Der Ketzer von Soana - 4

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ist. Sie hat an leidenschaftlichem Eifer zugenommen. Ich erwache des
Nachts, das Gesicht in Tränen gebadet, und alles löst sich, ob der
verlorenen Seelen da oben, bei mir in schluchzendes Mitleid auf. Doch
wenn ich sage: verlorene Seelen, so ist hier vielleicht der Punkt, wo
mit einem scharfen Schnitt die Lüge von der Wahrheit getrennt werden
muß. Nämlich die sündige Seele Scarabotas und seiner Schwester wird
vor meinem inneren Auge einzig und allein durch das Bild ihrer
Sündenfrucht, das heißt ihrer Tochter, eingenommen.
Ich frage mich nun, ob nicht unerlaubtes Verlangen nach ihr die
Ursache meines scheinbar gottgefälligen Eifers ist, und ob ich recht
tue und nicht Gefahr des ewigen Todes laufe, wenn ich mein scheinbar
gottgefälliges Werk fortsetze.«
Meist sehr ernst, doch einige Male lächelnd, hatte der alte,
welterfahrene Priester die pedantische Beichte des Jünglings angehört.
Dies war Francesco, wie er ihn kannte, mit seinem gewissenhaften,
äußeren und inneren Ordnungssinn und seinem Bedürfnis nach
übersichtlicher Akkuratesse und Sauberkeit. Er sagte: »Francesco,
fürchte dich nicht. Schreite nur weiter deinen Weg, wie du ihn immer
geschritten bist. Es kann dich nicht wundern, wenn sich die
Machenschaften des bösen Feindes gerade dann am mächtigsten und
gefährlichsten zeigen, wenn du daran gehst, ihm seine schon gleichsam
sicheren Opfer wiederum zu entreißen.«
In befreiter Stimmung trat Francesco aus der Pfarrwohnung auf die
Straße des kleinen Ortes Ligornetto heraus, in dem er seine erste
Jugend verlebt hatte. Es ist ein Dörfchen, das, auf breiter Talsohle
ziemlich flach gelegen, von fruchtbaren Feldern umgeben ist, auf dem
über Gemüse und Halmen-Früchten sich die Weinrebe, festgedrehten
dunklen Strängen gleich, von Maulbeerbaum zu Maulbeerbaum herüber und
hinüber schlingt. Auch diese Lage wird von den gewaltigen Schroffen
des Monte Generoso beherrscht, der hier, in seiner Westseite, von
seinen breiten Fundamenten aus majestätisch sichtbar wird.
Es war um die Mittagszeit, und Ligornetto befand sich, wie es schien,
in einem Zustand der Verschlafenheit. Francesco wurde auf seinem Gange
kaum von einigen gackernden Hühnern, einigen spielenden Kindern und am
Ende des Dorfes von einem kläffenden Hündchen begrüßt. Hier, nämlich
am Ende des Dorfes, war, wie ein Riegel, das mit den Mitteln eines
vermögenden Mannes errichtete Wohnhaus seines Oheims vorgeschoben, das
buen retiro jenes Vincenzo, des Bildhauers, das nun unbewohnt und als
eine Art Gedächtnisstiftung in den Besitz des Kantons Tessin
übergegangen war. Francesco schritt die Stufen zu dem verlassenen und
verwilderten Garten hinauf und gab alsdann dem plötzlich entstandenen
Wunsche nach, auch einmal das Innere des Hauses wiederzusehen. Nahe
wohnende Bauersleute, alte Bekannte, händigten ihm den Schlüssel aus.
Die Beziehungen, die der junge Priester zur Kunst hatte, waren die bei
seinem Stande herkömmlichen. Sein berühmter Oheim war seit etwa zehn
Jahren tot und nach dem Tage der Bestattung hatte Francesco die Räume
des berühmten Künstlerheims nicht wieder gesehen. Er hätte nicht sagen
können, was ihn auf einmal zum Besuche des leeren Hauses bewog, das er
bisher meist nur mit flüchtiger Anteilnahme im Vorübergehen betrachtet
hatte. Der Oheim war ihm niemals mehr, als eine Respektsperson, deren
Wirkungskreis ihm eine fremde, nichts bedeutende Sache war.
Als Francesco den Schlüssel im Schloß gewendet und durch die in
verrosteten Angeln knarrende Tür den Hausflur betrat, kam ihn ein
leiser Schauder an vor der verstaubten Stille, die ihm den
Treppenaufgang herab und von allenthalben aus den offenstehenden
Zimmern entgegen hauchte. Gleich rechts vom Hausflur war des
verstorbenen Künstlers Bibliothek, die sogleich erkennen ließ, daß
hier ein bildungseifriger Mann gelebt hatte. In niedrigen Schränken
fanden sich hier, außer Vasari, die sämtlichen Werke von Winckelmann,
während der italienische Parnaß durch die Sonette von Michelangelo,
durch Dante, Petrarca, Tasso, Ariost und andere vertreten war. In
eigens gebauten Schränken war eine Sammlung von Handzeichnungen und
Radierungen untergebracht, eine andere von Medaillen der Renaissance
und allerlei wertvolle Seltenheiten, darunter bemalte, etruskische
Tonvasen, und einige andere Antiken aus Bronze und Marmor waren im
Zimmer aufgestellt. Da und dort hing ein besonders schönes Blatt von
Lionardo und Michelangelo eingerahmt an der Wand, das etwa einen
männlichen oder weiblichen Körper nackt darstellte. Das folgende
kleine Kabinett war sogar beinahe von oben bis unten an dreien seiner
Wände mit solchen Objekten angefüllt.
Von da aus trat man in einen Kuppelsaal, dessen Höhe durch mehrere
Stockwerke reichte und der von oben sein Licht empfing. Hier hatte
Vincenzo mit Modellierholz und Meißel gearbeitet, und die Gipsabgüsse
seiner besten Schöpfungen füllten in einer gedrängten und stummen
Versammlung diesen beinahe kirchlichen Raum.
Beengt, ja, beängstigt und vor dem Hall seiner eignen Schritte
erschreckend, gleichsam mit bösem Gewissen war Francesco bis hierher
gelangt und ging nun daran, eigentlich zum erstenmal dieses und jenes
Werk des Oheims zu betrachten. Da war neben einer Statue Michelangelos
Ghiberti zu sehen. Ein Dante war da, Werke, die mit Punktierungszeichen
überdeckt waren, da man die Modelle vergrößert in Marmor ausgeführt
hatte. Aber diese weltberühmten Gestalten konnten die Aufmerksamkeit des
jungen Priesters nicht lange festhalten. Neben ihnen waren die Statuen
dreier junger Mädchen aufgestellt, der Töchter eines Marchese, der
vorurteilsfrei genug gewesen war, sie durch den Meister in völlig
unbekleidetem Zustande porträtieren zu lassen. Dem Ansehen nach war die
jüngste der jungen Damen nicht über zwölf, die zweite nicht über
fünfzehn, die dritte nicht über siebzehn Jahr. Francesco erwachte erst,
nachdem er die schlanken Körper lange selbstvergessen betrachtet hatte.
Diese Arbeiten trugen ihre Nacktheit nicht, wie die der Griechen, als
natürlichen Adel und Ebenbild der Gottheit zur Schau, sondern man
empfand sie als Indiskretion aus dem Alkoven. Erstlich war die Kopie der
Urbilder von diesen nicht losgelöst und als solche durchaus erkenntlich
geblieben: und diese Urbilder schienen zu sagen: wir sind unanständig
entblößt und gegen unseren Willen und unser Schamgefühl durch brutalen
Machtspruch entkleidet worden. Als Francesco aus seiner Versenkung
erwachte, pochte sein Herz, und er blickte furchtsam nach allen Seiten.
Er tat nichts Schlimmes, aber er empfand es bereits als Sünde, mit
solchen Gebilden allein zu sein.
Er beschloß, um nicht noch am Ende ertappt zu werden, so schnell als
möglich davon zu gehen. Als er jedoch die Haustür wieder erreicht
hatte, klinkte er, statt sich zu entfernen, den Türgriff von innen ins
Schloß und drehte dazu noch den Schlüssel herum, so daß er nun in dem
gespenstischen Hause des Toten eingesperrt, von niemand mehr
überrascht werden konnte. Nachdem dies geschehen war, begab er sich
vor das gipserne Ärgernis der drei Grazien zurück.
Hier kam ihn alsbald, indem sein Herzklopfen stärker wurde, ein
bleicher und scheuer Wahnwitz an. Er empfand den Zwang, der ältesten
unter den Marchesinnen, als wäre sie lebend, über das Haar zu
streicheln. Obgleich diese Handlung offenkundig und seinem eigenen
Urteil nach an Wahnsinn streifte, war sie doch noch einigermaßen
priesterlich. Aber die zweite Marchesina mußte sich bereits ein
Streicheln über Schulter und Arm gefallen lassen: eine volle Schulter
und einen vollen Arm, der in eine weiche und zärtliche Hand endigte.
Bald war Francesco an der dritten, der jüngsten Marchesina, durch
weitergehende Zärtlichkeit und schließlich durch einen scheuen
verbrecherischen Kuß unter die linke Brust zum fassungslos verwirrten
und zerknirschten Sünder geworden, dem nicht besser zumute war, als
jenem Adam, der die Stimme des Herrn vernahm, nachdem er vom Apfel der
Erkenntnis gekostet hatte. Er floh. Er lief, wie gehetzt, davon.
* * * * *
Die folgenden Tage verbrachte Francesco teils in den Kirchen mit
Gebet, teils in seiner Pfarrwohnung mit Kasteiungen. Seine
Zerknirschung und seine Reue war groß. Bei einer Inbrunst der Andacht,
wie er sie bisher nicht gekannt hatte, durfte er hoffen, am Schlusse
über die Anfechtungen des Fleisches Sieger zu sein. Immerhin war der
Kampf des guten und bösen Prinzips in seiner Brust mit ungeahnter
Furchtbarkeit losgebrochen, so daß es ihm schien, als ob Gott und der
Teufel zum erstenmal ihren Kampfplatz in seine Brust verlegt hätten.
Auch der eigentlich unverantwortliche Teil seines Daseins, der Schlaf,
bot dem jungen Klerikus keinen Frieden mehr; denn gerade diese
unbewachte, nachtschlafene Zeit schien dem Satan besonders willkommen,
verführerische und verderbliche Gaukeleien in der sonst so
unschuldsvollen Seele des Jünglings anzurichten. Eines Nachts, am
Morgen, er wußte nicht, ob es im Schlafen oder im Wachen geschehen
war, sah er im weißen Lichte des Mondes die drei weißen Gestalten der
schönen Töchter des Marchese in sein Zimmer und an sein Bett treten
und bei genauerem Anblick erkannte er, wie jede auf magische Weise mit
dem Bilde der jungen Hirtin auf der Alpe von Santa Croce verschmolzen
war.
Ohne Zweifel war von dem spielzeugartig kleinen Anwesen Scarabotas bis
herunter ins Zimmer des Priesters, in das die Alpe durchs Fenster sah,
eine Verbindung hergestellt, deren Hanf nicht von Engeln gesponnen
wurde. Francesco wußte genug von der himmlischen Hierarchie und ebenso
auch genug von der höllischen, um sofort zu erkennen, wes Geistes Kind
diese Arbeit war. Francesco glaubte an Hexenkunst. Erfahren in manchem
Zweige der scholastischen Wissenschaft, nahm er an, daß böse Dämonen,
um gewisse verderbliche Wirkungen auszuüben, sich den Einfluß der
Gestirne zunutze machen. Er hatte gelernt, hinsichtlich des Körpers
gehöre der Mensch zu den Himmelskörpern, der Verstand stelle ihn den
Engeln gleich, sein Wille sei unter Gott geordnet, aber Gott lasse es
zu, daß gefallene Engel seinen Willen von Gott ablenkten, und das
Reich der Dämonen nehme durch Bündnis mit solchen schon verführten
Menschen zu. Überdies könne ein zeitlicher, körperlicher Affekt, von
den höllischen Geistern ausgenützt, oft die Ursache ewigen Verderbens
eines Menschen sein. Kurz, der junge Priester zitterte bis ins Mark
seiner Knochen und fürchtete sich vor dem giftigen Biß der Diaboli,
vor den Dämonen, die nach Blut riechen, vor der Bestie Behemoth und
ganz besonders vor Asmodeus, dem ausgemachten Dämon der Hurerei.
Er konnte sich zunächst nicht entschließen, bei den verfluchten
Geschwistern die Sünde der Hexenkunst und der Zauberei vorauszusetzen.
Freilich machte er eine Erfahrung, die ihm in arger Weise verdächtig
war. Jeden Tag nahm er mit heiligem Eifer und allen Mitteln der
Religion eine Purifikation seines Inneren vor, um es von dem Bilde des
Hirtenmädchens zu reinigen und immer wieder stand es klarer, fester
und deutlicher da. Was war das für eine Malerei und für eine
unzerstörbare Tafel aus Holz darunter, oder was war es für eine
Leinwand, die man weder durch Wasser, noch Feuer auch nur im
geringsten angreifen konnte.
Wie dieses Bild sich überall vordrängte, ward manchmal Gegenstand
seiner stillen und erstaunten Beobachtung. Er las ein Buch, und wenn
er das weiche Antlitz, umrahmt von dem eigentümlich rötlich erdbraunen
Haar, mit weiten dunklen Augen blickend, auf einer Seite sah, so
blätterte er ein vorangeheftetes Blatt herum, durch das es bedeckt und
versteckt werden sollte. Aber es schlug durch jedes Blatt, als ob
keines vorhanden wäre, wie es sich auch sonst durch Vorhänge, Türen
und Mauer im Hause und ebenso in der Kirche durchsetzte.
Bei solchen Beängstigungen und inneren Zwistigkeiten verging der junge
Priester vor Ungeduld, da der bestimmte Termin für den besonderen
Gottesdienst auf dem Gipfel von Sant Agatha nicht schnell genug
herbeikommen wollte. Er wünschte, so bald wie möglich die übernommene
Pflicht zu tun, weil er dadurch vielleicht das Mädchen den Klauen des
Höllenfürsten entreißen konnte. Er wünschte noch mehr: das Mädchen
wiederzusehen, was er aber am meisten ersehnte, war die Befreiung, die
er bestimmt erhoffte, von seiner martervollen Verzauberung. Francesco
aß wenig, brachte den größten Teil seiner Nächte wachend zu, und
täglich verhärmter und bleicher werdend geriet er bei seiner Gemeinde
noch mehr als bisher in den Geruch einer exemplarischen Frömmigkeit.
Der Morgen war endlich herbeigekommen, an dem der Pfarrer die armen
Sünder in die Kapelle bestellt hatte, die hoch auf dem Zuckerhut von
Sant Agatha gelegen war. Der äußerst beschwerliche Weg dort hinauf
konnte unter zwei Stunden nicht zurückgelegt werden. Francesco trat um
die neunte Stunde, fertig zum Gang, auf den Dorfplatz von Soana
hinaus, heiteren und erfrischten Herzens und die Welt mit neugeborenen
Augen betrachtend. Man näherte sich dem Anfang des Mai, und so hatte
ein Tag begonnen, wie er köstlicher nicht zu denken war, aber der
junge Mensch hatte Tage von gleicher Schönheit schon oft erlebt, ohne
doch die Natur, so wie heut, wie den Garten Eden selbst zu empfinden.
Heute umgab ihn das Paradies.
Frauen und Mädchen standen, wie meistens, um den von klarem Bergwasser
überfließenden Sarkophag herum und begrüßten den Priester mit lauten
Rufen. Etwas in seiner Haltung und in seinen Mienen, dazu die festliche
Frische des jungen Tages hatte den Wäscherinnen Mut gemacht. Die Röcke
zwischen die Beine geklemmt, so daß bei einigen die braunen Waden und
Knie sichtbar waren, standen sie herabgebeugt, mit den kräftigen,
ebenfalls braunen, nackten Armen wacker arbeitend. Francesco trat an
die Gruppe heran. Er fand sich veranlaßt, allerhand freundliche Worte zu
sagen, deren keines in einem Zusammenhange mit seinem geistlichen Amte
stand und die von gutem Wetter, gutem Mut und einem zu hoffenden guten
Weinjahre handelten. Zum erstenmal, wahrscheinlich durch den Besuch im
Hause seines Oheims, des Bildhauers, angeregt, ließ sich der junge
Priester herbei, den Ornamentfries des Sarkophages zu betrachten, der in
einem Bacchantenzuge bestand und hüpfende Satyren, tanzende
Flötenspielerinnen und den von Panthern gezogenen Wagen des Dionysos,
des mit Trauben bekränzten Weingottes, zeigte. Es erschien ihm in diesem
Augenblick nicht sonderbar, daß die Alten die steinerne Hülle des Todes
mit Gestalten überschäumenden Lebens bedeckt hatten. Die Weiber und
Mädchen, unter denen einige von ungewöhnlicher Schönheit waren,
schwatzten und lachten bei dieser Besichtigung in ihn hinein, und
zeitweilig kam es ihm vor, als ob er selbst von berauschten Mänaden
umjauchzt wäre.
Dieser zweite Aufstieg in die Bergnatur war, mit dem ersten
verglichen, wie der eines Menschen mit offenen Augen gegen den eines
anderen gehalten, der blind von Mutterleibe ist. Francesco hatte mit
zwingender Deutlichkeit das Gefühl, er sei plötzlich sehend geworden.
In diesem Sinne erschien ihm die Betrachtung des Sarkophags durchaus
kein Zufall, sondern tief bedeutungsvoll. Wo war der Tote? Lebendiges
Wasser des Lebens füllte den offenen Stein und Totenschrein, und die
ewige Auferstehung war in der Sprache der Alten auf der Fläche des
Marmors verkündet. So verstand sich das Evangelium.
Freilich war dies ein Evangelium, dem wenig mit jenem, was er früher
gelernt und gelehrt hatte, gemeinsam blieb. Es stammte keineswegs von
den Blättern und Lettern eines Buchs, sondern viel eher kam es durch
Gras, Kraut und Blumen aus der Erde gequollen oder mit dem Licht aus
dem Mittelpunkt der Sonne herabgeflossen. Die ganze Natur nahm ein
gleichsam sprechendes Leben an. Die Tote und Stumme ward rege,
vertraulich, offen und mitteilsam. Plötzlich schien sie dem jungen
Priester alles zu sagen, was sie bisher verschwiegen hatte. Er schien
ihr Liebling, ihr Auserwählter, ihr Sohn zu sein, den sie, wie eine
Mutter, in das heilige Geheimnis ihrer Liebe und Mutterschaft
einweihte. Alle Abgründe des Schreckens, alle Ängste seiner
aufgestörten Seele waren nicht mehr. Nichts war von allen
Finsternissen und Bangigkeiten des vermeintlichen höllischen
Sturmlaufs übrig geblieben. Die ganze Natur strömte Güte und Liebe
aus, und Francesco, an Güte und Liebe überreich, konnte ihr Güte und
Liebe zurückgeben.
Sonderbar: indem er mühsam, oft von kantigen Steinen abrutschend,
durch Ginster, Buchen und Brombeer-Dickicht aufwärts kletterte, umgab
ihn der Frühlingsmorgen wie eine glückselige und ebenso gewaltige
Symphonie der Natur, die mehr von der Schöpfung, als von Geschaffenem
redete. Offen gab sich das Mysterium eines dem Tode für immer
enthobenen Schöpfungswerks. Wer diese Symphonie nicht vernahm, so
schien es dem Priester, der betrog sich selbst, wenn er mit dem
Psalmisten »jubilate Deo omnis terra« oder »benedicte coeli domino« zu
lobsingen sich unterfing.
In satter Fülle rauschte der Wasserfall von Soana in seine enge
Schlucht hinunter. Sein Brausen klang voll und schwelgerisch. Seine
Sprache konnte nicht überhört werden. Bald dumpfer, bald heller
herüberschlagend, tönte im ewigen Wandel die Stimme der Sättigung.
Lawinendonner löste sich von des Generoso gigantischer Schattenwand,
und wenn er für Francesco hörbar ward, hatte sich die Lawine selbst,
mit lautlosen Strömen von Schneegeröll, bereits in das Bett der
Savaglia hinabgeschüttet. Wo gab es da irgend etwas in der Natur, das
nicht in der Wandlung des Lebens begriffen und das ohne Seele war:
etwas, darin nicht ein drängender Wille sich betätigte? Wort, Schrift,
Gesang und treibendes Herzblut war überall. Legte die Sonne nicht
wohlig eine warme Hand im Rücken zwischen seine Schultern? Zischten
nicht und bewegten sich nicht die Blätter der Lorbeer- und
Buchen-Dickichte, wenn er im Vorübergehen sie streifte? Quoll nicht
das Wasser überall und zeichnete überall, leise plaudernd, die Faden-
und Knotenschrift seiner Rinnsale? Las nicht er, Francesco Vela, und
lasen nicht die Faserwurzeln von Myriaden kleiner und großer Gewächse
darin, und war es nicht ihr Geheimnis, das in Myriaden von Blumen und
Blütenkelchen sich darstellte? Des Priesters Hand erhob einen winzigen
Stein und fand ihn mit rötlichen Flechten beschlagen: auch hier eine
sprechende, malende, schreibende Wunderwelt, eine formende Form, die
für die überall im Bilde wirkende Bildkraft des Lebens Zeugnis
ablegte.
Und legten nicht die Stimmen der Vögel das gleiche Zeugnis ab, die
sich in unendlich zarten, unsichtbaren Fäden über den Höhlungen des
gewaltigen Felstales netzartig vereinigten? Dieses hörbare Maschennetz
schien sich zuweilen für Francesco in sichtbare Fäden eines silbernen
Glanzes umzuwandeln, die ein innerliches und sprechendes Feuer
flimmern machte. War es nicht in Formen hörbar und sichtbar gemachte
Liebe und offenbartes Glück der Natur? Und war es nicht köstlich, wie
dieses Gespinst, so oft es verwehte oder zerriß, wie mit eilig
fliegenden, unermüdlichen Weberschiffchen immer wieder verbunden
wurde? Wo saßen die kleinen gefiederten Weber? man sah sie nicht, wenn
nicht etwa ein kleiner Vogel stumm und eilig seinen Ort wechselte: die
winzigsten Kehlen strömten diese alles überjubelnde, weithin tragende
Sprache aus.
Wo alles quoll, wo alles pulsierte, sowohl in ihm, als um ihn herum,
wußte Francesco den Platz des Todes nicht auszumitteln. Er berührte
den Stamm eines Kastanienbaums und fühlte, wie er die Nahrungssäfte
durch sich empordrängte. Er trank die Luft wie eine lebendige Seele
ein und wußte zugleich, daß sie es war, der er das Atmen und Lobsingen
seiner eigenen Seele verdankte. Und war sie es nicht allein, die aus
seiner Kehle und Zunge ein sprechendes Werkzeug der Offenbarung
machte? Francesco verzog vor einem wimmelnden, eifrig tätigen
Ameisenhaufen einen Augenblick. Eine winzige, kleine Haselmaus war von
den rätselhaften Tierchen fast ganz von ihrem grazilen Skelett
präpariert worden. Sprach das köstliche, kleine Skelett und die in der
Wärme des Ameisenstaates untergegangene und verschwundene Haselmaus
nicht von der Unzerstörbarkeit des Lebens, und hatte nicht die Natur
in ihrem Bildnerdrang oder Zwang nur die neue Form gesucht? Der
Priester sah, diesmal nicht unter sich, sondern hoch über sich,
wiederum die braunen Fischadler von Sant Agatha. Ihre beschwingten und
gefiederten Körper trugen das Wunder des Bluts, das Wunder des
pulsierenden Herzens in majestätischer Wonne durch den Raum. Aber wer
mochte verkennen, daß die wechselnden Kurven ihres Flugs auf die blaue
Seide des Himmels eine deutliche unverkennbare Schrift zeichneten,
deren Sinn und Schönheit aufs engste mit Leben und Liebe verbunden
war. Francesco war nicht anders zumut, als ob ihn die Vögel zum Lesen
aufforderten. Und wenn sie mit der Bahn ihrer Flüge schrieben, so war
ihnen auch die Kraft des Lesens nicht versagt. Francesco gedachte des
weittragenden Blicks, der diesen geflügelten Fischern beschieden ward.
Und er gedachte der zahllosen Augen der Menschen, der Vögel, der
Säugetiere, der Insekten und Fische, mit denen die Natur sich selbst
erblickt. Mit einem immer tieferen Staunen erkannte er sie in ihrer
unendlichen Mütterlichkeit. Sie sorgte dafür, daß ihren Kindern nichts
im allmütterlichen Bereich ungenossen verborgen blieb: sie waren von
ihr nicht allein mit den Sinnen des Auges, des Ohrs, des Geruches,
des Geschmackes und des Gefühls begabt worden, sondern sie hatte, wie
Francesco fühlte, für die Wandlungen der Äonen noch unzählige, neue
Sinne bereit. Was war das für ein gewaltiges Sehen, Hören, Riechen,
Schmecken und Fühlen in der Welt! -- Und eine weißliche Wolke stand
über den Fischadlern. Sie glich einem strahlenden Lustgezelt. Aber
auch sie verließ ihren Ort und wurde zusehends im lebendigsten Wechsel
umgewandelt.
* * * * *
Es waren tiefe und mystische Kräfte, die dem Priester Francesco den
Star gestochen hatten. Aber die Folie dieses Erlebnisses war der ihn
uneingestandenermaßen beglückende Umstand, daß er vier köstliche
Stunden vor sich sah, die ein Wiedersehen mit dem armen, verfemten
Hirtenmädchen in sich schlossen. Dieses Bewußtsein machte ihn sicher
und reich, als könne die so kostbar erfüllte Zeit nicht vorübergehen.
Dort oben, ja, dort oben, wo die kleine Kapelle stand, über der die
Fischadler kreisten, erwartete ihn, wie er meinte, ein Glück, um das
ihn die Engel beneiden mußten. Er stieg und stieg, und der seligste
Eifer beflügelte ihn. Was er dort oben vorhatte, mußte sicherlich eine
Art von Verklärung über ihn ausgießen und ihn in losgelöster
Himmelsnähe beinahe dem guten ewigen Hirten selbst gleich machen.
»Sursum corda! Sursum corda!« Er sprach den Gruß Francisci immer vor
sich hin, während die heilige Agathe neben ihm schritt, jene
Märtyrerin, der man das Kapellchen hoch oben geweiht hatte und die dem
Tode durch Henkershand wie einem fröhlichen Tanze entgegengegangen
war. Und hinter ihr und ihm, so kam es Francesco im eifrigen Steigen
vor, folgte ein Zug von heiligen Frauen, die alle dem Liebeswunder auf
dem festlichen Gipfel beiwohnen wollten. Maria selbst schritt, mit
köstlich gelöstem, ambrosischen Haar und lieblichen Füßen, weit vor
dem Priester und seiner Prozession der seliggesprochenen Weiber hin,
damit sich unter ihrem Blick, unter ihrem Hauch, unter ihren Sohlen
die Erde festlich für alle mit Blumen bedecke. »Invoco te! invoco te!«
hauchte Francesco in sich verzückt, »invoco te nostra benigna stella!«
Ohne Ermüdung war der Priester auf dem Gipfel des Bergkegels
angelangt, der kaum breiter war, als es der Grundriß des kleinen dort
befindlichen Gotteshauses erforderte. Er gab noch einem schmalen Rande
und einem engen Vorplätzchen Raum, dessen Mitte von einer jungen, noch
blätterlosen Kastanie eingenommen wurde. Ein Stück des Himmels oder
von Mariens blauem Gewand schien um das Wildkirchlein hingestreut, so
hatte der blaue Enzian sich um das Heiligtum ausgebreitet. Oder man
konnte auch meinen, die Spitze des Berges habe sich einfach in den
Azur des Himmels getaucht.
Der Chorknabe und die Geschwister Scarabota waren schon anwesend und
hatten es sich unter der Kastanie bequem gemacht. Francesco
erbleichte, denn seine Blicke waren vergebens, wenn auch nur flüchtig,
nach der jungen Hirtin ausgewesen. Er nahm aber eine strenge Miene an
und öffnete mit einem großen, rostigen Schlüssel die Kapellentür, ohne
sich die Enttäuschung und den bestürzten Kampf seiner Seele merken zu
lassen. Er trat in das enge Kirchlein ein, in dem der Chorknabe
alsbald hinter dem Altar einiges für die Zelebrierung der Messe
vorbereitete. Aus einer mitgebrachten Flasche ward etwas Weihwasser in
das ausgetrocknete Becken getan, in das die Geschwister nun ihre
harten und sündigen Finger tauchen konnten. Sie besprengten und
bekreuzigten sich und ließen sich mit scheuer Ehrfurcht gleich hinter
der Türschwelle auf die Knie nieder.
Indessen begab sich Francesco, getrieben von Unruhe, nochmals ins
Freie hinaus, wo er mit einer plötzlichen stummen und tiefen
Erschütterung, nach einigem Umherschreiten, etwas unterhalb der
Plattform des Gipfels das Mädchen, das er suchte, über einem
Sternenhimmel leuchtend blauen Enzianes ruhend fand. -- »Komm herein,
ich warte auf dich«, rief der Priester. Sie erhob sich, anscheinend
träge und sah ihn unter gesenkten Wimpern mit einem ruhigen Blicke an.
Dabei schien sie in lieblicher Weichheit leise zu lächeln, was aber
nur mit der natürlichen Bildung des süßen Mundes, mit dem lieblichen
Leuchten der blauen Augen und den zarten Grübchen der vollen Wangen
zusammenhing.
In diesem Augenblick vollzog sich die schicksalsschwere Erneuerung und
Vervollkommnung des Bildes, das Francesco in seiner Seele gehegt
hatte. Er sah ein kindlich unschuldvolles Madonnengesicht, dessen
verwirrender Liebreiz mit einer ganz leisen, schmerzlichen Herbheit
verbunden war. Die etwas starke Röte der Wangen ruhte auf einer
weißen, nicht braunen Haut, aus der die feuchte Röte der Lippen mit
der Glut des Granatapfels leuchtete. Jeder Zug in der Musik dieses
kindlichen Hauptes war zugleich Süße und Bitterkeit, Schwermut und
Heiterkeit. In seinem Blick lag schüchternes Zurückweichen und
zugleich ein zärtliches Fordern: beides nicht mit der Heftigkeit
tierischer Regungen, sondern unbewußt blumenhaft. Schienen die Augen
das Rätsel und das Märchen der Blume in sich zu schließen, so glich
die ganze Erscheinung des Mädchens vielmehr einer schönen und reifen
Frucht. Dieses Haupt, wie Francesco bei sich mit Verwunderung
feststellte, gehörte noch ganz einem Kinde an, soweit sich darin die
Seele ausdrückte, nur eine gewisse traubenhaft schwellende Fülle
deutete auf die überschrittene Grenze des Kindesalters und auf die
erreichte Bestimmung des Weibes hin. Das teils erdfarbenbraune, teils
von lichteren Strähnen durchzogene Haar war in schwerer Krone um
Schläfe und Stirn gebunden. Etwas von schwerer, etwas von innerlich
gährender, edelreifer Schläfrigkeit schien die Wimper des Mädchens
niederzuziehen und gab ihren Augen eine gewisse feuchte, überdrängende
Zärtlichkeit. Aber die Musik des Hauptes ging unterhalb des
elfenbeinernen Halses in eine andere über, deren ewige Noten einen
anderen Sinn ausdrücken. Mit den Schultern begann das Weib. Es war ein
Weib von jugendlicher und reifer Fülle, das beinahe zur Überfülle
neigte und das nicht zu dem kindlichen Haupte zu gehören schien. Die
nackten Füße und starken gebräunten Waden trugen eine fruchthafte
Fülle, die fast, wie dem Priester dünkte, zu schwer für sie war.
Dieses Haupt besaß das sinnenheiße Mysterium seines isishaften Körpers
unbewußt, höchstens leise ahndevoll. Aber gerade darum erkannte
Francesco, daß er diesem Haupte und diesem allmächtigen Leibe
rettungslos auf Tod und Leben verfallen war.
Was nun aber auch der Jüngling im Augenblick des Wiedersehens mit dem
durch Erbsünde so schwer belasteten Gottesgeschöpf alles erblickte,
erkannte und empfand, außer daß seine Lippen ein wenig zuckten, konnte
man ihm deswegen nichts anmerken. »Wie heißt du eigentlich?« fragte er
nur die sündenerfüllte Sündlose. Die Hirtin nannte sich Agata und tat
dies mit einer Stimme, die Francesco wie das Lachen einer
paradiesischen Lachtaube dünkte. »Kannst du schreiben und lesen?«
fragte er. Sie erwiderte: »Nein!« »Weißt du etwas von der Bedeutung
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