Der Ketzer von Soana - 3

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Eifer getragen, dermaßen, als ob nun alles darauf ankäme, sich die
Gnade des höheren Wesens nicht zu verscherzen, das seine schlechte
Wohnung betreten hatte. Er brachte eine große schmutzige Gelte voll
Milch herbei, deren Oberfläche dicken Rahm abgesetzt hatte, aber
leider auf eine unglaubliche Weise verunreinigt war, so daß Francesco
sie schon deshalb nicht anrühren konnte. Er wies aber auch den Genuß
von frischem Käse und reinlichem Brote zurück, trotzdem er hungrig
geworden war, weil er sich in abergläubischer Scheu damit zu
versündigen fürchtete. Schließlich, als der Berghirt sich ein wenig
beruhigt hatte und mit furchtsam wartenden Blicken und hängenden Armen
ihm gegenüber stand, begann der Priester also zu reden:
* * * * *
»Luchino Scarabota, Ihr sollt des Trostes unserer heiligen Kirche
nicht verlustig gehen, und Eure Kinder sollen aus der Gemeinschaft
katholischer Christen nicht ferner verstoßen sein, wenn es sich
entweder herausstellt, daß die üblen Gerüchte über Euch unwahr sind,
oder wenn Ihr redlich beichtet, Reue und Zerknirschung zeigt und Euch
bereit findet, mit Gottes Hilfe den Stein des Anstoßes aus dem Wege zu
räumen. Also öffnet mir zuerst Euer Herz, Scarabota, bekennet mit
Freimut, worin Ihr verleumdet seid und mit wahrhaftiger Wahrheit die
Sündenschuld, die Euch etwa belastet.«
Nach dieser Anrede schwieg der Hirt. Es rang sich nur plötzlich ein
kurzer, wilder Ton aus seiner Kehle hervor, der aber keinerlei Gefühl
verriet, vielmehr etwas Glucksendes, Vogelartiges an sich hatte. Wie
es Francesco geläufig war, schritt er alsbald dazu, dem Sünder die
schrecklichen Folgen der Verstocktheit vorzustellen und die
versöhnliche Güte und Liebe Gottes des Vaters, die er durch das Opfer
seines einigen Sohnes bewiesen habe, das Opfer des Lammes, das die
Sünden der Welt auf sich nahm. Durch Jesum Christum, schloß er, kann
jede Sünde vergeben werden, vorausgesetzt, daß eine rückhaltlose
Beichte, verbunden mit Reue und Gebet, dem himmlischen Vater die
Zerknirschung des armen Sünders bewiesen hat.
Erst nachdem Francesco, der Priester, eine lange Weile gewartet hatte
und sich achselzuckend erhob, wie es schien, um davon zu gehen, begann
der Hirte ein unverständliches Durcheinander von Worten durch die
Kehle zu würgen: eine Art Gewölle, wie es der Raubvogel tut. Und mit
gespannter Aufmerksamkeit versuchte der Priester das Verständliche aus
dem Wuste festzuhalten. Aber dieses Verständliche erschien ihm ebenso
wie das Dunkle fremd und wunderbar. Nur so viel ward aus der
beängstigenden und beklemmenden Menge eingebildeter Dinge klar, daß
Luchino Scarabota sich seines Beistandes gegen allerlei Teufel, die in
den Bergen hausten und ihn bedrängten, versichern wollte.
Es hätte dem jungen, gläubigen Priester schlecht angestanden, am
Dasein und Wirken von bösen Geistern zu zweifeln. War doch die
Schöpfung erfüllt von allen Arten und Graden gefallener Engel aus dem
Gefolge Luzifers, des Empörers, den Gott verstoßen hatte; hier aber
grauste ihm, er wußte nicht, ob vor der Verfinsterung durch unerhörten
Aberglauben, auf die er traf, oder ob vor der hoffnungslosen
Erblindung durch Unwissenheit. Er beschloß, mittels einzelner Fragen
sich über den Vorstellungskreis und das Begriffsvermögen seines
Parochialen ein Urteil zu bilden.
Da ward denn alsbald ersichtlich: dieser wilde, verwahrloste Mensch
wußte nichts von Gott, noch viel weniger von Jesus Christus, dem
Heiland, am allerwenigsten vom Vorhandensein eines heiligen Geists.
Dagegen gewann es den Anschein, als fühle er sich von Dämonen umgeben
und sei besessen von einem düsteren Verfolgungswahn. Und in dem
Priester sah er nicht etwa den berufenen Diener Gottes, sondern viel
eher einen mächtigen Zauberer oder den Gott. Was sollte Francesco
anderes tun, als sich bekreuzigen, während der Hirte sich demütig auf
die Erde warf und mit feuchten, wulstigen Lippen seine Schuhe
abgöttisch zu belecken und mit Küssen zu bedecken begann.
Der junge Priester hatte sich noch niemals in einer ähnlichen Lage
befunden. Die dünne Bergluft, der Frühling, die Trennung von der
eigentlichen Schicht der Zivilisation brachten es mit sich, daß sein
Bewußtsein sich ein wenig umnebelte. Etwas wie ein traumhafter Bann
zog ins Bereich seiner Seele ein, darin sich die Wirklichkeit zu
schwebenden Luftgebilden auflöste. Diese Veränderung verband sich mit
einer leisen Furchtsamkeit, die ihm mehrmals schleunige Flucht hinab
ins Bereich der geweihten Kirchen und Glocken anraten wollte. Der
Teufel war mächtig, wer konnte wissen, wie viele Mittel und Wege er
hatte, den ahnungslosen, gutgläubigsten Christen hinanzulocken und vom
Rande eines schwindelerregenden Abgrunds hinabzustürzen.
Man hatte Francesco nicht gelehrt, daß die Götzen der Heiden nur leere
Gebilde der Phantasie und nichts weiter gewesen seien. Die Kirche
anerkannte ausdrücklich ihre Macht, nur daß sie dieselbe als eine Gott
feindliche hinstellte. Sie kämpften noch immer, wenn auch
hoffnungslos, mit dem allmächtigen Gott um die Welt. Deshalb erschrak
der bleiche, junge Priester nicht wenig, als sein Wirt ein hölzernes
Ding aus irgendeinem Winkel seiner Behausung hervorholte, eine
greuliche Schnitzerei, die zweifellos einen Fetisch vorstellte. Trotz
seines priesterlichen Abscheus vor dem zuchtlosen Gegenstand, konnte
Francesco nicht umhin, das Gebilde näher zu betrachten. Mit Abscheu
und Staunen gestand er sich, daß hier die scheußlichste, heidnische
Greuel, nämlich die des ländlichen Priapdienstes, noch lebendig sei.
Nichts anderes, als Priap konnte, wie klar ersichtlich war, das
primitive Kultbild vorstellen.
Kaum hielt Francesco den kleinen, harmlosen Zeugungsgott, den Gott der
ländlichen Fruchtbarkeit, der bei den Alten so offen in hohen Ehren
stand, als sich die sonderbare Umklammerung seines Wesens in heiligen
Zorn umsetzte. Er warf zunächst, ohne Überlegung, das schamlose,
kleine Alräunchen ins Feuer hinein, von wo es aber mit der
Schnelligkeit eines Hundes-Zufahren der Hirt im selben Augenblick
wieder herausholte. Es glimmte da und es brannte dort, wurde aber
sofort durch die rauhen Hände des Heidenmenschen in den alten
ungefährlichen Zustand versetzt. Nun mußte es aber, samt seinem
Retter, eine Flut von strafenden Worten über sich hingehen lassen.
Luchino Scarabota schien nicht zu wissen, welchen von beiden Göttern
er für den stärkeren halten sollte: den von Holz oder den von Fleisch
und Blut. Indessen hielt er den Blick, in dem sich Entsetzen und
Grauen mit tückischer Wut mischten, auf die neue Gottheit gerichtet,
deren frevelhafte Kühnheit jedenfalls nicht auf ein Bewußtsein von
Schwäche schließen ließ. Einmal im Zuge, ließ sich der Bote des
einigen und alleinigen Gottes in seinem heiligen Eifer durch noch so
gefährliche Blicke des umnachteten Götzendieners nicht einschüchtern.
Und ohne alle Umstände kam er nun auch auf die verruchte Sünde zu
sprechen, der, wie man allgemein behauptete, der Kindersegen des
Berghirten zu verdanken war.
In die lauten Reden des jungen Priesters platzte gleichsam die
Schwester Scarabotas hinein, die aber, ohne zu reden und nur
verstohlen den Eiferer musternd, sich da und dort in der Höhle zu tun
machte. Sie war ein bleiches und widerwärtiges Weib, dem Waschwasser,
wie es schien, eine unbekannte Sache war. Man sah ihren nackten Körper
durch die Risse verwahrloster Kleider unangenehm hindurch schimmern.
Nachdem der Priester geendet und seinen Vorrat von strafenden Anklagen
fürs erste erschöpft hatte, schickte das Weib den Bruder mit einem
kurzen, kaum hörbar gesprochenen Wort ins Freie hinaus. Ohne
Widerspruch war der wilde Mensch sogleich wie der folgsamste Hund
verschwunden. Hierauf küßte die schmutzstarrende Sünderin, der das
verfilzte, schwarze Haar über die breiten Hüften hing, mit den Worten
»Gelobt sei Jesus Christus!« dem Priester die Hand.
Gleich darauf brach sie in Tränen aus.
Sie sagte, der Priester habe ganz recht, wenn er sie mit harten Worten
verurteile. Sie habe sich allerdings versündigt gegen Gottes Gebot,
wenn auch keineswegs in der Weise, wie es die Verleumdung ihr
nachrede. Sie allein sei die Sünderin, ihr Bruder dagegen vollkommen
unschuldig. Sie schwor und zwar bei allen Heiligen, daß sie jener
fürchterlichen Sünde, der man sie zeihe, der Blutschande nämlich,
niemals verfallen wäre. Freilich habe sie unkeusch gelebt, und da sie
nun einmal im Beichten sei, so sei sie bereit, die Väter ihrer Kinder
zu beschreiben, wenn auch nicht alle namhaft zu machen. Denn nur die
wenigsten Namen wisse sie, da sie, wie sie sagte, aus Not oftmals ihre
Gunst an vorüberkommende Fremde verkauft habe.
Im übrigen habe sie ihre Kinder ohne jede Hilfe mit Schmerzen zur Welt
gebracht, und einige hätte sie müssen da und dort, bald nach der
Geburt, im Schutte des Generoso wieder begraben. Ob er sie nun
absolvieren könne oder nicht, sie wisse trotzdem, daß Gott ihr
verziehen habe, denn sie habe durch Nöte, Leiden und Sorgen genügsam
gebüßt.
Francesco konnte nicht anders, als die weinende Beichte des Weibes wie
ein Gewebe von Lügen ansehen, wenigstens soweit das Verbrechen in
Frage kam. Freilich fühlte er, es gab Handlungen, die jedem
Bekenntnis vor Menschen unbedingt widerstreben und die nur Gott allein
in einsamer Stille des Gebetes erfährt. Er achtete in dem verkommenen
Weibe diese Schamhaftigkeit und konnte sich überhaupt nicht verhehlen,
daß sie in mancher Beziehung höher als ihr Bruder geartet war. In der
Art ihrer Rechtfertigung lag eine klare Entschlossenheit. Das Auge
gestand, aber ein Geständnis durch Worte würden ihr weder gutes
Zureden, noch glühende Zangen des Henkers entrissen haben. Sie war es
gewesen, wie sich ergab, die den Mann zu Francesco gesandt hatte. Sie
hatte den jungen, bleichen Priester gesehen, als sie eines Tages nach
Lugano zum Markte ging, wo sie die Erzeugnisse ihrer Alm verhandelte,
und sie hatte bei seinem Anblick Vertrauen und den Gedanken gefaßt,
ihm ihre verfemten Kinder ans Herz zu legen. Sie allein war das
Familienhaupt und trug die Sorge für Bruder und Kinder.
»Ich lasse es unerörtert,« sagte Francesco, »inwieweit Ihr schuldig
oder unschuldig seid. Eines steht fest: wenn Ihr Eure Kinder nicht wie
Tiere aufwachsen lassen wollt, so müßt Ihr Euch von dem Bruder
trennen. Solange Ihr mit ihm lebt, wird der furchtbare Leumund, den
Ihr habt, niemals zum Schweigen zu bringen sein. Immer wird man die
schreckliche Sünde bei Euch voraussetzen.«
Nach diesen Worten schien Verstockung und Trotz im Gemüte des Weibes
herrschend zu werden, jedenfalls gab sie keine Antwort und widmete
sich so, als ob kein Fremder zugegen wäre, eine längere Weile
häuslicher Tätigkeit. Währenddessen kam ein etwa fünfzehnjähriges
Mädchen herein, das einige Ziegen in die Öffnung des Stalles trieb und
sich alsdann, ebenfalls als wenn Francesco nicht da wäre, an der
Arbeit des Weibes beteiligte. Der junge Priester wußte sofort, als er
nur erst den Schatten des Mädchens durch die Tiefe der Höhle gleiten
sah, daß es von ungewöhnlicher Schönheit sein mußte. Er bekreuzte
sich, denn er hatte einen leisen Schrecken unerklärlicher Art im
Körper gespürt. Er wußte nicht, ob er in Gegenwart der jugendlichen
Hirtin seine Ermahnungen wieder aufnehmen sollte. Zwar war sie, wie
nicht zu bezweifeln war, von Grund aus verderbt, da Satan sie auf dem
Wege der schwärzesten Sünde zum Leben erweckt hatte, aber es konnte
doch noch ein Rest von Reinheit in ihr sein, und wer mochte wissen, ob
sie von ihrem schwarzen Ursprung eine Ahnung hatte.
Ihre Bewegungen zeigten jedenfalls eine große Gelassenheit, aus der
man keineswegs auf Unruhe des Gemütes oder Gewissensbeschwernis
schließen konnte. Im Gegenteil war alles an ihr von einer
bescheidenen Selbstsicherheit, die durch das Dasein des Pfarrers nicht
berührt wurde. Sie hatte Francesco bis jetzt nicht mit einem Blicke
gestreift, wenigstens nicht so, daß er ihrem Auge begegnet wäre oder
sie sonstwie ertappt hätte. Ja, während er selbst sie verstohlen durch
die Brille beobachtete, mußte er mehr und mehr in Zweifel ziehen, ob
wirklich ein Kind der Sünde, ein Kind solcher Eltern von dieser
Beschaffenheit sein könnte. Endlich verschwand sie über eine
Steigeleiter in eine Art Dachgelaß hinauf, so daß nun Francesco sein
mühsames Seelsorgerwerk fortsetzen konnte.
»Ich kann meinen Bruder nicht verlassen,« sagte die Frau, »und zwar
ganz einfach deshalb, weil er ohne mich hilflos ist. Er kann zur Not
seinen Namen schreiben, und ich habe ihm das nur mit der größten Mühe
beigebracht. Er kennt keine Münze, und vor der Eisenbahn, der Stadt
und den Menschen fürchtet er sich. Wenn ich fortgehe, wird er mich
verfolgen, wie ein armer Hund seinen verlorenen Herrn verfolgt. Er
wird mich entweder finden oder elend zugrunde gehen: und was soll dann
aus den Kindern und unserem Besitztum werden. Bleibe ich mit den
Kindern hier, so wollte ich den wohl sehen, dem es gelänge, meinen
Bruder fortzuschaffen: man müßte ihn denn in Ketten tun und hinter
Eisenstangen in Mailand einschließen.«
Der Priester sagte: »Dies kann sich am Ende noch ereignen, wenn Ihr
meinem guten Rate nicht folgen wollt.«
Da gingen die Ängste des Weibes in Wut über. Sie habe ihren Bruder zu
Francesco geschickt, damit er sich ihrer erbarme, aber nicht deshalb,
damit er sie unglücklich mache. Es sei ihr dann schon lieber, von
denen da unten gehaßt und ausgestoßen weiter zu leben, wie bisher. Sie
sei eine gute Katholikin, aber wen die Kirche ausstoße, der habe ein
Recht, sich dem Teufel anheimzugeben. Und was sie bisher noch nicht
getan habe, die große, ihr zur Last gelegte Sünde, werde sie dann
vielleicht erst tun.
In diese mit einzelnen Schreien gemischten, gepreßten Worte der Frau
hörte Francesco von dort, wo das Mädchen verschwunden war, von oben her,
immer einen süßen Gesang bald im leisesten Hauch, bald stärker
schwellend hineinklingen: so daß seine Seele mehr in diesem melodischen
Banne, als bei den Wutausbrüchen des verkommenen Weibes war. Und eine
Welle stieg heiß in ihm, verbunden mit einer Bangigkeit, wie er sie nie
gefühlt hatte. Das qualmige Loch dieses tierisch-menschlichen
Wohnstalles schien, wie durch Zauberei, in die lieblichste aller
kristallenen Grotten des Danteschen Paradieses verwandelt zu
sein: -- voll Engelstimmen und lachtaubenartig klingender Fittiche.
Er ging. Es war ihm unmöglich, noch länger, ohne sichtbar zu beben,
solchen verwirrenden Einflüssen standzuhalten. Draußen, vor dem
ausgehöhlten Steinhaufen angelangt, sog er die Frische der Bergluft
ein und ward sogleich, wie ein leeres Gefäß, mit dem ungeheuren
Eindruck der Bergwelt angefüllt. Seine Seele ward gleichsam in die
weiteste Kraft des Auges verlegt und bestand aus den kolossalen Massen
der Erdrinde, von fernen, schneeichten Spitzen zu nahen, furchtbaren
Abgründen, unter der königlichen Helle des Frühlingstags. Noch immer
sah er braune Fischadler überm Zuckerhut von Sant Agatha ihre
selbstvergessenen Kreise ziehn. Da verfiel er darauf, der verfemten
Familie dort einen heimlichen Gottesdienst abzuhalten und eröffnete
diesen Gedanken der Frau, die kummervoll auf die vom gelben Löwenzahn
umwucherte Schwelle der Höhle getreten war. »Nach Soana dürft Ihr
nicht kommen, wie Ihr ja selber wißt,« sagte er, »würde ich Euch dazu
einladen, ich und Ihr, wir würden gleich übel beraten sein.«
Wiederum ward das Weib bis zu Tränen gerührt und versprach, sich an
einem bestimmten Tage mit dem Bruder und den älteren Kindern vor der
Kapelle von Sant Agatha einzufinden.
* * * * *
Als der junge Priester soweit aus dem Bereich der Wohnstätte Luchino
Scarabotas und seiner fluchbeladenen Familie war, daß er von dort aus
nicht mehr gesehen werden konnte, wählte er einen von der Sonne
durchwärmten Block zum Ruheplatz, um über das eben Erlebte
nachzudenken. Er sagte sich, daß er zwar mit einem schauerlichen
Interesse, aber doch pflichtmäßig nüchternen Sinnes und ohne jeden
Vorschmack von dem heraufgestiegen war, was ihn jetzt auf so
ahnungsvolle Weise beunruhigte. Was war das doch? Er zupfte, strich
und putzte lange an seiner Soutane herum, als ob er es dadurch
loslösen könnte.
Als er nach einiger Zeit noch immer nicht die erwünschte Klarheit
empfand, nahm er gewohnheitsgemäß sein Brevier aus der Tasche, aber
auch das alsbald begonnene, laute Lesen befreite ihn nicht von einer
gewissen wunderlichen Unschlüssigkeit. Es war ihm zumute, als ob er
irgendetwas, einen wichtigen Punkt seiner Sendung, zu erledigen
vergessen hätte. Deshalb wandte er seine Blicke unter der Brille immer
wieder mit einer gewissen Erwartung den Weg zurück und konnte sich
nicht ermannen, den begonnenen Abstieg fortzusetzen.
So verfiel er in seltsame Träumerei, aus der ihn zwei kleine Vorfälle
weckten, die seine aus dem gewohnten Bereich gebrochene Phantasie mit
erheblicher Übertreibung sah: erstlich zersprang ihm mit einem Knick,
durch den Einfluß der kalten Bergluft, das rechte Brillenglas, und
fast unmittelbar darauf hörte er ein fürchterliches Geprust über
seinem Kopf und spürte einen heftigen Druck auf den Schultern.
Der junge Priester war aufgesprungen. Er lachte laut, als er die
Ursache seines panischen Schreckens in einem scheckigen Geißbock
erkannte, der ihm einen Beweis seines unbegrenzten Vertrauens dadurch
gegeben hatte, daß er ohne jedwede Rücksicht gegen sein geistliches
Gewand mit den Vorderhufen auf seine Schultern gesprungen war.
Damit begann aber erst seine höchst vertrauliche Zudringlichkeit. Der
zottige Bock mit den starken, schön gewundenen Hörnern und
feuerspeienden Augen war gewohnt, wie es schien, vorüberkommende
Bergsteiger anzubetteln und tat dies auf eine so drollige,
entschlossene und unwiderstehliche Art, daß man sich seiner nur durch
die Flucht erwehren konnte. Er setzte Francesco immer wieder,
hochaufgebäumt, die Hufe vor die Brust und schien entschlossen,
nachdem der Bedrängte sich eine Durchschnupperung seiner Taschen
hatte gefallen lassen müssen und einige Brotreste mit unglaublicher
Gier verschluckt worden waren, Haar, Nase und Finger des Priesters
abzuknabbern.
Eine alte, bärtige Geiß, der Glocke und Euter bis auf die Erde hing,
war dem Wegelagerer nachgefolgt und begann, durch diesen ermutigt, den
Priester ebenso zu bedrängen. Ihr hatte das mit Goldschnitt und Kreuz
versehene Brevier besonderen Eindruck gemacht, und es gelang ihr,
während Francesco mit der Abwehr eines gewundenen Bockshorns zu tun
hatte, sich des Büchelchens zu bemächtigen. Und seine schwarz
bedruckten Blätter für grüne nehmend, aß sie, nach des Propheten
Vorschrift, die heiligen Wahrheiten buchstäblich und gierig in sich
hinein.
In solchen Nöten, die sich durch Ansammlung anderer, vereinzelt
weidender Tiere noch gesteigert hatten, erschien mit einemmal die
Hirtin als Retterin. Es war eben dasselbe Mädchen, das Francesco
zuerst in der Hütte Luchinos flüchtig erblickt hatte. Er sagte, als
die schlanke und starke Person, nachdem sie die Ziegen verscheucht
hatte, mit frisch geröteten Wangen und lachenden Augen vor ihm stand:
»Du hast mich gerettet, braves Mädchen!« Und er setzte ebenfalls
lachend hinzu, indem er sein Brevier aus den Händen der jungen Eva
entgegennahm: »Es ist eigentlich wunderlich, daß ich trotz meines
Hirtenamts gegen deine Herde so hilflos bin.«
Ein Priester darf sich nicht länger, als seine kirchliche Pflicht etwa
erfordert, mit einem jungen Mädchen oder Weibe unterhalten, und die
Gemeinde vermerkt es sofort, wenn er außerhalb der Kirche bei einer
solchen Begegnung zu zweien gesehen wird. So hatte denn auch
Francesco, eingedenk seines strengen Berufs, ohne sich lange zu
verweilen, seinen Rückweg fortgesetzt: dennoch hatte er ein Gefühl,
als ob er sich auf einer Sünde ertappt hätte und bei nächster
Gelegenheit sich durch eine reuige Beichte reinigen müsse. Noch war er
nicht aus dem Bereich der Herdenglocken gelangt, als der Klang einer
weiblichen Stimme zu ihm drang, der ihn plötzlich wiederum alle
Meditationen vergessen machte. Die Stimme war so geartet, daß er nicht
auf den Gedanken kam, sie könne der eben zurückgelassenen Hirtin
angehören. Francesco hatte nicht nur zu Rom die kirchlichen Sänger des
Vatikans, sondern auch öfters früher mit seiner Mutter in Mailand
weltliche Sängerinnen gehört, und also war ihm Koloratur und bel canto
der Primadonnen nicht unbekannt. Er stand unwillkürlich still und
wartete. Unzweifelhaft sind es Touristen von Mailand, dachte er und
hoffte womöglich, im Vorübergehen, die Besitzerin dieser herrlichen
Stimme ins Auge zu fassen. Da sie nicht kommen wollte, setzte er
weiter Fuß vor Fuß, sorgsam absteigend, in die schwindelerregende
Tiefe hinunter.
Was Francesco im ganzen und im einzelnen auf diesem Berufsgang erlebt
hatte, war äußerlich nicht der Rede wert, wenn man die Greuel nicht in
Erwägung zieht, die ihre Brutstätte in der Hütte der armen Geschwister
Scarabota hatte. Aber der junge Priester fühlte sogleich, wie diese
Bergfahrt für ihn ein Ereignis von großer Bedeutung geworden war, wenn
er auch über den ganzen Umfang dieser Bedeutung vorläufig noch nicht
entfernt Bescheid wußte. Er spürte, daß von innen heraus eine Umwandlung
mit ihm vorgegangen war. Er befand sich in einem neuen Zustande, der ihm
von Minute zu Minute wunderlicher und einigermaßen verdächtig war, aber
doch lange nicht so verdächtig, daß er womöglich den Satan gewittert
oder etwa ein Tintenfaß nach ihm geschleudert haben würde, wenn er es
auch in der Tasche gehabt hätte. Die Bergwelt lag wie ein Paradies unter
ihm. Zum allerersten Male wünschte er sich, mit unwillkürlich gefalteten
Händen, Glück, von seinem Oberen gerade mit der Verwaltung dieser Pfarre
betraut worden zu sein. Was war, gegen diese köstliche Tiefe gehalten,
Petri Tuch, das an drei Zipfeln von Engeln gehalten vom Himmel kam. Wo
gab es eine für Menschenbegriffe größere Majestät, wie diese
unzugänglichen Generoso-Schroffen, an denen fort und fort der dumpfe
Frühlingsdonner schmelzenden Schnees in Lawinen hörbar ward.
* * * * *
Vom Tage seines Besuches bei den Verfemten an konnte sich Francesco zu
seinem Erstaunen nicht mehr in den gedankenlosen Frieden seines
früheren Daseins zurückfinden. Das neue Gesicht, das die Natur für ihn
angenommen hatte, verblaßte nicht mehr, und sie wollte sich auf keine
Weise in ihren früheren, unbeseelten Zustand zurückdrängen lassen. Die
Art ihrer Einwirkungen, durch die der Priester nicht nur am Tage,
sondern auch in seinen Träumen beängstet wurde, nannte er und erkannte
er zunächst als Versuchungen. Und da der Glaube der Kirche, schon
dadurch, daß er ihn bekämpft, mit dem heidnischen Aberglauben
verschmolzen ist, so führte Francesco seine Verwandlung allen Ernstes
auf die Berührung jenes hölzernen Gegenstandes zurück, jenes
Alräunchens, das der struppige Hirt aus dem Feuer gerettet hatte. Da
war unzweifelhaft noch ein Rest jener Greuel lebendig geblieben,
denen die Alten unter dem Namen des Phallus-Dienstes huldigten, jenes
schmachvollen Kultes, der durch den heiligen Krieg des Kreuzes Jesu in
der Welt niedergezwungen worden war. -- Bis dahin, als er den
scheußlichen Gegenstand erblickt hatte, war allein das Kreuz in
Francescos Seele eingebrannt. Man hatte ihn, nicht anders, wie wenn
man die Schafe einer Herde mit einem glühenden Stempel zeichnet, mit
dem Brandmal des Kreuzes versehen, und dieses Stigma war, im Wachen
und Träumen gegenwärtig, zum Wesenssymbol seiner selbst geworden. Nun
blickte der leidige und leibhaftige Satan über dem Kreuzesbalken
herab, und das höchst unsaubere, entsetzliche Satyr-Symbol nahm in
immerwährendem Wettstreit mehr und mehr die Stelle des Kreuzes ein.
Francesco hatte, neben dem Bürgermeister, vor allem seinem Bischof
über den Erfolg seines Hirtenganges Bericht erstattet, die Antwort,
die er von ihm erhielt, war eine Billigung seines Vorgehens. »Vor
allem,« schrieb der Bischof, »vermeiden wir jedes laute Ärgernis.« Er
fand es überaus klug, daß Francesco für die armen Sünder einen
besonderen und geheimen Gottesdienst auf Sant Agatha, in der Kapelle
der heiligen Mutter Mariens, anberaumt hatte. Aber die Anerkennung
seines Oberen konnte den Seelenfrieden Francescos nicht herstellen,
er vermochte den Gedanken nicht los zu werden, daß er von dort oben
mit einer Art Bezauberung behaftet zurückgekommen sei.
In Ligornetto, wo Francesco geboren war, und wo sein Oheim, der
berühmte Bildhauer, die letzten zehn Jahre seines Lebens zugebracht
hatte, war noch derselbe alte Pfarrer, der ihn als Knabe in die
Heilswahrheiten des katholischen Glaubens eingeführt und ihm den Weg
der Gnade gewiesen hatte. Diesen alten Priester suchte er eines Tages
auf, nachdem er den Weg von Soana bis Ligornetto in beiläufig drei
Stunden zurückgelegt hatte. Der alte Priester hieß ihn willkommen und
war mit sichtlicher Rührung bereit, die Beichte des jungen Mannes, die
er ihm abzulegen wünschte, entgegenzunehmen. Natürlich absolvierte er
ihn.
Francescos Gewissensnöte sind ungefähr in folgender Eröffnung, die er
dem Alten machte, ausgedrückt. Er sagte: »Seit ich bei den armen
Sündern auf der Alpe von Santa Croce war, befinde ich mich in einer
Art von Besessenheit. Ich schüttele mich. Es ist mir, als hätte ich
nicht etwa einen anderen Rock, sondern geradezu eine andere Haut
angezogen. Wenn ich den Wasserfall von Soana rauschen höre, so möchte
ich am liebsten in die tiefe Schlucht hinunterklettern und mich unter
die stürzenden Wassermassen stellen, stundenlang, gleichsam um
äußerlich und innerlich rein und gesund zu werden. Sehe ich das Kreuz
in der Kirche, das Kreuz über meinem Bett, so lache ich. Es will mir
nicht gelingen, wie früher, zu weinen und zu seufzen und mir die
Leiden des Heilands vorzustellen. Dagegen werden meine Augen von
allerlei Gegenständen angezogen, die dem Alräunchen des Luchino
Scarabota ähnlich sind. Manchmal sind sie ihm auch ganz unähnlich, und
ich sehe doch eine Ähnlichkeit. Um zu studieren, um mich in das
Studium der Kirchenväter recht tief versenken zu können, hatte ich
Vorhänge an die Fenster meines Stübchens gemacht. Ich habe sie nun
hinweg genommen. Der Gesang der Vögel, das Rauschen der vielen Bäche
durch die Wiesen, an meinem Haus nach der Schneeschmelze, ja, der Duft
der Narzissen störte mich. Jetzt öffne ich meine Fensterflügel weit,
um das alles recht gierig zu genießen.
Dies alles beängstet mich,« hatte Francesco fortgefahren, »aber es ist
vielleicht nicht das Schlimmste. Schlimmer ist vielleicht, daß ich,
wie durch schwarze Magie, in das Machtbereich unsauberer Teufel
geraten bin. Ihr Zwicken und Zwacken, ihr freches Kitzeln und Anreizen
zur Sünde, zu jeder Stunde Tages und Nachts, ist fürchterlich. Ich
öffne das Fenster, und durch ihren Zauber kommt es mir vor, als
strotze der Gesang der Vögel in dem blühenden Kirschbaum unter meinem
Fenster von Unzüchtigkeit. Ich werde durch gewisse Formen der Rinde
der Bäume herausgefordert und durch sie, ja, durch gewisse Linien der
Berge an Teile des corporis femini erinnert. Es ist ein schrecklicher
Sturmlauf hinterlistiger, tückischer und häßlicher Dämonen, dem ich
trotz aller Gebete und Kasteiungen überantwortet bin. Die ganze Natur,
ich sage es euch mit Schaudern, rauscht, braust und donnert manchmal
vor meinen erschrockenen Ohren ein ungeheures Phallus-Lied, womit sie,
wie ich trotz allen Sträubens zu glauben gezwungen bin, dem
erbärmlichen, kleinen, hölzernen Götzen des Hirten huldigt.
Dies alles steigert natürlich,« hatte Francesco fortgefahren, »meine
Unruhe und Gewissensnot, um so mehr, als ich es als meine Pflicht
erkenne, gegen den Pestherd oben auf der Alp als Streiter zu Felde zu
ziehen. Es ist aber immer noch nicht der ärgste Teil meines
Bekenntnisses. Schlimmer ist: sogar in die eigensten Pflichten meines
Berufs hat sich, mit einer gleichsam höllischen Süssigkeit, etwas wie
ein allesverwirrendes, unaustilgbares Gift gemischt. Ich bin zunächst
mit reiner und heiliger Gewalt durch die Worte Jesu von dem verlorenen
Schaf und dem Hirten, der die Herde verläßt, um es von den
unzugänglichen Felsen zurückzubringen, ergriffen worden. Nun aber
zweifle ich, ob diese Absicht noch immer in alter Reinheit vorhanden
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