Wille, erkannte Francesco, war
in seiner Seele entthront, und ein anderer herrschte, dem nicht zu
widerstehen war. Mit Grauen gestand sich der Jüngling, ihm war er auf
Gnade und Ungnade ausgeliefert. Diese Verfassung glich der
Besessenheit. Aber wenn ihn die Angst vor dem unvermeidlichen Sturz in
das Verbrechen der Todsünde überkam, so hätte er gleichzeitig vor
unbändigster Freude aufbrüllen mögen. Sein hungriger Blick sah mit
niegekannter, staunender Sättigung. Mehr: Hunger war hier Sättigung,
Sättigung Hunger. Ihm schoß der verruchte Gedanke durch den Kopf, hier
allein sei seine unvergängliche, göttliche Speise, mit der das
Sakrament gläubige Christenseelen himmlisch nährt. Seine Empfindungen
waren abgöttisch. Er erklärte seinen Oheim in Ligornetto für einen
schlechten Bildhauer. Und warum hatte er nicht lieber gemalt?
Vielleicht konnte er selbst noch Maler werden. Er dachte an Bernardino
Luini und sein großes Gemälde in der alten Klosterkirche des nahen
Lugano und an die köstlichen, blonden, heiligen Frauen, die sein
Pinsel dort geschaffen hat. Aber sie waren ja nichts, verglichen mit
dieser heißen, lebendigsten Wirklichkeit.
Francesco wußte nun nicht sofort, was er beginnen sollte. Eine
warnende Empfindung veranlaßte ihn zunächst, die Nähe des Mädchens zu
fliehen. Allerlei Gründe, nicht alle gleich lauter, bewogen ihn,
sogleich den Sindaco aufzusuchen und, ehe es andere tun konnten, von
dem Geschehnis zu verständigen. Der Sindaco hörte ihn ruhig an,
Francesco hatte ihn glücklicherweise zu Hause getroffen, und nahm in
der Sache den Standpunkt des Priesters ein. Es war nur christlich und
gut katholisch, die Mißwirtschaft auf der Alpe nicht einfach laufen zu
lassen und sich des in Sünde und Schande verstrickten, verrufenen
Volkes anzunehmen. Was aber die Dorfbewohner und ihr Verhalten betraf,
so versprach er dagegen strenge Maßregeln.
Als der junge Priester gegangen war, sagte die hübsche Frau des
Sindaco, die eine stille, schweigsame Art zu betrachten hatte:
»Dieser junge Priester könnte es wohl bis zum Kardinal, ja, zum Papst
bringen. Ich glaube, er zehrt sich ab mit Fasten, Beten und
Nachtwachen. Aber der Teufel ist gerade hinter den Heiligen mit
seinen höllischen Künsten her und mit den verborgensten Schlichen und
Listen. Möge der junge Mann, durch Gottes Beistand, vor ihnen immer
behütet sein.«
Viele begehrliche und auch böse Weiberaugen verfolgten Francesco, als
er, mit so wenig wie möglich beschleunigtem Schritt, zurück zur Pfarre
ging. Man wußte, wo er gewesen war, und war entschlossen, sich diese
Pest von Soana nur mit Gewalt aufdrängen zu lassen. Aufrecht schreitende
Mädchen, die, Holz auf dem Kopf tragend, ihm auf dem Platze nahe dem
Marmorsarkophage begegneten, hatten ihn zwar mit unterwürfigem Lächeln
gegrüßt, sich aber hernach schnöde angesehen. Wie im Fieber schritt
Francesco dahin. Er hörte das Durcheinanderschmettern der Vögel, das
schwellende und verhaltene Rauschen des ewigen Wasserfalls: aber es war
ihm, als ob er die Füße nicht auf dem Boden hätte, sondern steuerlos in
einem Wirbel von Lauten und Bildern vorwärts gerissen würde. Plötzlich
fand er sich in der Sakristei seiner Kirche, dann im Schiff vor dem
Hauptaltar, als er kniend die Jungfrau Maria um Beistand in den Stürmen
seines Innern anflehte.
Allein seine Bitten waren nicht in dem Sinne gemeint, daß sie ihn von
Agata befreien sollte. Ein solcher Wunsch hätte in seiner Seele keine
Nahrung gehabt. Sie waren vielmehr ein Flehen um Gnade. Die Mutter
Gottes sollte verstehen, vergeben, womöglich billigen. Jäh unterbrach
Francesco das Gebet und ward vom Altar fortgerissen, als ihm von
ungefähr der Gedanke, Agata könne davongegangen sein, ins Bewußtsein
schoß. Er fand das Mädchen indessen noch, und Petronilla leistete ihr
Gesellschaft.
»Ich habe alles ins Reine gebracht,« sagte Francesco. »Der Weg zur
Kirche und zum Priester ist frei für jedermann. Traue auf mich, das
Geschehene wird sich nicht wiederholen.« Ihn überkam eine Festigkeit
und Sicherheit, als ob er nun wieder auf rechtem Pfad und auf gutem
Grund stünde. Petronilla wurde mit einem wichtigen, kirchlichen
Aktenstück auf die Nachbarpfarre geschickt. Der Gang war leider
unaufschiebbar. Im übrigen möge die Wirtschafterin dem Pfarrer über
den Vorfall berichten. »Triffst du Leute, so sage ihnen,« betonte er
noch, »daß Agata von der Alpe oben hier bei mir im Pfarrhaus ist und
in den Lehren unsrer Religion, unsres geheiligten Glaubens von mir
unterrichtet wird. Sie mögen nur kommen und es verhindern und sich die
Strafe der ewigen Verdammnis aufs Haupt ziehen. Sie mögen nur einen
Auflauf vor der Kirche machen, um ihre Mitchristin zu mißhandeln. Die
Steine werden nicht sie, sondern mich treffen. Ich werde ihr mit
Einbruch der Dunkelheit, und sei es auch bis zur Alpe hinauf, selbst
das Geleit geben.«
* * * * *
Als die Haushälterin gegangen war, trat eine längere Stille ein. Das
Mädchen hatte die Hände in den Schoß gelegt und saß noch auf dem
gleichen, scheinbar zerbrechlichen Stuhl, den Petronilla für sie an
die weißgetünchte Wand gerückt hatte. In Agatas Augen zuckte es noch,
und die erlittene Kränkung spiegelte sich in Blitzen der Entrüstung
und heimlichen Wut, aber ihr volles Madonnengesicht hatte mehr und
mehr einen hilflosen Ausdruck angenommen, bis endlich ein stiller,
ergiebiger Strom seine Wangen badete. Francesco, ihr den Rücken
kehrend, hatte mittlerweile zum offenen Fenster hinausgeblickt.
Während er seine Augen über die gigantischen Bergwände des Soanatales,
von der schicksalsträchtigen Alpe an bis zum Seeufer, gleiten ließ
und, mit dem ewigen Summen des Falles, Gesang einer einzelnen,
schmelzenden Knabenstimme aus den üppigen Rebenterrassen drang, mußte
er zögern zu glauben, daß er nun wirklich die Erfüllung seiner
überirdischen Wünsche in der Hand hatte. Würde Agata, wenn er sich
wendete, noch vorhanden sein? Und war sie zugegen, was würde
geschehen, wenn er sich wendete? Müßte diese Wendung nicht
entscheidend für sein ganzes irdisches Dasein, ja, darüber hinaus
entscheidend sein? Diese Fragen und Zweifel bewogen den Priester, die
eingenommene Stellung solange, wie möglich innezuhalten, um noch
einmal vor der Entscheidung mit sich ins Gericht oder doch wenigstens
zu Rate zu gehen. Es handelte sich dabei um Sekunden, nicht um
Minuten: doch in diesen Sekunden wurde ihm nicht nur, vom ersten
Besuche Luchino Scarabotas an, die ganze Geschichte seiner
Verstrickung, sondern sein ganzes bewußtes Leben unmittelbar
Gegenwart. In diesen Sekunden breitete sich eine ganze gewaltige
Vision des jüngsten Gerichtes mit Vater, Sohn und heiligem Geist am
Himmel, über der Gipfelkante des Generoso aus und schreckte mit dem
Gedröhn der Posaunen. Den einen Fuß auf dem Generoso, den andern auf
einem Gipfel jenseit des Sees stand, in der Linken die Wage, in der
Rechten das bloße Schwert, furchtbar drohend, der Erzengel Michael,
während sich hinter der Alpe von Soana der scheußliche Satan mit
Hörnern und Klauen niedergelassen hatte. Fast überall aber, wo der
Blick des Priesters hinirrte, stand eine schwarzgekleidete,
schwarzverschleierte, händeringende Frau, die niemand anderes, als
seine verzweifelte Mutter war.
Francesco hielt sich die Augen zu und preßte dann beide Hände gegen
die Schläfen. Wie er sich dann langsam herumwandte, sah er das in
Tränen schwimmende Mädchen, dessen purpurner Mund schmerzlich
zitterte, lange mit einem Ausdruck des Grauens an. Agata erschrak.
Sein Gesicht war entstellt, wie wenn es der Finger des Todes berührt
hätte. Wortlos wankte er auf sie zu. Und mit einem Röcheln, wie das
eines von unentrinnbarer Macht Besiegten, das zugleich ein wildes,
lebensbrünstiges Stöhnen und Röcheln um Gnade war, sank er zerbrochen
vor ihr ins Knie und rang gegen sie die gefalteten Hände.
Francesco würde seiner Leidenschaft vielleicht noch lange nicht in
solchem Grade unterlegen sein, wenn nicht das Verbrechen der
Dorfbewohner an Agata ihr ein namenloses, heißes, menschliches
Mitgefühl beigemischt hätte. Er erkannte, was diesem von Gott mit
aphrodisischer Schönheit begabten Geschöpf in seinem fernen Leben und
in der Welt ohne Beschützer bevorstehen mußte. Er war durch die
Umstände heute zu ihrem Beschützer gemacht worden, der sie vielleicht
vom Tode durch Steinigung errettet hatte. Er hatte dadurch ein
persönliches Anrecht auf sie erlangt. Ein Gedanke, der ihm nicht
deutlich war, aber doch sein Handeln beeinflußte: unbewußt wirkend,
räumte er allerlei Hemmungen, Scheu und Furchtsamkeit hinweg. Und er
sah in seinem Geist keine Möglichkeit, seine Hand je wieder von der
Verfemten abzuziehen. Er würde an ihrer Seite stehen und stünde die
Welt und Gott auf der anderen. Solche Erwägungen, solche Strömungen
verbanden sich, wie gesagt, unerwartet mit dem Strome der
Leidenschaft, und so trat dieser aus den Ufern.
Vorerst war sein Verhalten indessen noch nicht die Abkehr vom Rechten
und die Folge eines Entschlusses, zu sündigen: es war nur ein Zustand
der Ohnmacht, der Hilflosigkeit. Warum er das tat, was er tat, hätte
er nicht zu sagen gewußt. In Wahrheit tat er eigentlich nichts. Es
geschah nur etwas mit ihm. Und Agata, die nun eigentlich hätte
erschrecken müssen, tat dies nicht, sondern schien vergessen zu haben,
daß Francesco ein ihr fremder Mann und ein Priester war. Er schien auf
einmal ihr Bruder geworden. Und während ihr Weinen zum Schluchzen sich
steigerte, ließ sie es nicht nur zu, daß der nun auch von trocknem
Schluchzen Geschüttelte sie, wie zum Troste, umfing, sondern sie
senkte ihr überströmtes Gesicht und verbarg es an seiner Brust.
Nun war sie zum Kinde geworden und er zum Vater, insoweit, als er sie
in ihrem Leid zu beruhigen trachtete. Allein er hatte nie den Körper
eines Weibes so nahe gefühlt, und seine Liebkosungen, seine
Zärtlichkeiten waren bald mehr, als väterlich. Deutlich empfand er
zwar, wie in dem schluchzenden Weh des Mädchens etwas, wie ein
Bekenntnis lag. Sie wußte, das erkannte er, welcher häßlichen Liebe
sie ihr Dasein verdanke und schwamm darüber mit ihm im gleichen Leid.
Ihre Not, ihre Schmerzen trug er mit ihr. So waren ihre Seelen
geeinigt. Allein er hob bald ihr süßes Madonnengesicht zu dem seinen,
indem er sie um den Nacken faßte und an sich zog, mit der Rechten die
weiße Stirn zurückbiegend, und indem er daran, was er so gefesselt
hielt, lange, mit dem Feuer des Wahnsinns im Auge, gierige Blicke
weidete, schoß er plötzlich, wie ein Falke, auf ihren heißen, von
Tränen salzigen Mund herab und blieb untrennbar mit ihm
verschmolzen. -- Nach Augenblicken irdischer Zeit, Ewigkeiten
betäubender Seligkeit, riß Francesco sich plötzlich los und stellte
sich fest auf beide Füße, auf seinen Lippen schmeckte er Blut --:
»Komm,« sagte er, »du kannst nicht allein, ohne Schutz, nach Hause gehn
und also werde ich dich begleiten.«
* * * * *
Ein wechselnder Himmel lag über der Alpenwelt, als Francesco und Agata
aus der Pfarrei schlichen. Sie bogen in einen Wiesenpfad, auf dem sie,
zwischen Maulbeerbäumen, unter Rebenguirlanden hindurch, ungesehen von
Terrasse zu Terrasse abkletterten. Francesco wußte sehr wohl, was
hinter ihm lag und welche Grenze jetzt überschritten war, Reue
vermochte er nicht zu empfinden. Er war verändert, gesteigert,
befreit. Die Nacht war schwül. In der lombardischen Ebene, schien es,
zogen Gewitter umher, deren ferne Blitze fächerförmig hinter der
Riesensilhouette der Berge aufstrahlten. Düfte des gewaltigen
Fliederbusches unter den Fenstern des Pfarrhauses schwammen von dort
mit dem vorüberkommenden, sickernden Wasser des Bachgeäders herab,
vermischt mit kühlen und warmen Luftströmen. Die beiden Berauschten
redeten nicht. Er stützte sie, so oft sie im Dämmer die Mauer zu einer
tiefer gelegten Terrasse abklommen, fing sie auch wohl mit den Armen
auf, wobei ihre Brust an seiner pochte, sein durstiger Mund an ihrem
hing. Sie wußten nicht, wo sie eigentlich hin wollten, denn aus der
Tiefe der Schlucht der Savaglia führte kein Weg zur Alpe hinauf.
Darüber indessen waren sie einig, daß sie den Aufstieg dorthin durch
die Ortschaft vermeiden mußten. Aber es kam auch nicht darauf an,
irgendein äußeres, irgendein fernes Ziel zu erreichen, sondern das
nahe Erreichte auszugenießen.
Wie war doch die Welt bisher so schlackenhaft tot und leer gewesen,
und welche Wandlung hatte sie durchgemacht. Wie hatte sie sich in den
Augen des Priesters, und wie hatte er in ihr sich verwandelt. Getilgt
und entwertet waren alle Dinge in seiner Erinnerung, die ihm bis dahin
alles bedeutet hatten. Vater, Mutter, sowie seine Lehrer waren wie
Gewürm im Staube der alten, verworfenen Welt zurückgeblieben, während
ihm, dem Sohne Gottes, dem neuen Adam, durch den Cherub die Pforte des
Paradieses wieder geöffnet worden war. In diesem Paradies, darin er
nun die ersten, verzückten Schritte tat, herrschte Zeitlosigkeit. Er
You have read 1 text from German literature.
Next - Der Ketzer von Soana - 7
  • Parts
  • Der Ketzer von Soana - 1
    Total number of words is 4202
    Total number of unique words is 1701
    37.4 of words are in the 2000 most common words
    49.5 of words are in the 5000 most common words
    56.0 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
  • Der Ketzer von Soana - 2
    Total number of words is 4106
    Total number of unique words is 1750
    31.8 of words are in the 2000 most common words
    42.0 of words are in the 5000 most common words
    46.9 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
  • Der Ketzer von Soana - 3
    Total number of words is 4251
    Total number of unique words is 1673
    36.3 of words are in the 2000 most common words
    48.9 of words are in the 5000 most common words
    54.1 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
  • Der Ketzer von Soana - 4
    Total number of words is 4213
    Total number of unique words is 1738
    34.5 of words are in the 2000 most common words
    46.3 of words are in the 5000 most common words
    51.3 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
  • Der Ketzer von Soana - 5
    Total number of words is 4177
    Total number of unique words is 1743
    33.5 of words are in the 2000 most common words
    45.1 of words are in the 5000 most common words
    50.7 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
  • Der Ketzer von Soana - 6
    Total number of words is 4245
    Total number of unique words is 1670
    36.3 of words are in the 2000 most common words
    49.1 of words are in the 5000 most common words
    54.7 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
  • Der Ketzer von Soana - 7
    Total number of words is 3976
    Total number of unique words is 1566
    35.1 of words are in the 2000 most common words
    48.5 of words are in the 5000 most common words
    53.8 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.