Der Ketzer von Soana - 2

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Mütter und älteren Töchter an einem von kaltem Bergwasser, womit er
reichlich gespeist wurde, überfließenden, antiken Marmor-Sarkophag
Wäsche wuschen und in Körben zum Trocknen davontrugen. Der Boden war
naß, weil am Tage vorher Regen, mit Schneeflocken untermischt,
gefallen war, wie denn der machtvolle Felsenabhang des Monte Generoso
unter Neuschnee, jenseits der Talschlucht, in seinem eigenen Schatten
mit unzugänglichen Schroffen aufragte und frische Schneeluft
herüberhauchte.
Der junge Priester ging mit niedergeschlagenen Augen an den
Wäscherinnen vorbei, deren lauten Gruß er durch Nicken erwiderte. Den
ihn umdrängenden Kindern ließ er, sie ältlich über die Brille
betrachtend, die Hand einen Augenblick, wo sie denn alle mit Eifer und
Hast ihre Lippen abwischten. Die Ortschaft, wie sie hinter dem Platz
begann, ward durch wenige enge Gassen gangbar gemacht. Aber selbst die
Hauptstraße konnte nur von kleinen Fuhrwerken und auch nur in ihrem
vorderen Teile benutzt werden. Nach dem Ausgang des Ortes zu verengte
sie sich und wurde noch überdies so steil, daß man höchstens noch mit
einem beladenen Maultier hindurch und hinan kommen konnte. An diesem
Sträßchen befand sich ein kleiner Kramladen und die schweizerische
Postagentur.
Der Postagent, der mit Francescos Vorgänger auf kameradschaftlichstem
Verkehrsfuß gestanden hatte, grüßte und ward von Francesco wieder
gegrüßt, aber doch nur so, daß zwischen dem Ernst des Geweihten und
der platten Freundlichkeit des Profanen der volle Abstand gewahrt
wurde. Nicht weit von der Post bog der Priester in ein erbärmliches
Seitengäßchen ein, das mit Treppen und Treppchen auf eine
halsbrecherische Weise, an geöffneten Ziegenställen und allen Arten
schmutziger, fensterloser, kellerartiger Höhlen vorüber, abwärts
stieg. Hühner gackerten, Katzen saßen auf morschen Galerien unter
Büscheln aufgehängter Maiskolben. Hie und da meckerte eine Ziege,
blökte ein Rind, das aus irgendeinem Grunde nicht mit auf die Weide
gezogen war.
Man konnte erstaunt sein, wenn man, aus dieser Umgebung kommend, durch
eine enge Pforte das Haus des Bürgermeisters betreten hatte und sich
in einer Flucht von kleinen, gewölbten Sälen befand, deren Decken von
Handwerkern, im Stile Tiepolos, figurenreich ausgemalt worden waren.
Hohe Fenster und Glastüren, mit langen, roten Gardinen geschmückt,
führten aus diesen sonnigen Räumen auf eine ebenso sonnige, freie
Terrasse hinaus, die von uraltem, kegelförmig geschnittenen Buchsbaum
und wundervollem Lorbeer geziert wurde. Wie überall, so auch hier,
vernahm man das schöne Rauschen des Wasserfalls und hatte jenseits die
wilde Bergwand sich gegenüber.
Der Sindaco, Sor Domenico, war ein gutgekleideter, in der Mitte der
vierziger Jahre stehender, ruhiger Mann, der vor kaum einem
Vierteljahre erst zum zweitenmal geheiratet hatte. Die schöne,
blühende, zweiundzwanzigjährige Frau, die Francesco in der blanken
Küche mit der Zubereitung des Frühstücks beschäftigt getroffen hatte,
geleitete ihn zu dem Gatten herein. Als jener die Erzählung des
Priesters, von dem Besuch, den er abends vorher empfangen hatte,
angehört und den Zettel gelesen hatte, der den Namen des Besuchers und
wilden Mannes in unbeholfenen Schriftzügen trug, ging ein Lächeln
durch seine Gesichtszüge. Dann, als er den jungen Sacerdote Platz zu
nehmen genötigt hatte, fing er, vollkommen sachlich, und ohne daß die
maskenhafte Gleichgültigkeit seiner Mienen jemals gestört wurde, die
gewünschte Auskunft über den mysteriösen Besucher, der tatsächlich
ein dem Pfarrer bisher verborgen gebliebener Bürger Soanas war, zu
geben an.
* * * * *
»Luchino Scarabota,« sagte der Sindaco -- es war der Name, den der
Besucher des Pfarrers auf den Zettel gekritzelt hatte! -- »ist ein
keineswegs armer Mann, aber schon seit Jahren machen seine häuslichen
Zustände mir und der ganzen Gemeinde Kopfschmerzen, und es ist nicht
eigentlich abzusehen, wo dies alles am Ende noch hinauslaufen soll. Er
gehört einer alten Familie an, und es ist sehr wahrscheinlich, daß er
etwas von dem Blut des berühmten Luchino Scarabota da Milano in sich
hat, der zwischen Vierzehn- und Fünfzehnhundert das Langhaus des Domes
unten in Como baute. Solche alte, berühmte Namen haben wir ja, wie Sie
wissen, Herr Pfarrer, manche in unserem kleinen Ort.«
Der Sindaco hatte die Glastüre geöffnet und den Pfarrer während des
Redens auf die Terrasse hinausgeführt, wo er ihm, mit der ein wenig
erhobenen Hand, in dem trichterförmigen, steilen Quellgebiete des
Wasserfalles einen jener, aus rohem Stein gemauerten Würfel wies, wie
sie die Bauern der Gegend bewohnen. Aber dieses, in großer Höhe, weit
über allen anderen hängende Anwesen unterschied sich von jenen nicht
nur durch seine vereinzelte, scheinbar unzugängliche Lage, sondern
auch durch Kleinheit und Ärmlichkeit.
»Sehen Sie, dort, wo ich mit dem Finger hinzeige, wohnt dieser
Scarabota,« sagte der Sindaco.
»Es nimmt mich wunder, Herr Pfarrer,« fuhr der Sprechende fort,
»daß Sie von jener Alpe und ihren Bewohnern noch nichts gehört
haben sollten. Die Leute geben weit und breit in der ganzen Gegend
seit einem Jahrzehnt und länger das widerwärtigste Ärgernis. Leider
kann man ihnen nicht beikommen. Man hat die Frau vor Gericht
gestellt, und sie hat behauptet, die sieben Kinder, die sie geboren
hat, stammten -- gibt es etwas Unsinnigeres? -- nicht von dem Manne,
mit dem sie lebt, sondern von sommerlichen Schweizer Touristen ab, die
an der Alpe vorüber müssen, wenn sie zum Generoso hinaufklettern.
Dabei ist die Vettel verlaust und schmutzstarrend und überdies
abschreckend häßlich, wie die Nacht.
Nein, es ist offenkundig, daß der Mann, der Sie gestern besucht hat
und mit dem sie lebt, Vater von ihren Kindern ist. Aber das ist der
Punkt: dieser Mensch ist zugleich ihr leiblicher Bruder.«
Der junge Priester verfärbte sich.
»Natürlich ist dies blutschänderische Paar von aller Welt gemieden
und in die Acht getan. In dieser Beziehung wird die vox populi selten
fehl gehen.« Mit dieser Erklärung setzte der Sindaco seine Erzählung
fort. »Sooft sich eines der Kinder etwa bei uns oder in Arogno oder in
Melano hat blicken lassen, ist es beinahe gesteinigt worden. Man hält
jede Kirche, soweit die Leute bekannt sind, für entweiht, wenn das
verruchte Geschwisterpaar sie betritt, und die beiden Verfemten haben
das, als sie den Versuch glaubten machen zu dürfen, auf eine so
furchtbare Weise zu fühlen bekommen, daß ihnen seit Jahren jede
Neigung zum Kirchenbesuch abhanden gekommen ist.
Und sollte man etwa gestatten«, fuhr der Sindaco fort, »daß solche
Kinder, solche verfluchte Kreaturen, die jedermanns Abscheu und Grauen
sind, hier unten in unsere Schule gehen und zwischen den Kindern guter
Christen in der Schulbank sitzen? Kann man uns zumuten, wir sollen
dulden, daß unsere ganze Ortschaft, Klein und Groß, durch diese
moralischen Schandprodukte, diese schlechten, räudigen Bestien
verpestet wird?«
Das bleiche Antlitz des Priesters Francesco verriet durch keine Miene,
inwieweit die Erzählung Sor Domenicos ihn berührt hatte. Er dankte und
ging mit dem gleichen würdigen Ernst im Ausdruck des ganzen Wesens,
mit dem er erschienen war, davon.
* * * * *
Francesco hatte bald nach der Unterredung mit dem Sindaco seinem
Bischof über den Fall Luchino Scarabota Bericht erstattet. Acht Tage
später war die Antwort des Bischofs in seiner Hand, die dem jungen
Geistlichen auftrug, sich von dem allgemeinen Stand der Verhältnisse
auf der sogenannten Alpe von Santa Croce persönlich zu unterrichten.
Der Bischof lobte dabei den geistlichen Eifer des jungen Manns und
bestätigte ihm, er habe wohl Ursach, sich dieser verirrten und
verfemten Seelen wegen in seinem Gewissen bedrängt zu fühlen und auf
ihre Errettung bedacht zu sein. Von den Segnungen und Tröstungen der
Mutterkirche dürfe man keinen noch so verirrten Sünder ausschließen.
Erst gegen Ende des Monats März erlaubten die Amtsgeschäfte und auch
die Schneeverhältnisse des Berges Generoso dem jungen Geistlichen von
Soana, mit einem Landmann als Führer, den Aufstieg zur Alpe von Santa
Croce anzutreten. Ostern stand vor der Tür, und trotzdem an der
Schroffwand des Bergriesen fortwährend mit dumpfem Donner Lawinen in
die Schlucht unterm Wasserfall niedergingen, hatte der Frühling
überall, wo die Sonne ungehindert zu wirken vermochte, mit voller
Kraft eingesetzt.
So wenig Francesco, unähnlich seinem Namensheiligen von Assisi,
Naturschwärmer war, konnte doch das zarte und saftige Sprießen, Grünen
und Blühen um ihn her nicht ohne Wirkung auf ihn bleiben. Ohne daß
sich der junge Mensch dessen deutlich bewußt werden brauchte, hatte er
die feine Gährung des Frühlings im Blut und genoß sein Teil von jenem
inneren Schwellen und Drängen der ganzen Natur, das himmlischen
Ursprungs und trotz wonnig-sinnlich-irdischen Auswirkens auch in allen
seinen erblühten Freuden himmlisch ist.
Die Kastanienbäume auf dem Platz, über den der Priester mit seinem
Begleiter zunächst wieder schreiten mußte, hatten aus braunen,
klebrigen Knospen zarte, grüne Händchen gestreckt. Die Kinder lärmten,
nicht minder die Sperlinge, die unterm Kirchdach und in unzähligen
Schlupflöchern der winkligen Ortschaft nisteten. Die ersten Schwalben
zogen ihre weiten Schleifen von Soana über den Abgrund der Schlucht,
wo sie scheinbar dicht vor dem phantastisch getürmten, unzugänglichen
Felsmassiv der Bergmauer abschwenkten. Dort oben auf Vorsprüngen oder
in Felslöchern, wo nie eines Menschen Fuß hingedrungen war, horsteten
Fischadler. Die großen, braunen Pärchen traten herrliche Fahrten an
und schwebten, nur um zu schweben, in stundenlangen Dauerflügen über
Bergspitzen, immer höher und höher kreisend, als wollten sie
majestätisch, selbstvergessen, in die befreite Unendlichkeit des
Raumes hinein.
Überall, nicht nur in der Luft, nicht nur in der braunen, aufgewühlten
oder mit Gras und Narzissen bekleideten Erde und allem, was sie durch
Halme und Stämme in Blätter und Blüten aufsteigen ließ, sondern auch in
den Menschen war das Festliche, und die braunen Gesichter der Bauern,
die auf den Terrassen zwischen den Reihen der Weinstöcke mit Hacke oder
gekrümmtem Messer arbeiteten, strahlten von Sonntäglichkeit: hatten doch
überdies die meisten von ihnen das sogenannte Osterlamm, eine junge
Ziege, bereits geschlachtet und mit zusammengebundenen Hinterläufen zu
Hause am Türpfosten aufgehängt.
Die Weiber, die ganz besonders zahlreich und laut mit ihren gefüllten
Wäschekörben um den überfließenden Sarkophag aus Marmor versammelt
waren, unterbrachen, als der Priester und sein Begleiter vorüberging,
ihre lärmende Heiterkeit. Auch am Ausgang des Dorfes standen
Wäscherinnen, wo unter einem kleinen Madonnenbild ein Wasserstrahl aus
dem Felsen drang und sich ebenfalls in einen antiken Sarkophag aus
Marmor ergoß. Beide Stücke, sowohl dieser Sarkophag, als jener, der
auf dem Platze stand, waren vor längerer Zeit aus einem Baumgarten
voll tausendjähriger Steineichen und Kastanien gehoben worden, wo sie
seit undenklicher Zeit, nur wenig aus dem Boden hervorragend, unter
Epheu und wildem Lorbeer versteckt, gestanden hatten.
Im Vorübergehen bekreuzte sich Francesco, ja, unterbrach das Schreiten
für einen Augenblick, um der lieblich mit Feldblumenopfern der Landleute
umstellten Madonetta über dem Sarkophag, mit einer Beugung des Knies zu
huldigen. Zum ersten Male sah er dies kleine, von Bienen umsummte,
liebliche Heiligtum, da er diesen oberen Teil der Ortschaft noch niemals
besucht hatte. War Soana mit seinem unteren Teil, mit seiner Kirche und
einigen mit grünen Läden geschmückten, hübschen Bürgerhäusern um den
terrassenartig untermauerten Kastanienplatz bürgerlich beinahe
wohlhabend und zeigte es dort in Gärten und Gärtchen blühende
Mandelbäumchen, Orangen, hohe Zypressen, kurz, eine mehr südliche
Vegetation, hier oben, einige hundert Schritte höher hinauf, war es nur
noch ein alpines, ärmliches Hirtendorf, das nach Ziegen und Kuhstall
duftete. Auch setzte hier ein mit Wackersteinen gepflasterter, äußerst
steiler Bergweg ein, der durch täglichen morgendlichen Auszug und
abendlichen Einzug der großen Gemeinde-Ziegenherde geglättet war; denn
er führte hinauf und hinaus zur Gemeindealm in das kesselförmige
Quellgebiet des Flüßchens Savaglia, das weiter unten den herrlichen
Wasserfall von Soana bildet und nach kurzem, rauschenden Lauf durch
tiefe Schlucht im See von Lugano untergeht.
Nachdem der Priester, immer geführt von seinem Begleiter, eine kurze
Weile auf diesem Bergweg hinan geklettert war, stand er still, um
aufzuatmen. Den großen, schwarzen, tellerartigen Hut mit der Linken
vom Kopfe nehmend, hatte er mit der Rechten ein großes, buntes
Taschentuch aus der Soutane gezogen, womit er die Schweißperlen von
seiner Stirn tupfte. Im allgemeinen ist der Natursinn, der Sinn eines
italienischen Priesters für die Schönheit der Landschaft, nicht
sonderlich. Aber der Weitblick von großer Höhe und aus der sogenannten
Vogelperspektive, wie man es nennt, ist doch ein Reiz, der auch den
naivsten Menschen mitunter trifft und ihm ein gewisses Staunen
abnötigt. Francesco erblickte seine Kirche mitsamt der dazugehörigen
Ortschaft bereits nur noch als ein Miniaturbild tief unter sich,
während rings um ihn her die gewaltige Bergwelt, wie es schien, immer
höher gen Himmel ragte. In das Gefühl des Frühjahrs mischte sich jetzt
das Gefühl des Erhabenen, das vielleicht aus einem Vergleich der
eigenen Kleinheit mit den erdrückend gewaltigen Werken der Natur und
ihrer drohenden, stummen Nähe entstehen mag und das mit einem halben
Bewußtsein davon verbunden ist, daß wir doch auch an dieser Übermacht
auf irgendeine Weise teilhaben. Kurz, Francesco fühlte sich
erhaben-groß und winzig-klein in ein und demselben Augenblick, und
dies gab den Anlaß, mit gewohnter Bewegung auf Stirn und Brust das vor
Irrungen und Dämonen schützende Kreuz zu schlagen.
Im Weitersteigen hatten bald wieder religiöse Fragen und
praktisch-kirchliche Angelegenheiten seines Sprengels von dem
jugendlich eifrigen Klerikus Besitz ergriffen. Und als er wiederum
diesmal am Eingang eines felsigen Hochtals stille stand und sich
umwandte, hatte ihn der Anblick eines arg verwahrlosten, hier für die
Hirten errichteten, gemauerten Heiligenschreins auf den Gedanken
gebracht, alle vorhandenen Heiligtümer seines Kirchspiels, und wenn
sie noch so entlegen waren, aufzusuchen und in einen gotteswürdigen
Stand zu setzen. Er ließ sogleich seine Augen umherschweifen und
suchte den die vorhandenen Kultstätten womöglich umfassenden
Überblick.
Er nahm seine eigene Kirche mit dem daran geklebten Pfarrhaus zum
Ausgangspunkt. Sie stand, wie gesagt, auf der Ebene des Dorfplatzes
und ihre Außenmauern setzten sich in steilen Wänden des Grundfelsens
fort, an dem ein munterer Gebirgsbach unten vorüberrauschte. Dieser
Gebirgsbach, unter dem Platz von Soana hindurchgeführt, trat in einem
gemauerten Bogen ans Licht, wo er, freilich durch Abwässer stark
verunreinigt, Baumgärten und blumige Wiesen wässerte. Jenseit der
Kirche, ein wenig höher, was von hier aus nicht festzustellen war, lag
auf rundem, flachen Terrassenhügel das älteste Heiligtum der Umgegend,
eine kleine Kapelle, der Jungfrau Maria geweiht, deren verstaubtes
Kultbild auf dem Altar von einem byzantinischen Mosaik der Apsis
überwölbt wurde. Dieses, trotz tausendjährigen und höheren Alters in
Goldgrund und Zeichnung wohlerhaltene, Mosaik stellte Christus
Pantokrator dar. Die Entfernung von der Hauptkirche bis zu diesem
Heiligtum betrug nicht über drei Steinwurfsweiten. Eine andere hübsche
Kapelle, diese der heiligen Anna geweiht, lag in der gleichen
Entfernung von ihr. Über Soana und hinter Soana erhob sich ein äußerst
spitzer Bergkegel, der im Umkreis natürlich von weiten Talräumen und
den Flanken der überragenden Generoso-Kette umgeben war. Dieser
beinahe zuckerhutartige, aber bis oben begrünte, scheinbar
unzugängliche Berg hieß Sant Agatha, weil er auf seinem Gipfel zur Not
ein Kapellchen eben dieser Heiligen beherbergte. Dies waren im engsten
Umkreis der Ortschaft eine Kirche und drei Kapellen, der sich im
weiteren Kreise der Pfarre drei oder vier andere Kapellen anreihten.
Auf jedem Hügel, an jeder hübschen Wegwende, auf jeder weithin
blickenden Spitze, da und dort an malerischen Felsabstürzen, nah und
fern, über Schlucht und See hatten fromme Jahrhunderte Gotteshäuser
angeklebt, so daß in dieser Beziehung die tiefe und allgemeine
Frömmigkeit des Heidentums noch zu spüren war, die im Verlauf
vergangener Jahrtausende alle diese Punkte ursprünglich geweiht und so
gegen die bedrohlichen, furchtbaren Mächte dieser wilden Natur sich
göttliche Bundesgenossen geschaffen hatte.
Der junge Eiferer sah alle diese Anstalten römisch-katholischen
Christentums, wie sie den ganzen Kanton Tessin auszeichnen, mit
Befriedigung. Freilich mußte er sich zugleich mit dem Schmerz des
echten Gottesstreiters eingestehen, daß in ihnen weder überall ein
reger und reiner Glaube lebendig war, noch auch nur eine genügend
liebevolle Fürsorge seiner Amtsbrüder, um alle diese verstreuten,
himmlischen Wohnstätten vor Verwahrlosung und Vergessenheit zu
bewahren.
Nach einiger Zeit ward in den engen Fußsteig eingebogen, der in
dreistündiger, mühsamer Steigung zum Gipfel des Generoso führt. Dabei
mußte sehr bald das Bett der Savaglia auf einer verfallenen Brücke
überschritten werden, in deren nächster Nähe das Sammelbecken des
Flüßchens war, das von da aus in seinen selbstgebildeten Erosionsspalt
von hundert und mehr Meter Tiefe hinabstürzte. Hier hörte Francesco
aus verschiedenen Höhen, Tiefen und Richtungen neben dem Rauschen des
zu seinem Sammelbecken heraneilenden Wildwassers, Herdengeläut und sah
einen Mann von rauhem Äußeren -- es war der Gemeindehirt von Soana! --
der lang auf der Erde ausgestreckt, sich mit den Händen am Ufer
stützend, den Kopf zum Wasserspiegel hinabgebeugt, ganz nach Art eines
Tieres seinen Durst löschte. Hinter ihm grasten einige Ziegenmütter
mit ihren Zicklein, während ein Wolfshund mit gespitztem Ohr auf
Befehle wartete und des Augenblicks, wo sein Meister und Herr mit
Trinken fertig war. »Auch ich bin ein Hirte,« dachte Francesco, und
als jener sich von der Erde erhob und mit schneidendem Pfiff durch die
Finger, der an den Felswänden widerhallte und mit weit ausholenden
Steinwürfen seine überallhin verstreuten Tiere bald zu schrecken, bald
weiter zu treiben, bald zurückzurufen und überhaupt vor der Gefahr
des Absturzes zu bewahren suchte, dachte Francesco, wie dies schon bei
Tieren, geschweige bei Menschen, die der Versuchung des Satans
allezeit preisgegeben waren, eine mühevolle und verantwortungsschwere
Arbeit sei.
* * * * *
Mit doppeltem Eifer begann nun der Priester weiter zu steigen, nicht
anders, als wenn zu fürchten gewesen wäre, der Teufel könne auf diesem
Wege zu den verirrten Schafen womöglich der Schnellere sein. Als er,
immer von seinem Begleiter geführt, den Francesco einer Unterhaltung
nicht würdigte, eine Stunde und länger steil und beschwerlich
gestiegen war, immer höher und höher in die Felswildnis des Generoso
hinein, hatte er plötzlich die Alpe von Santa Croce auf fünfzig
Schritt vor Augen liegen.
Er wollte nicht glauben, daß jener Steinhaufen und das inmitten davon
befindliche, ohne Mörtel aus flachen Steintafeln geschichtete
Mauerwerk, wie ihn der Führer versichert hatte, das gesuchte Anwesen
sei. Was er erwartet hatte, war, nach dem Reden des Sindaco, eine
gewisse Wohlhabenheit, wogegen diese Behausung höchstens als eine Art
Unterschlupf für Schafe und Ziegen bei plötzlichem Unwetter gelten
konnte. Da es auf einer steilen Halde von Gesteinschutt und kantigen
Felsblöcken lag und der Pfad dahin in seinem Zickzacklaufe verborgen
war, schien der verfluchte Ort ohne Zugänge. Erst nachdem der junge
Priester sein Befremden und einen gewissen Schauder, der sich meldete,
überwunden hatte und näher gedrungen war, gestaltete sich das Bild der
verfemten und gemiedenen Wohnstätte etwas freundlicher.
Ja, die Trümmerstätte verwandelte sich sogar vor den Augen des
näherkommenden Priesters in eitel Lieblichkeit: denn es schien, als
würde die aus großer Höhe losgelöste Lawine von Blöcken und Schutt
durch den rohgemauerten Würfel der Wohnstätte aufgestaut und
festgehalten, so daß unter ihm eine steinfreie, saftig begrünte Lehne
blieb, aus der in entzückender Fülle und holdester Lieblichkeit gelbe
Kuhblumen bis an die Rampe vor die Haustüre hinankletterten -- und als
wären sie neugierig, über die Rampe hinweg und buchstäblich durch die
Haustür in die verfemte Wohnhöhle hinein.
Bei diesem Anblick stutzte Francesco. Dieser Sturmlauf von gelben
Wiesenblumen gegen die verrufene Schwelle hinauf, dieses Hinanblühen
üppiger Prozessionen langgestielter Vergißmeinnicht, unter denen Adern
von Bergwasser versickerten, und die ebenfalls mit ihrem blauen
Abglanz des Himmels die Tür zu erobern suchten, schien ihm beinahe
ein offener Protest gegen Acht, Bann und Femgerichte der Menschen zu
sein. Francesco mußte sich in seinem Staunen, dem eine gewisse
Verwirrung folgte, mit seiner schwarzen Soutane auf einen von der
Sonne gewärmten Gesteinsblock niedersetzen. Er hatte seine Jugend im
Tal und dazu meist in geschlossenen Räumen, Kirchen, Hörsälen oder
Studierzimmern zugebracht. Sein Natursinn war nicht geweckt worden.
Eine Unternehmung, wie diese, in die erhabene, herbe Lieblichkeit des
Hochgebirges hinein, hatte er niemals bisher ausgeführt und würde es
vielleicht niemals getan haben, hätte nicht Zufall und Pflicht vereint
ihm die Bergfahrt aufgedrängt. Nun überwältigte ihn die Neuheit und
die Größe der Eindrücke.
Zum ersten Mal fühlte der junge Priester Francesco Vela eine klare und
ganz große Empfindung von Dasein durch sich hinbrausen, die ihn
augenblicklang vergessen ließ, daß er ein Priester und weshalb er
gekommen war. Alle seine Begriffe von Frömmigkeit, die mit einer Menge
von kirchlichen Regeln und Dogmen verflochten waren, hatte diese
Empfindung nicht nur verdrängt, sondern ausgelöscht. Er vergaß jetzt
sogar, das Kreuz zu schlagen. Unter ihm lag das schöne Luganer Gebiet
der oberitalienischen Alpenwelt, lag Sant Agatha mit dem
Wallfahrtskirchlein, über dem noch immer die braunen Fischräuber
kreisten, lag der Berg San Giorgio, tauchte die Spitze des Monte San
Salvatore auf, und endlich lag in schwindelerregender Tiefe unter ihm,
in die Täler des Gebirgsreliefs wie eine längliche Glasplatte
sorgfältig eingefaßt, der Capolago genannte Arm des Luganer Sees mit
dem segelnden Boot eines Fischers darauf, das einer winzigen Motte auf
einem Handspiegel glich. Hinter alledem waren in der Ferne die weißen
Gipfel der Hochalpen, gleichsam mit Francesco, höher und höher
gestiegen. Daraus hob sich der Monte Rosa weiß, mit sieben weißen
Spitzen hervor, zugleich diademhaft und schemenhaft aus dem seidigen
Blau des Azurs herüberstrahlend.
Wenn man mit Fug von einer Bergkrankheit reden kann, so mit nicht
minderem Recht darf man von einem Zustand reden, der Menschen auf
Berghöhen überkommt, und den man am besten als Gesundheit ohnegleichen
bezeichnet. Diese Gesundheit spürte nun auch der junge Priester im
Blut, wie eine Erneuerung. Neben ihm, zwischen Steinen unter noch
dürrem Heidekraut, stand eine kleine Blume, dergleichen Francesco noch
niemals im Leben erblickt hatte. Es war eine überaus liebliche Spezies
blauen Enzians, dessen Blütenblättchen mit einem flammenden Blau
überraschend köstlich bemalt waren. Der junge Mann in der schwarzen
Soutane ließ das Blümchen, das er in seiner ersten Entdeckerfreude
hatte abpflücken wollen, unbehelligt an seinem bescheidenen Platze
stehen und bog nur das Heidekraut beiseite, um das Wunder lange
entzückt zu betrachten. Überall aus den Steinen drang junges,
hellgrünes Zwergbuchenlaub, und aus einer gewissen Ferne, über den
Lehnen von hartem, grauen Schutt und zartem Grün, meldete sich mit
Glockengeläut die Herde des armen Luchino Scarabota. Diese ganze
Bergwelt besaß eine frühe Eigenart, den Jugendreiz versunkener,
menschlicher Zeitalter, von denen in den Taltiefen keine Spur mehr
vorhanden war.
Francesco hatte seinen Begleiter heimgeschickt, da er den Rückweg
ungestört durch die Gegenwart eines Menschen machen wollte und
überdies bei dem, was er am Herde Luchinos vorhatte, einen Zeugen
nicht wünschen konnte. Er war inzwischen bereits bemerkt worden, und
eine Anzahl schmuddliger und verfilzter Kinderköpfe streckten sich
immer wieder neugierig zu dem schwarzverräucherten Türloch der
Scarabotaschen Gesteinsburg heraus.
Langsam begann sich der Priester ihr anzunähern und betrat jenen
Umkreis des Anwesens, der den großen Viehbestand des Besitzers
anzeigte und von den Rückständen einer großen Herde Rinder und Ziegen
verunreinigt war. In Francescos Nase stieg stärker und stärker mit der
dünnen und kräftigen Bergluft Rinder- und Ziegenduft, dessen steigende
Penetranz am Eingang der Wohnung durch zugleich mit ihm
herausdringenden Holzkohlenrauch erträglich gemacht wurde. Als
Francesco im Rahmen der Tür erschien und mit seiner schwarzen Soutane
das Licht verstellte, waren die Kinder ins Dunkel zurückgewichen, von
wo sie dem Gruße des Priesters, der sie nicht sah, und allen seinen
Anreden Schweigen entgegensetzten. Nur eine alte Mutterziege kam,
meckerte leise und beschnüffelte ihn.
Allmählich war es im Innern des Raumes für das Auge des Boten Gottes
heller geworden. Er sah einen Stall, mit einer hohen Dungschicht
gefüllt und nach hinten in eine natürliche Höhle vertieft, die
ursprünglich im Nagelflu, oder was für Gestein es sein mochte,
vorhanden war. In einer groben Steinwand rechts war ein Durchgang
geöffnet, durch den der Priester einen Blick auf den jetzt verlassenen
Herd der Familie tat: einen Aschenberg, innen noch voll Glut und zwar
auf dem natürlich zutage liegenden Felsen des Fußbodens
aufgeschichtet. An einer von dickem Ruß überdeckten Kette hing ein
verbeulter, ebenfalls verrußter, kupferner Topf darüber herab. An
dieser Feuerstätte des Steinzeitmenschen stand eine lehnenlose Bank,
deren faustdickes, breites Sitzbrett auf zwei ebenso breiten, im
Felsen befestigten Pfeilern ruhte und das seit einem Jahrhundert und
länger von Generationen ermüdeter Hirten, Hirtenweiber und Kinder
abgewetzt und poliert worden war. Das Holz schien nicht mehr Holz,
sondern ein gelber, polierter Marmor oder Speckstein zu sein, aber mit
zahllosen Narben und Schnitten. Der quadratische Raum, der im übrigen
mit seinen natürlich ungeputzten, aus rohen Blöcken und
Schieferplatten geschichteten Mauern mehr einer Höhle glich und aus
dem der Qualm durch die Tür in den Stall und wiederum von dort durch
die Tür vollends ins Freie drang, weil er außer etwa durch
Undichtigkeiten der Wände sonst keinen Abzug hatte, der Raum also war
vom Qualm und Ruß der Jahrzehnte geschwärzt, so daß man beinahe den
Eindruck gewinnen konnte, im Innern eines dickverrußten Kamines zu
sein.
Eben bemerkte Francesco den eigentümlichen Glanz von Augen, die aus
einem Winkel hervorleuchteten, als draußen ein Rollen und Rutschen von
Gesteinschutt hörbar ward und gleich darauf die Gestalt Luchino
Scarabotas in die Tür und wie ein lautloser Schatten vor die Sonne
trat, wodurch sich der Raum noch tiefer verdunkelte. Der verwilderte
Berghirt atmete schwer, nicht allein deshalb, weil er in kurzer Zeit
den Weg von einer entfernten, höher gelegenen Alm gemacht, nachdem er
von dort aus die Ankunft des Priesters beobachtet hatte, sondern weil
dieser Besuch ein Ereignis für den Verfemten war.
Die Begrüßung war kurz. Francesco wurde von seinem Wirt zum Sitzen
genötigt, nachdem er die Specksteinbank mit seinen rauhen Händen
von Steinen und abgerissenen Kuhblumen gesäubert hatte, die der
verfluchten Brut seiner Kinder als Spielzeug gedient hatten.
Der Berghirte schürte und blies aus vollen Backen das Feuer an, wobei
seine fieberhaften Augen im Widerschein noch wilder erglänzten. Er
nährte die Flamme mit Scheiten und trockenem Reisig auf, so daß der
beizende Qualm den Priester beinahe vertrieben hätte. Das Betragen des
Hirten war von kriechender Unterwürfigkeit und von einem ängstlichen
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