Der Junker von Denow; Ein Geheimnis; Ein Besuch; Auf dem Altenteil: Erzählungen - 4

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Verurteilten das Abendmahl gereicht.
Nun war auch das geschehen; in die letzten Klänge der Orgel mischte sich
grell und schneidend ein anderer Klang -- der Schall des
Armensünderglöckchens: Der Henker wartete an der Tür des Hauses Gottes!
Im langsamen Zug traten die Verurteilten und Gefangenen, von ihren
Wächtern umgeben, hinaus aus der Schloßkirche, vor welcher sie die
harrende Menge mit wildem Geschrei und Droh- und Schmähworten empfing.
Der schwere Gang begann, in das goldne Morgenrot hinein, über den
Schloßplatz, die Dammbrücke, durch die Heinrichsstadt dem Kaisertor zu.
Alle Gassen, durch welche der Zug ging, waren mit herzoglichen Reitern
und den gewaffneten Bürgern besetzt, um den Andrang des Volks zu
bändigen.
Vor dem Kaisertor waren die vier Galgen gebaut, woran die vierundzwanzig
Leben enden sollten. Fast eine halbe Stund verging, ehe die Verurteilten
unter ihnen standen. Der Ring war geschlossen auf zwei Seiten von den
Hellebardierern, auf den beiden andern Seiten von den Musketenschützen,
deren Röhre auf den Gabeln lagen, deren glimmende Lunten zum
augenblicklichen Gebrauch aufgeschroben waren. Dicht vor dem Gefreiten
Arendt Jungbluth hielten sich Erdwin Wüstemann und der Junker Christoph
von Denow.
Der Alte hatte den Arm um seinen jungen Herrn geschlungen, und dieser
das Haupt an die Brust des treuen Knechts gelegt. Sie sprachen leise
zueinander.
»Weiß nicht, wo sie geblieben ist! weiß nicht, wo sie bleibt!« sagte der
Alte.
»Sie hat mich nicht sterben sehen wollen; -- 's ist auch besser so! O
schütze sie -- halte sie, trag sie auf den Händen und im Herzen und
verlaß sie nie und nimmer -- ich will meiner Mutter von ihr sagen, wenn
ich zu ihr komm'.«
»O Junker, Junker, und Euer Vater« --
»Vergiß nicht, was du ihm versprochen hast.«
»Es wird geschehen, so wahr mir Gott helfe!« sagte dumpf der Alte.
»Schau, es geht an -- da hast du den Ring -- mein Schwert liegt versenkt
im Moor, es ist ein gutes, tadelloses Schwert geblieben! -- Ihr sag -- o
Anneke! Anneke!« Der Junker brach ab; er vermochte es nicht, weiter zu
sprechen.
Unterdessen war eine Totenstille in der Menschenmenge eingetreten, die
aber jedesmal, wenn die Henker einen der Meuterer des Reichsheeres von
der Leiter stießen, in ein gräßliches, langanhaltendes Geheul, durch
welches scharf das Wirbeln der Trommel klang, überging. -- --
Dreiundzwanzig Mal hatte das Volk aufgeschrien. --
»Christoph von Denow!« rief nun der Profoß mit lauter Stimme.
Zum letztenmal lagen sich Christoph und Erdwin in den Armen.
»Lebe wohl! lebe wohl!« flüsterte der erste -- »vergiß nicht!« --
»So gnade Gott mir und Euch!« schrie der Knecht Wüstemann und strich die
langen greisen Haare aus der Stirn zurück. Der Junker von Denow stand
am Fuße der Leiter!
Er drückte die Hand auf das Herz und setzte den Fuß auf die erste
Staffel: »O Anneke, süße Anneke!«
Der Gedanke kam ihm, er würde sie erblicken in der Menge, welche wieder
in unheimlichster Stille den Richtplatz bedeckte; mit einem Sprung war
er oben an der Seite des Henkers, der ihn mit dem Strick in der Hand
erwartete. Er stieß die Hand desselben zurück -- seine Augen schweiften
über all die Tausende emporgerichteter Gesichter. --
»O Anneke Mey, liebe Anneke, wo bist du? wo bist du? weshalb hast du
mich verlassen?!«
Wieder streckte der Henker die Hand nach ihm aus; er hielt ein Blech,
auf welchem die Worte standen »Meutmacher und Meineidiger« und wollte es
dem Verurteilten an einem Bande um den Hals werfen.
»Lebe wohl, süße Anneke Mey!« flüsterte Christoph von Denow; er schlug
die Hand des Henkers abermals zur Seite, klirrend fiel das Blech, die
Leiter nieder, zur Erde. --
Mit einem wilden, entsetzlichen Schrei sprang Erdwin Wüstemann einen
Schritt zurück, mit einem Griff riß er das Feuerrohr aus den Händen
Arendt Jungbluths und an seine Wange. Der Schuß krachte -- »Gnade Gott
mir und dir!«
»Dank, Erdwin -- hast -- Wort gehalten!« sprach Christoph von Denow. Er
schwankte -- breitete die Arme aus: »Lebe -- wohl -- süße -- Anneke!«
Der entsetzte Henker wollte ihn halten, aber im dumpfen Fall stürzte der
Körper die Leiter herab in den blutigen Schnee.
Aufbrüllte die Menge und tobte durcheinander, der Ring löste sich -- die
Offiziere, die Beamten, der Gewaltiger stürzten sich auf den Knecht
Erdwin, welcher regungslos dastand, das abgeschossene Rohr in der Hand.
Und jetzt ein neues Geschrei von der Stadt her: »Haltet, haltet!«
Ein Reiter mit einem Papier in der Hand, im Galopp ansprengend! Ihm nach
ein zweiter Reiter, vor sich auf dem Pferd ein halbohnmächtiges,
todtbleiches Mädchen. --
»Halt, halt! Befehl, den Verurteilten Christoph von Denow zurückzuführen
ins Gewahrsam!«
Anneke Mey leblos auf dem leblosen Körper des Erschossenen -- Erdwin
Wüstemann besinnungslos in den Armen Arendt Jungbluths -- -- --
Trompetenschall von der Torwache; von der Stadt her eine neue
Reiterschar: »Der Herzog! der Herzog! -- Zu spät! zu spät!« -- -- -- --
In dem wiedergebildeten Ring hielt der junge Fürst mit seinem Gefolge;
vor ihm stand barhäuptig der Profoß neben der schrecklichen Gruppe am
Boden und erzählte das Vorgefallene. Als er geendet, stieg der junge
Fürst ab von seinem Hengst und näherte sich dem treuen Knecht des Hauses
Denow:
»Weshalb hast du das getan?«
Der Angeredete blickte irr und wirr im Kreise umher, antwortete nicht,
sondern brach nur in ein herzzerreißendes Gelächter aus.
Der Herzog legte die Hand an die Stirn; -- dann wandte er sich:
»Hebt doch das Kind von der Leiche!«
Der Leutnant von der Festung, Johannes Sivers, beugte sich nieder, um
dem Befehl nachzukommen. Es gelang ihm mit Mühe:
»O gnädiger Gott, tot, tot, fürstliche Gnaden!«
Ein dumpfes Gemurmel ging durch die lauschende Menge; der Fürst schritt
finster sinnend einige Minuten auf und ab. Dann hob er das Haupt:
»Bei meinen Vätern, ich glaub', da ist ein bös Ding getan! leget die
Dirne und den toten Knaben auf die Gewehrläufe -- es ist Unsere Meinung
und Wille, daß das Gericht wieder beginne. Wir sind entschlossen,
selbsten im Ring zu sitzen!«
Während dieser letzten Worte hatte sich Erdwin Wüstemann langsam
aufgerichtet; jetzt stand er wieder fest auf den Füßen. Der Herzog
bemerkte es, er legte ihm die Hand auf die Schulter:
»Ihr habet hart und schnell in unser Gericht eingegriffen. Stehet zu mir
nun auch im Ring, daß die Wahrheit an den Tag kommt! Nachher, wenn's
sich ausgewiesen hat, wie ich es mir zusammendenke, wollen Wir, daß Ihr
die dort gen Ungarn führet als Unser Ehrbarer, Mannhafter und Getreuer!
Höret Ihr, Hauptmann Erdwin Wüstemann?! Nun hebet die Leichen und rühret
die Trommeln -- fort! fort!«
Über der blutigen Morgenröte hatten sich die Wolken wieder dunkel
zusammengezogen. Wieder sanken leise einzelne weiße Flocken herab. Sie
mehrten sich von Augenblick zu Augenblick und deckten bald, einem
Leichentuch gleich, die Körper Christophs und Annas, wie sie durch die
Gassen der Stadt Wolfenbüttel, dem Zuge der Krieger und Bürger voran,
dicht hinter dem Gefolge des Herzogs, welcher mit gesenktem Haupte
vorausritt, der Gerichtsstätte am Schloß zugetragen wurden. Der alte
Knecht Erdwin ging neben seinem jungen Herrn her; aber er wußte nichts
davon -- dunkel war es in ihm und um ihn! --
=So starb der Junker Christoph von Denow eines adeligen Todes!=


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* Ein Geheimnis *
* *
* Lebensbild aus den Tagen Ludwigs XIV. *
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I.
In der Gasse Quincampoix.

Wenn man bedenkt, was für wunderliche Geschichten in dieser Welt
tagtäglich geschehen, so muß man sich sehr wundern, daß es immerfort
Leute gegeben hat und noch gibt, welche sich abmühten und abmühen,
selbst seltsame Abenteuer zu erfinden und sie ihren leichtgläubigen
Nebenmenschen durch Schrift und Wort für Wahrheit aufzubinden. Die
Leute, die solches tun, verfallen denn auch meistens -- wenn sie ihr
leichtfertig Handwerk nicht ins Große treiben und was man nennt große
Dichter werden, -- der öffentlichen Mißachtung als Flausenmacher und
Windbeutel, und alle Vernünftigen und Verständigen, die sich durch ein
ehrlich Handwerk ernähren, als wie Prediger, Leinweber und Juristen,
Bürstenbinder, Ärzte, Schneider, Schuster und dergleichen, blicken mit
mitleidiger Geringschätzung auf sie herab, und das mit Recht!
So sage ich denn reu- und wehmütig _confiteor, confiteor; -- mea culpa,
mea culpa!_ so beginne ich denn meine -- =wahre Geschichte=.
Es war in dem durch die Seeschlacht von La Hogue für das Glück und den
Glanz des französischen Königs und Volkes so unheilvollen Jahre 1692.
Viel Not und Elend herrschte im Lande; in Guienne, Bearn, Languedoc und
der Dauphinée starben die Menschen zu Tausenden vor Hunger; Bankerotte,
greuliche Mordtaten, Aufstände waren an der Tagesordnung; -- es war, als
wolle es abwärts gehen mit dem großen Louis. Es regnete, und der
Novemberwind fuhr in kurzen Stößen scharf über die Stadt Paris und durch
die Gasse Quincampoix, welche letztere gar wüst, schmutzig und
verwahrlost ausschauete. Und sah die Gasse Quincampoix an diesem düstern
Novembernachmittag häßlich aus, so gewährten die Menschen, welche sie
bevölkerten, einen noch schlimmern Anblick. War es nicht, als ob das
allgemeine Unglück jedem Gesicht seinen Stempel aufgedrückt habe? -- O
wie verkommen erschien diese französische Nation, welche sich für die
erste der Welt hielt.
Vier Uhr schlug's, als ein junger Mensch von ungefähr achtundzwanzig
Jahren, hager, bleichgelblich von Gesicht, schwarzhaarig, schwarzäugig,
in luftigen, ärmlichen, schäbigen Kleidern, in der Gasse Quincampoix in
die Kneipe zum Dauphinswappen trat, um seine letzten Sols an eine
Mahlzeit zu wenden. =Stefano Vinacche= hieß dieser junge Mann; ein
Neapolitaner war er von Geburt, ein Abenteurer vom reinsten Wasser. Als
er in die Gargotte eintrat, herrschte in derselben ein wahrer
Höllenlärm; ein Sergeant vom Regiment Villequier war mit einem Kornet
vom Regiment Ruffey über dem Spiele in Streit geraten, ein
Perückenmacher zankte mit einem Lakaien der Prinzessin von Conti über
die Frage: ob es recht sei, daß Monsieur de Pomponne, der
Staatsminister, so viel einzunehmen habe, als ein Prinz von Geblüt; --
andere Gäste unterhielten sich über andere Gegenstände mit so viel Lärm
als möglich. Im Hinterzimmer, welches an die Kneipstube grenzte, war ein
äußerst hitziger Wortkampf ausgebrochen zwischen dem Wirt zum
Dauphinswappen, Claude Bullot, und seiner hübschen galanten Tochter, --
kurz, alles ging drunter und drüber, und nur Margot die Kellnerin, eine
Picarde, bewahrte ihren Gleichmut, blickte vom Kamin aus mit
untergeschlagenen Armen in das Getümmel und gab Achtung, daß dem
Sergeanten und dem Kornet jede zerbrochene Flasche, jedes zertrümmerte
Glas richtig angekreidet wurden. Margot die Picarde wußte, daß im
Notfall die Marechaussée in der Gaststube alles schon ins Gleichgewicht
bringen würde, und was im Hinterzimmer vorging, zwischen ihrem Herrn und
der Mademoiselle, machte ihr das höchste Vergnügen. --
Am Kamin legte Margot die Picarde dem Neapolitaner das Kuvert, und der
Fremde war allzu ausgehungert und allzu naß, um anfangs an etwas anderes
zu denken, als den Hunger aus dem Magen und die Kälte aus den übrigen
Gliedern zu verjagen. Ruhig setzte er sich auf den ihm angewiesenen
Platz, aß und trank, trocknete seine Kleider, bis er allgemach wieder
auflebte und fähig wurde, seine Aufmerksamkeit den Vorgängen in seiner
Umgebung zuzuwenden. Der Sergeant vom Regiment Villequier erhielt
richtig einen Degenstoß in die Schulter, verhaftet wurde darüber der
Kornet vom Regiment Ruffey; die Bürger, Lakaien, Diebe und Tagediebe
zerstreuten sich mit einbrechender Dämmerung, um sich vor der Dunkelheit
zu retten, oder in der Dunkelheit ihren lichtscheuen Geschäften
nachzugehen. Es wurde still in der Gargotte, nur im Hinterzimmer konnte
man sich immer noch nicht beruhigen. In der Tür, welche auf die Gasse
führte, stand die Kellnerin Margot und blickte in den Regen und die
Nacht hinaus, das Feuer im Kamine prasselte und knatterte und warf
seinen roten Schein über die Tische und Bänke des weiten Gemaches, die
trübe Hängelampe qualmte an der geschwärzten Decke; niemand störte jetzt
mehr den jungen Neapolitaner in seinen trüben Gedanken. Mechanisch
klimperte er mit den wenigen Geldstücken in seiner Tasche; -- was sollte
er beginnen, um nicht Hungers zu sterben, um nicht in den Gassen dieses
schmutzigen, kalten, stinkenden Paris zu erfrieren? »O Neapel, Neapel!«
seufzte Stefano Vinacche.
Jawohl, etwas anderes war es, eine Nacht obdachlos am Strande des
tyrrhenischen Meeres, ein anderes, eine Nacht obdachlos am Ufer der
Seine zuzubringen. Eine Art stumpfsinniger Schlaftrunkenheit überkam den
jungen Italiener, seine Augen schlossen sich unwillkürlich, und immer
dumpfer und verworrener vernahm er das Schluchzen der Mademoiselle
Bullot und die kreischende Stimme des zornigen Vaters.
Aber was war das? Plötzlich schwand jedes Zeichen von Ermüdung, von
Erschöpfung an dem Italiener. Vorgebeugt saß er auf seinem Stuhle und
horchte mit der gespanntesten Aufmerksamkeit nach der Tür hin, welche in
das Hinterzimmer führte. Das Wechselgespräch zwischen Vater und Tochter
war dem Fremden auf einmal interessant geworden durch einen Namen, der
soeben mehrere Male darin vorgekommen war.
Immer gespannter horchte Vinacche.
Hatte nicht Meister Claude Bullot, ehe ihm Monseigneur der Herzog von
Chaulnes die Kneipe zum Dauphinswappen einrichtete, als Seifensieder
Bankerott gemacht?
War nicht Mademoiselle Bullot ein reizendes Schätzchen, dem man schon
etwas zu Gefallen tun konnte?
Hoch spitzte Stefano Vinacche die Ohren beim Namen des Herzogs von
Chaulnes.
»Oho, Stefano, solltest du da unvermutet in den Honigtopf gefallen sein?
Oho, Glück geht immer über Verstand, -- _va' piu un' oncia di fortuna,
che una libra di sapere_. Achtung, Achtung, Vinacche!«
Mancherlei sprach der Vater im Hinterzimmer der Kneipe zum Wappen des
Dauphins. Mancherlei sprach das Töchterlein dagegen; immer fröhlicher
rieb sich Stefano die Hände, bis endlich die Verbindungstür mit Macht
aufgerissen wurde und Mademoiselle -- _éplorée_ in das Schenkzimmer
stürzte. Hinter ihr erschien der zornige Papa, einen zusammengedrehten
Strick in der Hand:
»Warte, Kreatur!«
Stefano Vinacche wußte schon längst, was er zu tun hatte. Er warf sich
auf den ergrimmten Gargottier und packte seinen erhobenen Arm.
»Monsieur?!«
»Monsieur!«
»Laßt mich frei! was fällt Euch ein?«
»Ich leid's nicht, daß Ihr Mademoiselle mißhandelt; -- tretet hinter
mich, Mademoiselle!«
»Margot, Margot!« rief endlich der Wirt zum Dauphinswappen.
Margot erschien, stemmte aber nur die Arme in die Seite und sah der
Szene zu, ohne ihrem Herrn zu Hilfe zu kommen.
»Haltet ihn, um Gottes willen, haltet ihn, er wird mich ermorden, wenn
Ihr ihn freilaßt!« rief Mademoiselle Bullot.
»Seid ruhig, Schönste; er soll Euch nichts zuleide tun. Pfui, schämt
Euch, Monsieur, wie könnt Ihr eine liebenswürdige Tochter also
behandeln?«
»Ich frage Euch zum letztenmal, wollt Ihr mich loslassen?«
»In Ewigkeit nicht, wenn Ihr mir nicht den Strick gebt, Signor, und
versprecht artig zu sein gegen die Damen, Signor!«
»Morbleu!« schrie der Wirt zum Dauphinswappen, und der Himmel weiß, was
geschehen wäre, wenn nicht der Eintritt eines in einen Mantel
gewickelten Mannes der Szene ein Ende gemacht hätte.
Der Mantel fiel zur Erde, und Wirt und Töchterlein und Kellnerin und
Italiener riefen mit einer Stimme:
»Monseigneur!«
Der Eingetretene war Karl d'Albert, Herzog von Chaulnes, Pair von
Frankreich, Vidame von Amiens, ein ältlicher Mann, dem man den »großen
Herrn« nicht im mindesten ansah, woran der bürgerliche Anzug durchaus
nicht schuld war; ein Mann, von welchem einige Jahre später ein
deutscher Schriftsteller sagte: »Er erwartet den Tod mitten in seinen
Vergnügungen; er ist freigebig ohne Unterschied und von einem sehr
abgenutzten Gehirne.«
»Holla, das geht ja lustig her!« rief der Herzog. »_Notre Dame de
Miracle_, und auch Vinacche dabei! Sagt mir um aller Teufel willen --«
Mademoiselle Bullot ließ ihn nicht aussprechen; sie eilte auf den hohen
Herrn zu und -- warf sich an seinen Hals, schluchzend, Gift und Galle
speiend:
»Monseigneur, ich halt's nicht mehr aus; Monseigneur, errettet mich aus
den Händen meines Vaters! Wäre dieser edle junge Mann eben nicht
dazwischen gekommen, er hätte mich gewißlich zu Tode geschlagen.«
»Wieder das alte Lied? Bullot, Bullot, ich frage Euch um Gottes willen,
glaubt Ihr in der Tat, ich habe Euch Eurer roten Nase wegen zum
Eigentümer dieses Dauphinswappens gemacht? Ich sage Euch, auf den Knieen
solltet Ihr Eure liebenswürdige Tochter verehren; -- _notre Dame de
Miracle_, ich sage Euch zum allerletzten Male, behandelt Mademoiselle,
wie es sich ziemt, oder --«
»O Monseigneur!« flehte Meister Claude, welcher seinen Strick längst
ganz verstohlen in den Winkel geworfen hatte und katzenbuckelnd so
gemein und niederträchtig aussah, wie man unter der Regierung des
großen Louis nur aussehen konnte. »O Monseigneur, ich versichere Euch,
=sie= hat's darauf abgesehen, ihren unglückseligen Vater in ein
frühzeitig Grab zu bringen. Monseigneur, Ihr kennt sie nur von der einen
Seite; aber ich -- o Monseigneur!« --
»Still! Ihr seid ein Schurke, und Mademoiselle ist ein Engel! --
beruhige dich, Kind --«
»Monseigneur, er ist zu boshaft. Monseigneur, wenn Ihr mich wirklich
liebt, so laßt mich nicht in seiner Gewalt.«
»Ruhig, ruhig, süßes Kind. Was ist denn nur eigentlich vorgefallen?«
Ja, was war vorgefallen?
Eine Zungenfertigkeit sondergleichen entwickelten Mademoiselle Bullot
und Meister Claude Bullot gegeneinander, doch haben wir mit dem
Ausgangspunkte des Streites nicht das mindeste zu schaffen und brauchen
nur zu sagen, daß der Herzog von Chaulnes, obgleich er im Grunde seines
Herzens dem erzürnten Papa recht geben mußte, in Anbetracht seiner
zarten Stellung zu Mademoiselle sich auf deren Seite stellte. Sehr
ärgerlich war der Herzog von Chaulnes! In äußerst lebendiger Stimmung
war er durch die Gasse Quincampoix zum Dauphinswappen geschlichen, nun
fand er statt Ruhe und Behagen, Unzufriedenheit und Streit; wo er
Lächeln und Lachen erwartet hatte, mußte er Tränen trocknen; -- _notre
Dame de Miracle_, es war zu ärgerlich!
»Etienne,« sagte der Herzog zu Vinacche, »Etienne, ich bin dieses Lärms
müde; ich will nach Haus und du magst mit mir kommen. Meister Claude,
ich versichere Euch meiner gnädigsten Ungnade! Mademoiselle, Eure
rotgeweinten Augen betrüben mich sehr -- gute Nacht, Mademoiselle --
dazu zweihundert Louisdor im Landsknecht verloren -- kommt, Etienne
Vinacche, Ihr mögt mit mir zum Hotel fahren, ich habe Euch etwas zu
sagen; ich habe eine Idee!«
Vergebens hing sich Mademoiselle Bullot an den Arm des Herzogs mit den
süßesten Schmeicheleien und Liebkosungen. Er machte sich los, streckte
dem niedergeschmetterten Wirt zum Dauphinswappen eine Faust entgegen,
ließ sich von Vinacche den Mantel wieder um die Schultern legen und
verließ, im höchsten Grade mißmutig gestimmt, mit seiner »Idee« die
Gargotte, in welcher nach seinem Abzuge der Tanz zwischen Vater und
Tochter von neuem anging, doch diesmal mit allem Vorteil auf Seiten von
Mademoiselle. Meister Claude Bullot sah ein, daß er ein Esel -- ein
gewaltiger Esel war; demütig kroch er zu Kreuze und nahm jede Injurie,
welche ihm das Töchterlein an den Kopf warf, mit gekrümmtem Rücken in
Empfang.
Unterdessen wateten mühsam der Herzog und der Italiener durch den
Schmutz und die Gefahren der Gassen von Paris, bis sie an einer Ecke zu
der harrenden Karosse des Herzogs gelangten. Mit tiefen Bücklingen riß
der Lakai den Wagenschlag auf.
»Steig hinten auf, Etienne; ich habe mit dir zu reden,« sagte der Herzog
und warf sich in die Kissen seiner Kutsche.
»Achtung, Stefano, jetzt mag's in deinen Topf regnen!« murmelte der
schlaue Neapolitaner, und schwerfällig setzte sich die Karosse in
Bewegung.


II.
Gold.

Während vor dem flackernden Kaminfeuer in seinem Hotel der Herzog von
Chaulnes dem obdachlosen Vagabunden Stefano Vinacche den annehmbaren
Vorschlag tut, Mademoiselle Bullot, das liebenswürdige Erzeugnis der
Gasse Quincampoix, zu -- heiraten und dadurch nicht nur sich selbst,
sondern auch Monseigneur aus mancherlei ärgerlichen Verdrießlichkeiten
des Lebens herauszureißen, wollen wir erzählen, wer Stefano Vinacche
eigentlich war. Im Jahre 1689 war der junge Neapolitaner als Lakai im
Gefolge des Herzogs, dem er zu Rom mancherlei Dienste kurioser Art
geleistet haben mochte, nach Frankreich gekommen, ohne jedoch in diesem
Lande anfangs die Träume, welche ihm seine südliche Phantasie
vorspiegelte, zu verwirklichen. Es wird uns nicht gesagt, was ihn im
folgenden Jahre schon aus dem Dienste seines Gönners trieb, und ihn
bewog, sich als gemeiner Soldat in das Regiment Royal-Roussillon
aufnehmen zu lassen. Wir wissen nur, daß er im Jahre 1691 dem
Regimentsschreiber Nicolle, seinem Schlafkameraden, einige
Offiziersuniformen, welche derselbe ausbessern sollte, stahl und mit
ihnen desertierte, welches Wagestück aber fast übel abgelaufen wäre. Auf
dem Wege nach Paris, der Stadt, nach welcher von jeher eine dumpfe
Ahnung künftiger Geschicke das seltsame Menschenkind trieb, gefangen und
als Fahnenflüchtiger ins Gefängnis geworfen und zum Tode verurteilt,
entging er nur durch Verwendung des Grafen von Auvergne dem Galgen. Im
nächsten Jahre in Freiheit gesetzt, machte sich Stefano Vinacche von
neuem auf den Weg nach Paris, und haben wir seiner Ankunft in der
Gargotte zum Wappen des Dauphins in der Gasse Quincampoix soeben
beigewohnt. --
Ei, wie wunderlich, wunderlich spinnt sich ein Menschenleben ab! Wir
armen blinden Leutlein auf diesem Erdenballe wandern freilich in einem
dichten Nebel, der sich nur zeitweilig ein wenig hier und da lüftet, um
im nächsten Augenblicke desto dichter sich wieder zusammenzuziehen. Wir
getriebenen und treibenden Erdbewohner haben freilich nur eine dumpfe
Ahnung von dem, was im Getümmel ringsumher vorgeht. Warum sollten wir
uns auch in der kurzen Spanne Lebenszeit, die uns gegeben ist, viel um
andere Leute bekümmern, da wir doch so viel mit uns selbst zu tun haben?
Über allen Nebeln ist Gott; der mag zusehen, daß alles mit rechten
Dingen zugeht; der mag acht geben, daß sich der Faden der Geschlechter,
welchen er durch die Jahrtausende von dem Erdknäuel abwickelt, nicht
verwirrt. Nur weil sie abgewickelt werden, drehen sich Sonne, Mond,
Sterne; -- von jeder leuchtenden Kugel läuft ein Faden zu dem großen
Knäuel in der Hand Gottes, zu dem großen letzten Knäuel, in welchem
jeglicher Knoten, der unterwegs entstanden sein mochte, gelöst sein
wird, in welchem alle Fäden nach Farben und Feinheit harmonisch sich
zusammenfinden werden.
Da ist solch ein Knötlein im Erdenfaden! wir finden es in unsrer
Erdgeschichte am Ende des siebenzehnten und Anfang des achtzehnten
Jahrhunderts nach Jesu Geburt, wo viel Sünde, Schande und Verderbnis
sich häßlich ineinander schlingen, wo Krieg und Sittenlosigkeit das
abscheulichste Bündnis geschlossen haben, daß das jetzige Gechlecht
schaudernd darob die Hände über dem Kopfe zusammenschlägt.
Der Erzähler aber, des letzten großen knotenlosen Knäuels in der Hand
Gottes gedenkend, schlägt nicht die Hände über dem Kopfe zusammen; --
den Handschuh hat er ausgezogen, mutig in die Wüstenei hineingegriffen,
einen längst begrabenen, vermoderten, vergessenen Gesellen
hervorgezogen. Da ist er -- =Stefano Vinacche= -- späterhin Monsieur
Etienne de Vinacche, großer Arzt, berühmter Chemiker, -- Goldmacher,
nächst Samuel Bernard der reichste Privatmann seiner Zeit!...
»Also Etienne,« sprach der Herzog von Chaulnes zu dem halb verhungerten,
obdachlosen Vagabunden, »eine allerliebste Frau und eine vortreffliche
Aussteuer....«
»_Servitore umilissimo!_«
»Und, Etienne, eine Empfehlung an meinen Freund, den Herzog von Brissac.
Ihr geht nach Anjou, -- lebt auf dem Lande, wie die Engel _à la Claude
Gillot_, -- ich besuche Euch -- stehe Gevatter --«
»Ah!« machte der Italiener mit einer unbeschreiblichen Bewegung des
ganzen Oberkörpers.
»_Plait-il?_«
»O nichts, Monseigneur!« sagte der Italiener. »Ihr seid mein
gnädigster, gütigster Herr und Gebieter.« Er machte eine Verbeugung bis
auf den Boden.
»Wann soll die Hochzeit sein, Monseigneur?«
»So schnell als möglich -- ach!«
»Monseigneur seufzt?!« rief Stefano schnell. »Noch ist's Zeit, daß
Monseigneur Sein Wort zurücknehme; Mademoiselle Bullot ist ein reizendes
Mädchen; aber wenn Monseigneur die hohe Gnade haben wollte, mich wieder
zu seinem Kammerdiener zu machen --«
»Nein, nein, nein, es bleibt dabei, Vinacche; Ihr heiratet die Schöne,
und ich -- _ah notre Dame de Miracle_ -- ich will hingehen und sorgen,
daß Madame von Maintenon und der Pater La Chaise davon zu hören
bekommen. Also geht, Vinacche; bis zur Hochzeit gehört Ihr wieder zu
meinem Haus. Der Intendant soll für Euch sorgen.«
»Monseigneur ist der großmütigste Herr der Welt!« rief Vinacche, dem
Herzog die Hand küssend. Unter tiefen Bücklingen schritt er rücklings
zur Tür hinaus, und tief seufzend blickte ihm sein Gönner nach.
Als sich die Tür hinter dem Italiener geschlossen hatte, murmelte
dieser: »_Corpo di Bacco_, Achtung, Achtung, Vinacche, Stefano mein
Söhnchen! Halte die Augen offen, mein Püppchen! Ist's mir nicht
versprochen bei meiner Geburt, daß ich vierspännig fahren sollte in der
Hauptstadt der Franzosen?!«
Drinnen rieb sich der Herzog die Stirn und ächzte:
»Ach, Madame von Maintenon ist eine große Dame! _Vive la messe!_«
Acht Tage nach dem eben Erzählten war eine Hochzeit in der Gasse
Quincampoix. Der Wirt zum Dauphinswappen Claude Bullot verheiratete zu
seiner eigenen Verwunderung und zur Verwunderung sämtlicher Nachbaren
und Nachbarinnen seine hübsche Tochter mit einem ganz unbekannten jungen
Menschen, der nicht einmal ein Franzose war. Mancherlei Glossen wurden
darüber gemacht, und allgemein hieß es, Mademoiselle Bullot sei eine
Törin, welche nicht wisse, was man mit einem hübschen Gesicht und
tadellosen Wuchs in Paris anfangen könne.
Da aber Mademoiselle Bullot und Stefano Vinacche mit ziemlich vergnügten
Mienen ihr Schicksal trugen, so mochten Papa und Nachbarschaft nach
Belieben sich wundern, nach Belieben Glossen machen. Sämtliche
Dienerschaft des Herzogs von Chaulnes verherrlichte die Hochzeit durch
ihre Gegenwart; Flöten und Geigen erklangen in der Gargotte zum Wappen
des Dauphins. Man sang, jubelte, trank auf das Wohl der Neuvermählten
bis tief in die Nacht. Zuletzt artete das Gelage nach der Sitte der Zeit
in eine wahre Orgie aus; blutige Köpfe gab's, und zum Schluß mußte der
Polizeileutnant einschreiten und die ausgelassene Gesellschaft
auseinander treiben. Am folgenden Tage machte das junge Paar sich auf
den Weg zum Gouverneur von Anjou, dem Herzog von Brissac, einem »armen
Heiligen, dessen Name nicht im Kalender steht«.
Ein tüchtiges Schneegestöber wirbelte herab, als der Wagen der
Neuvermählten hervorfuhr aus der Gasse Quincampoix. Auf der Schwelle
seiner Tür stand der Vater Bullot mit der Kellnerin Margot, und beide
blickten dem Fuhrwerk nach, so lange sie es sehen konnten. Dann zog der
Wirt zum Dauphinswappen die Schultern so hoch als möglich in die Höhe
und trat mit der Picarde zurück in die Schenkstube, welche noch deutlich
die Spuren der Hochzeitsnacht an sich trug.
»Alles in allem genommen, ist's doch ein Trost und ein Glück, daß ich
sie los bin,« brummte der zärtliche Papa. »Es hätte noch ein Unglück
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