Der Junker von Denow; Ein Geheimnis; Ein Besuch; Auf dem Altenteil: Erzählungen - 6

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war zu verschwiegen! Wie oft hab' ich ihn beschworen, mir sein großes
Geheimnis anzuvertrauen, -- Madame, auf meine Ehre, Monsieur Etienne war
zu verschwiegen, viel zu verschwiegen.«
»O Madame, Madame, die Welt ist nicht so beschaffen, daß sie ein großes
Genie in sich dulden könnte!« sagte zur Frau Vinacche der Dichter Jean
Baptiste Rousseau, der Freund Stefanos. »Madame, die Welt kann das
Talent nur töten, und es gibt nur einen Trost:
_c'est le même Dieu qui nous jugera tous!_«
»Liebste Schwester,« sagte der Graf d'Aubigné zur Marquise von
Maintenon, »liebste Schwester, in meinem Leben habe ich noch nichts
erfunden, wohl aber traue ich mir viel Geschick zu, die Erfindungen
anderer Leute herauszuholen. Ihr wißt das ja; _mon Dieu_, weshalb habt
Ihr mir nicht diese Geschichte mit dem Italiener überlassen? Das war
kein Charakter für die Kunst Monsieur d'Argensons.«
Die Frau Marquise seufzte, zuckte die Achseln und griff nach ihrem
Gebetbuch, Mademoiselle La Caverne, ihre Kammerfrau, meldete: Seine
Majestät verfüge sich soeben in die Messe. Graf d'Aubigné, welcher »sich
wegen seiner Schwester Regierung einbildete, er sei die dritte Person in
dem Königreiche«, ließ die Unterlippe herabsinken und legte sein Gesicht
in die frömmsten Falten.
»Gehen wir, mein Bruder,« sagte die Marquise. »Wir wollen beten für die
Seele dieses unglücklichen Monsieur de Vinacche und bitten, daß Gott uns
seinen Tod nicht zurechne.«


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* *
* Ein Besuch *
* *
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Es war schon Dämmerung, als der Besuch kam; so sehr Dämmerung, daß es
uns unmöglich ist, zu sagen, wie der Besuch aussah. Es ist uns überhaupt
nicht leicht gemacht, hierüber ganz deutlich zu werden. Helfen uns die
Leserinnen selber nicht dabei, so werden wir auf diesem Blatt Papier mit
Feder und Tinte wenig ausrichten.
»Wieder ein Tag, Johanne, in Einsamkeit und mühseliger, geringen Nutzen
bringender Arbeit; und zu der Arbeit trübe Gedanken den ganzen Tag über.
Wegplaudern kann ich dir deine Sorgen nicht; da habe ich Schwestern, die
das besser verstehen. Ich kann nur hier und da eine Stunde bei dir
verweilen; laß mich das jetzt, vielleicht ist dir wohler nachher. Hast
auch wohl schmerzende Augen von dem ewigen Schaffen so spät in den
Jahren? Die darfst du dreist zumachen, derweil ich bei dir bin. Nur
keine unnötigen Höflichkeiten unter Freunden. Laß dich gehen, ich lasse
mich auch gehen und lege mir niemandes wegen Zwang an, und viel Zeit
habe ich nie, das wißt ihr ja alle, die ihr mich dann und wann unter
euerer übrigen Bekanntschaft in der Welt bei euch seht. Wo warst du
eben, Johanne?«
»Sie feierten ein Fest heute drunten im Hause, daran habe ich gequält,
widerwillig teilnehmen müssen. Es war so viel Wagenrollen in der Gasse
und vor dem Hause, die Leute waren so laut; es drang so viel lustiger
Lärm zu mir herauf. Es war töricht: aber ich ließ mich von meiner
Phantasie hinabführen zu meiner jungen, reichen, glücklichen
Hausgenossin; und da wurde mein Schicksal bitterer, ich war den Tag über
unzufriedener denn je mit meinem Lose; ach, da es nun wieder stiller
geworden ist, will ich es nur gestehen: ich war recht böse den Tag über,
voll Mißgunst, Neid und Eifersucht. Es war sehr unrecht.«
»Ja freilich, du bist arm, und deine Hausgenossin ist reich; du bist alt
geworden, und deine Hausgenossin ist noch jung. Niemand kommt zu dir als
von Zeit zu Zeit ich, und jene führt das lebendigste Leben. Daran kann
ich nichts ändern, nicht den kleinsten Stein des Anstoßes in der
Körperlichkeit der Dinge kann ich dir aus dem Wege räumen; -- aber wie
wäre es, wenn du dessenungeachtet jetzt doch einmal einige Wege mit mir
gingest -- die ich dich führe?«
Da die Frau Johanne jetzt lächelt, ist sie schon auf diesen Wegen mit
ihrem Besuch -- dieser seltsamen Besucherin, die nicht plaudert, wenige
Neuigkeiten weiß, sondern nur von Zeit zu Zeit die Hand oder auch nur
den Zeigefinger erhebt. Frau Johanne hat dabei auch dem andern Rat ihres
stillen Gastes Folge gegeben; sie hat die Augen geschlossen. Bei
geschlossenen Augen sagt sie: »Ja es ist unrecht, und es nützt auch
nichts, andern ihr Glück oder vielleicht auch nur den Schein des Glückes
zu mißgönnen. Das Leben geht so rasch hin, und es wird so schnell Abend
aus Morgen allen Leuten!
Ist es nicht wie gestern, als es auch noch in meinem Leben Morgen war?
als ich so jung war wie diese junge Nachbarin und auch über schöne
Teppiche schritt? als die Wagen auch vor meiner Tür hielten und die
Gäste zu mir kamen? als meine Gestalt aus dem Pfeilerspiegel im
Festkleide mir zulächelte und Richard mir über meine Schulter
zuflüsterte, was der Spiegel mir sagte?
Hab' ich damals, an meinem Morgen, in meinem Frühling, in meiner Jugend
viel daran gedacht, wie die Leute über meinem Haupte, unter meinen
Füßen, die Nachbarn gegenüber lebten, und ob sie weniger jung, sorgenlos
und glücklich als ich waren?«
»Siehst du, es wandelt sich gut an meiner Hand,« nickte der Besuch. »Nur
weiter, komm nur weiter, wir sind auf dem ganz richtigen Wege. Es ist
nur, weil man in der mißmutigen Stunde nicht recht seine Gedanken
zusammennehmen kann, daß man seine Tage so regenfarbig, seine Nächte so
dunkel und sternenlos sieht. Was zeigte dir dein Spiegel noch außer
deiner Gestalt im Haus- und im Festkleide und den Bildern deiner
nächsten Umgebung?«
Frau Johanne legt das Haupt in ihrem Stuhl zurück und die Hand auf die
Stirn. Sie sitzt wieder vor ihrem hohen, vornehmen Spiegel, den Rücken
gegen die Fenster gewendet. Aber aus dem zerbrechlichen Glase und der so
leicht verwischbaren Folie von damals ist in Wahrheit ein Zauberspiegel
geworden, aus dem sich wesenhaft, greifbar, voll Leben und Wirklichkeit
die Hoffnung, der Trost, das beste Glück ihrer Witwenschaft, ihrer
Kinderlosigkeit, ihres Alters loslösen.
Es sind aber nicht die Abbilder ihrer nächsten Umgebung, die Möbel,
Wände, Gemälde, Teppiche und Vorhänge ihres damaligen Gemaches, die sie
nun mit ihren geschlossenen Augen wiedersieht. Es ist das Stück der
Gasse, das gegenüberliegende Haus, das damals in den goldenen Rahmen
zufällig mit hineinfiel und nun wieder lebendig in ihm leuchtet, nachdem
Glas und Folie längst zersplittert und verwischt sind, wie Glanz und
Glück jener lange vergangenen Tage.
»Ich denke, wir wagen es noch einmal, folgen unserm guten Einfall und
schlüpfen hinüber zu der unbekannten Nachbarin. Was meinst du, Johanne?«
»Ein Einfall!« murmelt die Frau Johanne. »Nur ein seltsamer Einfall --
_un concetto, una fantasia strana_, wie die Italiener sagen. Und mir
vielleicht auch nur darum möglich, weil ich eben erst mit Richard von
unserm schönen langen Aufenthalt in Italien nach Hause gekommen war.
Dort, in Italien, folgen die Leute viel leichter als hier bei uns ihren
Einfällen und schlüpfen so über die Gasse und halten gute Nachbarschaft,
zumal wenn sie sich vom Fenster oder -- Spiegel aus schon längst kennen
und unser Gatte einmal gesagt hat: 'Der Mann der hübschen kleinen Frau
im blauen Kleide da drüben ist einer unserer besten, talentvollsten
Unterbeamten, Johanne; das Weibchen mit seinem Kindchen ist wirklich
allerliebst, schade, daß sie nicht zu uns gehören, d. h. nicht in unsere
Gesellschaftskreise passen.'«
»Ja, was würde aus euerer Welt werden, wenn ich nicht immer von neuem,
zu jeder Zeit und überall eure närrischen Kreise störte und euch
zusammenbrächte im Wachen und im -- Traum? Nur weiter, immer weiter,
Johanne. Die Nachbarin wohnt in keinem vornehmen Hause; die Treppen, die
zu ihr hinaufführen, sind steil und dunkel; aber wir sind auf dem
rechten Wege -- ganz auf dem rechten Wege!«
»Auf dem rechten Wege! Wie kommst du eigentlich hierzu, Johanne?« habe
ich mich noch auf der steilen dunkeln Treppe gefragt. »Ihr habt euch ja
noch nicht einmal zugenickt und noch weniger je ein Wort miteinander
gesprochen. Wie wäre das auch möglich gewesen bei so vielem andern
gesellschaftlichen Verkehr?«
»Das weiß ich am besten, von welchen Kleinigkeiten alles abhängt,« sagt
der Besuch. »Törichtes Menschenvolk! wo bliebet ihr, wenn nicht ich aus
dem Kern den Baum, aus dem Funken das Licht, aus dem Hauch den Sturm
machte? Dein Blut war noch abenteuerlich unruhig von den bunten
Erlebnissen in der Fremde; du hattest viel gähnen müssen an jenem Tage;
leugne es nicht, Johanne, du warst eigentlich in keiner angenehmen
Stimmung, trotzdem daß du noch jung, reich und eine Schönheit warst. Zu
verbraucht, alltäglich, gewöhnlich, abgenutzt und gering erschien dir
alles in der behaglichen Heimat um dich herum.«
»Und Richard hatte mir jetzt gesagt: Unsere Nachbarin hat Unglück
während unserer Abwesenheit gehabt; der Mann ist ihr gestorben; wir
werden nicht leicht einen so guten Arbeiter wieder bekommen. -- Da sah
ich sie statt im blauen oder rosa Kleide in einem schwarzen am Fenster,
bleich und kummervoll. Und sie trug ihr Kind auf dem Arme, ihr armes
verwaistes Kindchen, und da --, da nickte ich ihr zu von meinem Fenster;
und da --, da bin ich zu ihr gegangen!«...
Und nun ist sie wieder bei ihr, die Träumende, -- die Freundin bei der
Freundin, und die Zeiten -- die Stunden, Tage und Jahre vermischen sich
wunderbar im süß-melancholischen Dämmerungstraum. Der Besuch könnte nun
wohl gehen -- o wie lebendig, wie lebendig ist alles nun im Traum!...
Im Traum. Die alte Frau schläft in ihrem Stuhl nach dem arbeitsvollen
mühsamen Tage. Sie denkt nicht mehr über die Vergangenheit; sie träumt
von ihr und süß und friedlich; denn der Besuch hatte ihr ja vorher
leise, beruhigend die Hand auf die furchenvolle Stirn gelegt.
Nun ist der Raum um sie her nicht mehr beschränkt und niedrig, nun sind
die Gerätschaften nicht mehr ärmlich und abgenutzt; denn im gleichen
Stübchen und unter gleichem Geräte führte ja die beste Freundin ihrer
Jugend ihr =liebes=, stilles Leben. Zu solchem Stübchen schlich sie aus
dem Glanz und der Fülle des eigenen Daseins, und alles ist im Traum wie
damals um sie her.
Wie viele Jahre gehen vorüber während der kurzen Augenblicke, in denen
sie jetzt die Augen geschlossen hält? Wechselnde Schicksale -- viel
Sorge und Angst im Mittage des Lebens auch im eigenen Hause. Was ist
noch übrig von alledem, was damals war? Wo sind die hohen Spiegel, die
Purpurvorhänge, die weichen Teppiche -- die Freunde, die Bekannten der
Jugend? Ist doch der eigene Gatte so lange schon tot und die eigenen
Kinder; und auch die Freundin schläft ja nun lange schon unter ihrem
grünen Hügel und steigt nur dann und wann daraus hervor in der
=Erinnerung= und im =Traum=, und lächelnd, tröstend und Geduld anratend
zumeist auch nur dann, wenn vorher der Besuch gekommen ist, den die
Greisin, die arme alte Frau Johanne, bei ihrer späten, beschwerlichen
Lebensmühe wie in der Dämmerung des heutigen Abends bei sich empfangen
hat.
Von all den guten Freunden, den lieben Bekannten ist niemand übrig, ist
niemand treu als das Kind, das einst die Träumerin zum erstenmal
hinüberzog aus ihrer Lebensfreude und dem Glanz ihrer Jugend zu dem Leid
der jungen Nachbarin im schwarzen Kleide. Und dieses Kind ist erwachsen,
ist auch eine verheiratete Frau und weit in der Ferne. -- -- --
Horch, ein Schritt auf der Treppe.
Ist es die Stimme des Besuchs, welche die Frau Johanne noch in ihrem
Traume vernimmt: »Nun gehe ich und lasse dich der Wirklichkeit. Wie gern
käme ich zu allen so wie zu dir in den bösen Stunden des Erdenlebens,
wie gern hülfe ich allen so wie dir hinweg über die dumpfen Pausen
zwischen euern Schicksalen; wenn ich nur nicht so oft vor die
verschlossene Tür käme. In den Büchern heiße ich eine vornehme Frau; mit
einem großen Gefolge hoher Söhne und Töchter schreite ich durch die
Jahrtausende, aber gern sitze ich nieder zu den Kindern, den Armen, den
Bekümmerten -- mit Freuden komme ich zu denen, die aus Büchern nur wenig
oder nichts von mir wissen. Nun lebe wohl, du närrisch alt Weiblein,
lache und weine dich aus in dem Glück der Gegenwart und Wirklichkeit und
halte mir deine Tür offen; ich klopfe nicht gern lange vergeblich.«...
Es war nur der Briefträger, dessen Schritt man auf der Treppe gehört
hatte. Der Brief aber, den er der Frau Johanne brachte, lautete freilich
trotz der ganzen, vollen Wirklichkeit, die er verkündete, wie
Glockenklang und Jubelruf aus Dichtung und Wahrheit.
»Meine liebe andere Mutter, ich bin so glücklich -- Franz ist daheim!
Gesund und so bärtig wie ein Bär und so sonnenverbrannt -- entsetzlich!
Aber es hat ihm, Gott sei Dank, nichts geschadet, und ich bin so
glücklich, so glücklich! Gestern sind sie eingezogen, und es war so
wundervoll, und ich hatte einen so guten Platz. Ich brauchte den Leuten
vor mir nur zu sagen: ich habe ja auch meinen Mann darunter, und sie
trugen mich fast auf ihren Armen in die erste Reihe. Und wir -- ich und
viele Hunderte und Tausende von meiner Sorte, hätten fast den ganzen
Effekt gestört. Das war ja aber auch nur zu natürlich, und kein
Feldmarschall und sonstiger großer General und Prinz durfte etwas
dagegen einwenden. Ich hing ihm unter den Trommeln und Trompeten, den
Pferden und Bajonetten am Halse, und wie ich nachher nach Hause gekommen
bin, weiß ich nicht. Nun habe ich ihn aber selber wieder zu Hause --
ganz und heil zu Hause: es lebe der Kaiser und mein Mann und mein Kind
und du, mein liebes zweites Mütterchen! Und nun höre nur, über acht Tage
sind wir alle bei dir, -- er, Franz, muß dir ja sein Eisernes Kreuz
zeigen und ich dir unsern Jungen und meinen tapfern Ritter und
Landwehrmann, den sie mir so unvermutet mitten im vorigen Sommer von
seinem Zeichen- und meinem Nähtisch wegholten und für das Vaterland ins
fürchterlichste Kanonenfeuer stellten. Was haben wir ausgestanden, Mama!
Da war es ja noch ein Segen, daß der Junge noch zu klein und dumm war,
um schon mit einsehen zu können, was der Mensch an Ängsten und Sorgen
auf der Erde und im Kriege aushalten muß und kann. Aber eins hat er auch
noch zuwege gebracht, und das ist herrlich -- ich meine der Krieg und
nicht unser Junge natürlich -- ach, ich bin immer noch so konfus und
habe es wie tausend Glocken im Ohr und wie Ameisen in allen Gliedern!
nämlich die Privatingenieure sind im Preise gestiegen, und unser Weizen
blüht endlich auch einmal. -- Darüber werden wir denn recht eingehend
reden in acht Tagen in deinem lieben Stübchen; du sollst und darfst uns
nun nicht mehr so einsam und allein sitzen, jetzt, da es uns so gut geht
und noch viel besser gehen wird, was wir aber um Gottes willen ja nicht
berufen, sondern ja bei dem Wort dreimal unter den Tisch klopfen wollen!
Wir haben alle so viel ausstehen müssen und einander so wenig helfen
können; aber nun soll's anders werden, sagt Franz. Eine bessere Stelle
haben wir schon, nämlich Franz, und dies hat sich schon mitten im Kriege
gemacht, wo merkwürdigerweise nicht bloß Leute zusammengeraten, die sich
auf den Tod hassen, sondern auch solche, die einander recht gut
gebrauchen können. Nun sagt er, jetzt gäbe er nicht mehr nach, und
sollte er noch dreimal so lange wie vor dem schrecklichen Metz vor dir
in die Erde gegraben liegen und dich belagern müssen. Er erzählt
furchtbare Dinge von seiner Hartnäckigkeit und neugewonnenen Erfahrung
in dergleichen Kriegskunststücken; und er behauptet, es wäre gar kein
Zweifel, jetzt kriegte er dich -- wir kriegten dich! O könnten wir's dir
doch zum tausendsten Teil vergelten, was du so viele kümmerliche Jahre
durch bis in unsere Brautzeit und bis zu unserer Heirat an uns getan
hast!
Ich glaube meinem Manne natürlich auf sein Wort, daß du jetzt zu uns
kommen wirst, aber ich verlasse mich eigentlich doch noch mehr auf
meinen Jungen. Was soll das arme Kind ohne dich anfangen,
Großmütterlein; jetzt, wo es anfängt zu laufen und ich doch nicht ewig
aufpassen kann? Großmütterchen, du gehörst zu unserm Richard wie die
Stadt Metz wieder zum Deutschen Reich, was aber eine recht schlechte
Vergleichung ist; ich kann aber nichts dafür, weil ich als jetzige
glorreiche Kriegsfrau so kurz nach den vielen Siegen und Eroberungen
mich nur in solchen Vergleichungen bewegen kann und übrigens auch eben
keine andere wußte.
Wir mieten natürlich eine größere Wohnung, und es wird ein Leben wie in
Frankreich, wo es freilich, wie Franz meint, die letzte Zeit durch kein
gutes Leben gewesen ist, was also eigentlich wieder nicht paßt. Nein,
wir wollen leben in Deutschland, wie ich es mir als das Schönste denke;
und denke du dir es auch so lieb, als wenn alle Dichtung auf Erden, wenn
du diesen Brief bekommst, eben zum Besuch bei dir gewesen wäre und dich
leise auf unsere Pläne und Absichten mit dir vorbereitet hätte, daß dir
der Schrecken nichts schade! Was ich dir eigentlich schreibe, weiß ich
gar nicht, und den Jungen habe ich auch beim Schreiben auf dem Schoße.
* Dieser Klex kommt auf seine Rechnung, denn greift er mir nicht in die
Frisur, so führt er mir mit die Feder.
Und nun nichts mehr; denn in acht Tagen sind wir bei dir; und obgleich
ich hier jetzt an keiner Stunde am Tage was auszusetzen finde, so wollte
ich doch, daß es erst über acht Tage wäre, um dir Auge in Auge, Mund auf
Mund sagen zu können, wie ich bis in den Tod dein dankbares Kind bin und
bleibe, du meine zweite Herzensmutter!«...
Die Frau Johanne hat viel Unglück im Leben gehabt. Eigene Familie hat
sie nicht mehr, ihr Mann ist tot, ihre Knaben sind ihr schon als Kinder
genommen, ihren Wohlstand hat sie auch verloren, und doch gibt es keine
andere Frau in der Stadt, die in dieser Stunde so glückliche Tränen
weint wie diese, welche nie dem Besuch, der in der Dämmerung bei ihr
war, die Tür verschloß, und die an seiner Hand in den Traum sich leiten
ließ, bis die Wirklichkeit anklopfte und ihr die reife liebliche Frucht
jenes »Einfalls« und Nachbarschaftsbesuchs der Tage der Jugend in den
Schoß legte.


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* *
* Auf dem Altenteil *
* *
* Eine Silvester-Stimmung *
* *
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I.

Sie hatten den Senioren der Familie alle Ehre angetan, wie sich das denn
auch wohl so von Rechts wegen gebührte; aber der Lärm wurde den
weißhaarigen Herrschaften allmählich doch ein wenig zu arg. Die alte
Dame, die immer noch um ein paar Jahre jünger war als der alte Herr,
hatte dem letzteren ein ihm schon längst wohlbekanntes kopfschüttelnd
Lächeln gezeigt, welches weiter nichts bedeutete als:
»Kind, Kind, bedenke den Morgen und deinen Rheumatismus! Es hat alles
seine Zeit, und ich glaube, die unsrige ist jetzt vorhanden.«
Der alte Herr hatte zuerst ganz erstaunt aufgesehen und sein Weib an:
Nicht mehr bis Mitternacht, und in das neue Jahr hinein? Ei, ei, ei --
hm!
»Hm,« sagte der alte Herr, in dem fröhlichen Kreise erhitzter Gesichter
umherblickend; »es hat freilich alles seine Zeit; aber es ist
sonderbar, und, liebe Kinder, es kommt einem ganz kurios vor, wenn auch
dieses -- zum erstenmal Zeit wird!«
Dabei hatte er sich aber bereits etwas mühsam aus seinem Sessel erhoben.
Den Kopf schüttelte er auch; jedoch ohne dabei zu lächeln wie seine
Frau.
»Du hast recht, Anna; es ist unsere Zeit gekommen, und so wünsche ich,
wünschen wir euch jungem Volk --«
Von einem Gewissen war bei diesem »jungen Volk« natürlich nicht die
Rede. Dazu waren sie sämtlich (auch die Ältesten unter ihnen) noch viel
zu jung, und viel zu vergnügt und viel zu aufgeregt durch die uralten,
ewig jungen Stimmungen der letzten Stunden des scheidenden Jahres. Ein
Gewühl von blonden und braunen Köpfchen und Köpfen, von Händen und
Händchen erhob sich um die beiden Greise; und alle Verführungskünste,
deren die Menschheit in ihrer Erscheinung als Familie in der
Silvesternacht fähig ist, waren zur Anwendung gebracht worden.
Einmal noch schadete es sicherlich gewiß nicht!... Großpapa und
Großmama hatten noch nie so munter ausgesehen!... Es ging ja niemand zu
Bett vor Mitternacht, selbst die Jüngsten nicht!...
»Nun, Mutter! Einmal noch? Was meinst du?« Kleine weiße Händchen --
weiße beringte Hände hatten ihre Verführungskünste nicht ohne Erfolg
versucht; nun legte sich statt anderer Antwort auf die Frage des alten
Herrn wieder eine Hand auf die seinige. Das war aber keine weiche, keine
weiße, keine kräftige mehr; aber eine starke und treue war es auch;
vielleicht wohl die stärkste und treueste.
»Die Großmutter hat recht! Es hat alles seine Zeit, und die unsrige ist
gekommen. Junges Volk, wir werden zu Bette geschickt von ihr, der Madame
Zeit, während die Jüngsten aufbleiben dürfen. Der Kopf summt uns zu sehr
morgen früh, wenn wir uns dagegen sperren und wehren; und es ist zwar
hübsch von Großmama, wenn sie nur von Rheumatismus spricht; aber das
rechte Wort ist es eigentlich nicht. Sie hätte ganz dreist Gicht sagen
können, gerade so gut wie der Herr Schwiegersohn und _Doctor medicinae_
da hinter seinem Punschglase, wenn er jetzt ein Gewissen hätte. Liebe
Kinder, wir sind beide über siebenzig Jahre alt, und --«
»Oh!...«
»Und wir sind sehr glücklich und behaglich. Sehr wohl ist uns zumute
und so wünschen wir euch allen zum erstenmal vor Ablauf des alten Jahres
ein glückliches neues.... Bitte, lieber Sohn, ich weiß, was du sagen
willst; aber wende dich damit an die Mama, die wird dich versichern, daß
deine Frau, unsere liebe Sophie da, heute über dreißig Jahre sicherlich
gleichfalls viel verständiger sein wird, als du. Wende dich an deine
Mutter, mein Schmeichelkätzchen Marie. Sie hat immer gemeint, du seiest
ganz ihr Vorbild, also wirst du wohl wissen, was in vierzig Jahren in
der Neujahrsnacht deine Meinung sein wird, wenn die unverständige Jugend
dir deinen Mann da verführen will. Schieben Sie die Kinder nicht so
heran, lieber Schwiegersohn, sie machen der Großmama nur das Herz
schwer. Es ist Zeit geworden für uns; -- -- -- ein fröhliches,
segensreiches Jahr ihr -- alle!...«
»Alle!« jubelten sie, und die Gläser hatten geklungen, und die Kinder,
die Enkel hatten sich zugedrängt und ihre kleinen Becher hingehalten,
ohne daß man sie dazu zu schieben brauchte. Sie hatten sehr gejubelt;
und die Tonwellen der Gläser und der Stimmen waren verklungen.
»Nun seid weiter vergnügt; aber die Kinder laßt ihr mir morgen
ausschlafen. Begleitung nehmen wir nicht mit, die Trepp' hinauf. Wir
finden unseren Weg schon allein, nicht wahr, Walter?« sagte die alte
Dame, die Großmutter des Hauses.


II.

Sie entschlüpften, wie man entschlüpft, wenn man das siebenzigste
Lebensjahr hinter sich hat. Langsam stiegen die beiden die
teppichbelegte Treppe in ihre Stube hinauf, der Greis gestützt auf den
Arm der Greisin; und dann waren sie allein miteinander, noch einmal
allein miteinander in der Neujahrsnacht.... Umgesehen hatten sie sich
nicht auf der Treppe und einen leisen Schritt, einen Kinderschritt, der
ihnen nachglitt, den hatten sie überhört. Ein so scharfes Ohr, wie vor
Jahren, hatte keins von den zwei Alten mehr; aber diesen Schritt, diesen
Geister-Kinderschritt würde auch wohl jedes andere jüngere Ohr überhört
haben. --
Auf dem Altenteil! Das kann eines der bittersten Worte sein, die das
Schicksal den Menschen in dieser Welt zuruft; aber auch eines der
behaglichsten. Für diese beiden Alten war es nach langer schwerer,
mühseliger Arbeit ein behagliches geworden. Sie fanden ihre Gemächer
durch ein verschleiertes Lampenlicht erhellt, ihre beiden Lehnstühle an
den warmen Ofen gerückt und:
»Mit dem Schlage Zwölf komme ich doch und poche an eurer Kammertür und
spreche meinen Wunsch durchs Schlüsselloch. Ihr braucht aber nicht
darauf zu hören; ich schicke ihn euch auch in den Schlaf hinein!« hatte
das jüngste und am jüngsten verheiratete Töchterlein als letztes Wort im
Festsaale da unten gesagt.
»O mein Gott, da sitzt ihr noch?« rief dieselbe junge Frau unter dem
Glockenklang und dem Neujahrschoral von den Türmen, unter dem plötzlich
aufklingenden Gassenjubel und dem Jubel der Kinder und Enkel in dem
Saale des Hauses. »Das ist doch ganz wider die Abrede, und heute übers
Jahr werden wir euch da unten bei uns fester halten, ihr Lieben, Bösen,
Besten!... Ein glückliches neues Jahr, Großpapa! ein glückliches neues
Jahr, Großmama!«
Da stand ein niedrig lehnenloses Sesselchen mit einem verblaßten
gestickten Blumenstrauß darauf neben den zwei Stühlen der Greise. Die
junge Frau, nachdem sie den Vater und die Mutter mit ihren Küssen fast
erstickt hatte, saß nieder auf dem kleinen Stuhl und hatte keine Ahnung
davon, wer eben vor ihr darauf gesessen und die Mutter und den Vater
gegen die Abrede und gegen ihren eigenen festen Vorsatz wach gehalten
hatte über die Mitternachtsstunde hinaus und aus dem alten Jahr in das
neue hinein! Mit leise bebender Hand strich die alte Frau die blonden
Haare der Tochter aus dem lebensfreudigen, glühenden, erhitzten
Gesichte. Die blonden Locken, die sich eben vor ihr ringelnd bewegt
hatten, waren schon vor vierzig Jahren zu Staub und Asche geworden: die
junge Frau wußte nichts von ihnen, oder doch nur gerüchtweise. Lange vor
ihrer Geburt war das erste, das älteste Kind gestorben, zwölf Jahre alt.
Ein halbverwischtes Pastellbildchen, das über der Kommode der Mutter,
der Großmutter des Hauses, hing, war alles, was von ihm übrig geblieben
war in der Welt.
Alles?


III.

Ein leiser Schritt, ein unhörbarer Schritt; -- ein Geister-Kinderschritt
in der Silvesternacht!... Wir haben gesagt, daß die beiden Greise vor
einer Stunde die Treppe zu ihren Gemächern hinaufgestiegen und ihn, wie
wir übrigen alle, nicht vernahmen. Ganz war es doch nicht so.
Als der alte Herr der alten Dame mit immer noch zierlicher Höflichkeit
die Tür öffnete, um sie zuerst über die Schwelle treten zu lassen, hatte
die Frau einen Augenblick gezögert und zurückgesehen und gehorcht.
Der alte Herr glaubte, sie horche noch einmal auf den fröhlichen Lärm,
auf das heitere Stimmengewirr der Neujahrsnacht dort unten im Festsaal
des Hauses.
»Sie sind gottlob recht heiter,« meinte er, »wüßte auch nicht, weshalb
nicht. Und auch wir, -- Mutter! -- nicht wahr, Alte?... Wie spät ist es
denn eigentlich? Elf Uhr! Noch früh am Tage, wenngleich wirklich ein
wenig spät im Jahre.«
»Ja, Walter!« hatte die Greisin erwidert, aber nur, um doch eine Antwort
zu geben. »Ich hörte eigentlich nicht auf dich; ich dachte an unser
Ännchen,« fügte sie hinzu, als sich die Tür hinter ihnen geschlossen
hatte und sie in der letzten Stunde des ablaufenden Jahres mit sich
allein waren.


IV.

Das junge Volk! Längst hat es drei Viertel des Hauses nach seinem
Geschmack und Bedürfnis eingerichtet und mit vollem Rechte des Lebens.
An das Reich der beiden Alten hat keine Hand gerührt; außer dann und
wann eine Kinderhand, deren volles Recht des Lebens es freilich ist und
immerdar sein wird, in der Großväter und der Großmütter Hausrat,
Schubladen und Schränken zu wühlen und zu kramen und sich die vom Anfang
der Welt an dazugehörigen erstaunungswürdigen, lustigen und traurigen
Geschichten erzählen zu lassen.
Es war einmal!... oh, noch einmal von dem, was war!... Und so war es
gekommen, daß die jüngste Tochter des Hauses die Eltern um Mitternacht
noch wach fand unter den Glocken, die das neue Jahr einläuteten. Eine
Kinderhand aber war es wiederum gewesen, die an den Schleiern der
Vergangenheit gezupft hatte: »Es war einmal! Ich bin da! -- Mama, du
sagst in dieser Stunde nicht: Man hat doch keinen Augenblick Ruhe vor
dir, Kind! -- Ich bin da; und nun laßt mich sitzen auf meinem Stuhl,
laßt uns erzählen: Es war einmal!... laßt uns erzählen von dem, was
einmal war!«...
Und sie hatten davon erzählt, die beiden Greise nämlich. Das Kind hatte
nur drein gesprochen.
»Sie wäre gewiß auch eine stattliche Frau und eine gute geworden,« sagte
die alte Dame. »Ich meine, am meisten hätte sie wohl der Theodore
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