Der junge Gelehrte: Ein Lustspiel in drei Aufzügen - 1

Total number of words is 4288
Total number of unique words is 1321
41.5 of words are in the 2000 most common words
54.2 of words are in the 5000 most common words
59.3 of words are in the 8000 most common words
Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
Der junge Gelehrte
Ein Lustspiel in drei Aufzügen
Gotthold Ephraim Lessing
Verfertigt im Jahre 1747

Personen:
Chrysander, ein alter Kaufmann Damis, der junge Gelehrte, Chrysanders
Sohn Valer Juliane Anton, Bedienter des Damis Lisette
Der Schauplatz ist die Studierstube des Damis.


Erster Aufzug


Erster Auftritt
Damis (am Tische unter Büchern). Anton.

Damis. Die Post also ist noch nicht da?
Anton. Nein.
Damis. Noch nicht? Hast du auch nach der rechten gefragt? Die Post
von Berlin--
Anton. Nun ja doch; die Post von Berlin; sie ist noch nicht da! Wenn
sie aber nicht bald kömmt, so habe ich mir die Beine abgelaufen. Tun
Sie doch, als ob sie Ihnen, wer weiß was, mitbringen würde! Und ich
wette, wenn's hoch kömmt, so ist es eine neue Scharteke oder eine
Zeitung oder sonst ein Wisch.--
Damis. Nein, mein guter Anton; dasmal möchte es etwas mehr sein. Ah!
wann du es wüßtest--
Anton. Will ich's denn wissen? Es würde mir weiter doch nichts
helfen, als daß ich einmal wieder über Sie lachen könnte. Das ist mir
gewiß etwas Seltnes?--Haben Sie mich sonst noch wohin zu schicken?
Ich habe ohnedem auf dem Ratskeller eine kleine Verrichtung;
vielleicht ist's ein Gang? Nu?
Damis (erzürnt). Nein, Schurke!
Anton. Da haben wir's! Er hat alles gelesen, nur kein
Komplimentierbuch.--Aber besinnen Sie sich. Etwa in den Buchladen?
Damis. Nein, Schurke!
Anton. Ich muß das Schurke so oft hören, daß ich endlich selbst
glauben werde, es sei mein Taufname.--Aber zum Buchbinder?
Damis. Schweig, oder--
Anton. Oder zum Buchdrucker? Zu diesen dreien, Gott sei Dank! weiß
ich mich, wie das Färbepferd um die Rolle.
Damis. Sieht denn der Schlingel nicht, daß ich lese? Will er mich
noch länger stören?
Anton (beiseite). St! Er ist im Ernste böse geworden. Lenk ein,
Anton.--Aber, sagen Sie mir nur, was lesen Sie denn da für ein Buch?
Potz Stern, was das für Zeug ist! Das verstehen Sie? Solche
Krakelfüße, solche fürchterliche Zickzacke, die kann ein Mensch lesen?
Wann das nicht wenigstens Fausts Höllenzwang ist--Ach, man weiß es ja
wohl, wie's den Leuten geht, die alles lernen wollen. Endlich
verführt sie der böse Geist, daß sie auch hexen lernen.--
Damis (nimmt sein muntres Wesen wieder an). Du guter Anton! Das ist
ein Buch in hebräischer Sprache.--Des Ben Maimon Jad chasaka.
Anton. Ja doch; wer's nur glauben wollte! Was Hebräisch ist, weiß
ich endlich auch. Ist es nicht mit der Grundsprache, mit der
Textsprache, mit der heiligen Sprache einerlei? Die warf unser Pfarr,
als ich noch in die Schule ging, mehr als einmal von der Kanzel. Aber
so ein Buch, wahrhaftig! hatte er nicht; ich habe alle seine Bücher
beguckt; ich mußte sie ihm einmal von einem Boden auf den andern
räumen helfen.
Damis. Ha! ha! ha! das kann wohl sein. Es ist Wunders genug, wenn
ein Geistlicher auf dem Lande nur den Namen davon weiß. Zwar, im
Vertrauen, mein lieber Anton, die Geistlichen überhaupt sind schlechte
Helden in der Gelehrsamkeit.
Anton. Nu, nu, bei allen trifft das wohl nicht ein. Der Magister in
meinem Dorfe wenigstens gehört unter die Ausnahme. Versichert! der
Schulmeister selber hat mir es mehr als einmal gesagt, daß er ein sehr
gelehrter Mann wäre. Und dem Schulmeister muß ich das glauben; denn
wie mir der Herr Pfarr oft gesagt hat, so ist er keiner von den
schlechten Schulmeistern; er versteht ein Wort Latein und kann davon
urteilen.
Damis. Das ist lustig! Der Schulmeister also lobt den Pfarr, und der
Pfarr, nicht unerkenntlich zu sein, lobt den Schulmeister. Wenn mein
Vater zugegen wäre, so würde er gewiß sagen: Manus manum lavat. Hast
du ihm die alberne Gewohnheit nicht angemerkt, daß er bei aller
Gelegenheit ein lateinisches Sprüchelchen mit einflickt? Der alte
Idiote denkt, weil er so einen gelehrten Sohn hat, müsse er doch auch
zeigen, daß er einmal durch die Schule gelaufen sei.
Anton. Hab ich's doch gedacht, daß es etwas Albernes sein müsse; denn
manchmal mitten in der Rede murmelt er etwas her, wovon ich kein Wort
verstehe.
Damis. Doch schließe nur nicht daraus, daß alles albern sei, was du
nicht verstehst. Ich würde sonst viel albernes Zeug wissen.--Aber, o
himmlische Gelehrsamkeit, wieviel ist dir ein Sterblicher schuldig,
der dich besitzt! Und wie bejammernswürdig ist es, daß dich die
wenigsten in deinem Umfange kennen! Der Theolog glaubt dich bei einer
Menge heiliger Sprüche, fürchterlicher Erzählungen und einiger übel
angebrachten Figuren zu besitzen. Der Rechtsgelehrte bei einer
unseligen Geschicklichkeit, unbrauchbare Gesetze abgestorbner Staaten,
zum Nachteile der Billigkeit und Vernunft, zu verdrehen und die
fürchterlichsten Urtel in einer noch fürchterlichern Sprache
vorzutragen. Der Arzt endlich glaubt sich wirklich deiner bemächtiget
zu haben, wann er durch eine Legion barbarischer Wörter die Gesunden
krank und die Kranken noch kränker machen kann. Aber, o betrogene
Toren! die Wahrheit läßt euch nicht lange in diesem sie schimpfenden
Irrtume. Es kommen Gelegenheiten, wo ihr selbst erkennet, wie
mangelhaft euer Wissen sei; voll tollen Hochmuts beurteilet ihr
alsdann alle menschliche Erkenntnis nach der eurigen und ruft wohl gar
in einem Tone, welcher alle Sterbliche zu bejammern scheinet, aus:
Unser Wissen ist Stückwerk! Nein, glaube mir, mein lieber Anton: der
Mensch ist allerdings einer allgemeinen Erkenntnis fähig. Es leugnen,
heißt ein Bekenntnis seiner Faulheit oder seines mäßigen Genies
ablegen. Wenn ich erwäge, wieviel ich schon nach meinen wenigen
Jahren verstehe, so werde ich von dieser Wahrheit noch mehr überzeugt.
Lateinisch, Griechisch, Hebräisch, Französisch, Englisch,
Italienisch--das sind sechs Sprachen, die ich alle vollkommen besitze:
und bin erst zwanzig Jahr alt!
Anton. Sachte! Sie haben eine vergessen; die deutsche--
Damis. Es ist wahr, mein lieber Anton; das sind also sieben Sprachen;
und ich bin erst zwanzig Jahr alt!
Anton. Pfui doch, Herr! Sie haben mich oder sich selbst zum besten.
Sie werden doch das, daß Sie Deutsch können, nicht zu Ihrer
Gelehrsamkeit rechnen? Es war ja mein Ernst nicht.--
Damis. Und also denkst du wohl selber Deutsch zu können?
Anton. Ich? ich? nicht Deutsch! Es wäre ein verdammter Streich, wenn
ich Kalmuckisch redete und wüßte es nicht.
Damis. Unter können und können ist ein Unterschied. Du kannst
Deutsch, das ist: du kannst deine Gedanken mit Tönen ausdrücken, die
einem Deutschen verständlich sind; das ist, die ebendie Gedanken in
ihm erwecken, die du bei dir hast. Du kannst aber nicht Deutsch, das
ist: du weißt nicht, was in dieser Sprache gemein oder niedrig, rauh
oder annehmlich, undeutlich oder verständlich, alt oder gebräuchlich
ist; du weißt ihre Regeln nicht; du hast keine gelehrte Kenntnis von
ihr.
Anton. Was einem die Gelehrten nicht weismachen wollen! Wenn es nur
auf Ihr "das ist" ankäme, ich glaube, Sie stritten mir wohl gar noch
ab, daß ich essen könnte.
Damis. Essen? Je nun wahrhaftig, wenn ich es genau nehmen will, so
kannst du es auch nicht.
Anton. Ich? ich nicht essen? Und trinken wohl auch nicht?
Damis. Du kannst essen, das ist: du kannst die Speisen zerschneiden,
in Mund stecken, kauen, herunterschlucken und so weiter. Du kannst
nicht essen, das ist: du weißt die mechanischen Gesetze nicht, nach
welchen es geschiehet; du weißt nicht, welches das Amt einer jeden
dabei tätigen Muskel ist; ob der Digastrikus oder der Masseter, ob der
Pterygoideus internus oder externus, ob der Zygomatikus oder der
Platysmamyodes, ob--
Anton. Ach ob, ob! Das einzige Ob, worauf ich sehe, ist das, ob mein
Magen etwas davon erhält und ob mir's bekömmt.--Aber wieder auf die
Sprache zu kommen. Glauben Sie wohl, daß ich eine verstehe, die Sie
nicht verstehen?
Damis. Du, eine Sprache, die ich nicht verstünde?
Anton. Ja; raten Sie einmal.
Damis. Kannst du etwa Koptisch?
Anton. Foptisch? Nein, das kann ich nicht.
Damis. Chinesisch? Malabarisch? Ich wüßte nicht woher.
Anton. Wie Sie herumraten. Haben Sie meinen Vetter nicht gesehn? Er
besuchte mich vor vierzehn Tagen. Der redete nichts als diese Sprache.
Damis. Der Rabbi, der vor kurzen zu mir kam, war doch wohl nicht dein
Vetter?
Anton. Daß ich nicht gar ein Jude wäre! Mein Vetter war ein Wende;
ich kann Wendisch; und das können Sie nicht.
Damis (nachsinnend). Er hat recht.--Mein Bedienter soll eine Sprache
verstehen, die ich nicht verstehe? Und noch dazu eine Hauptsprache?
Ich erinnere mich, daß ihre Verwandtschaft mit der hebräischen sehr
groß sein soll. Wer weiß, wieviel Stammwörter, die in dieser verloren
sind, ich in jener entdecken könnte!--Das Ding fängt mir an, im Kopfe
herumzugehen!
Anton. Sehen Sie!--Doch wissen Sie was? Wenn Sie mir meinen Lohn
verdoppeln, so sollen Sie bald so viel davon verstehen als ich selbst.
Wir wollen fleißig miteinander wendisch parlieren, und--Kurz,
überlegen Sie es. Ich vergesse über dem verdammten Plaudern meinen
Gang auf den Ratskeller ganz und gar. Ich bin gleich wieder zu Ihren
Diensten.
Damis. Bleib itzt hier; bleib hier.
Anton. Aber Ihr Herr Vater kömmt. Hören Sie? Wir könnten doch nicht
weiterreden. (Geht ab.)
Damis. Wenn mich doch mein Vater ungestört lassen wollte. Glaubt er
denn, daß ich so ein Müßiggänger bin wie er?


Zweiter Auftritt
Damis. Chrysander.

Chrysander. Immer über den verdammten Büchern! Mein Sohn, zuviel ist
zuviel. Das Vergnügen ist so nötig als die Arbeit.
Damis. O Herr Vater, das Studieren ist mir Vergnügens genug. Wer
neben den Wissenschaften noch andere Ergötzungen sucht, muß die wahre
Süßigkeit derselben noch nicht geschmeckt haben.
Chrysander. Das sage nicht! Ich habe in meiner Jugend auch studiert;
ich bin bis auf das Mark der Gelehrsamkeit gekommen. Aber daß ich
beständig über den Büchern gelegen hätte, das ist nicht wahr. Ich
ging spazieren; ich spielte; ich besuchte Gesellschaften; ich machte
Bekanntschaft mit Frauenzimmern. Was der Vater in der Jugend getan
hat, kann der Sohn auch tun; soll der Sohn auch tun. A bove majori
discat arare minor! wie wir Lateiner reden. Besonders das
Frauenzimmer laß dir, wie wir Lateiner reden, de meliori empfohlen
sein! Das sind Narren, die einen jungen Menschen vor das Frauenzimmer
ärger als vor Skorpionen warnen; die es ihm, wie wir Lateiner reden,
cautius sanguine viperino zu fliehen befehlen.--
Damis. Cautius sanguine viperino? Ja, das ist noch Latein! Aber wie
heißt die ganze Stelle?
Cur timet flavum Tiberim tangere? cur olivum Sanguine viperino Cautius
vitat?--
Oh, ich höre schon, Herr Vater, Sie haben auch nicht aus der Quelle
geschöpft! Denn sonst würden Sie wissen, daß Horaz in ebender Ode die
Liebe als eine sehr nachteilige Leidenschaft beschreibt, und das
Frauenzimmer--
Chrysander. Horaz! Horaz! Horaz war ein Italiener und meinet das
italienische Frauenzimmer. Ja vor dem italienischen warne ich dich
auch! das ist gefährlich! Ich habe einen guten Freund, der in seiner
Jugend--Doch still! man muß kein Ärgernis geben.--Das deutsche
Frauenzimmer hingegen, o das deutsche! mit dem ist es ganz anders
beschaffen.--Ich würde der Mann nicht geworden sein, der ich doch bin,
wenn mich das Frauenzimmer nicht vollends zugestutzt hätte. Ich
dächte, man sähe mir's an. Du hast tote Bücher genug gelesen; guck
einmal in ein lebendiges!
Damis. Ich erstaune--
Chrysander. O du wirst noch mehr erstaunen, wenn du erst tiefer
hineingehen wirst. Das Frauenzimmer, mußt du wissen, ist für einen
jungen Menschen eine neue Welt, wo man so viel anzugaffen, so viel zu
bewundern findet--
Damis. Hören Sie mich doch! Ich erstaune, will ich sagen, Sie eine
Sprache führen zu hören, in der wahrhaftig diejenigen Vorschriften
nicht ausgedruckt waren, die Sie mir mit auf die hohe Schule gaben.
Chrysander. Quae, qualis, quanta! Jetzt und damals! Tempora
mutantur! wie wir Lateiner sagen.
Damis. Tempora mutantur? Ich bitte Sie, legen Sie doch die
Vorurteile des Pöbels ab. Die Zeiten ändern sich nicht. Denn lassen
Sie uns einmal sehen: was ist die Zeit?--
Chrysander. Schweig! die Zeit ist ein Ding, das ich mir mit deinem
unnützen Geplaudre nicht will verderben lassen. Meine damaligen
Vorschriften waren nach dem damaligen Maße deiner Erfahrung und deines
Verstandes eingerichtet. Nun aber traue ich dir von beiden so viel zu,
daß du Ergötzlichkeiten nicht zu Beschäftigungen machen wirst. Aus
diesem Grunde rate ich dir also--
Damis. Ihre Reden haben einigen Schein der Wahrheit. Allein ich
dringe tiefer. Sie werden es gleich sehen. Der Status Controversiä
ist--
Chrysander. Ei, der Status Controversiä mag meinetwegen in Barbara
oder in Celarent sein. Ich bin nicht hergekommen mit dir zu
disputieren, sondern--
Damis. Die Kunstwörter des Disputierens zu lernen? Wohl! Sie müssen
also wissen, daß weder Barbara noch Celarent den Statum--
Chrysander. Ich möchte toll werden! Bleib Er mir, Herr Informator,
mit den Possen weg, oder--
Damis. Possen? diese seltsamen Benennungen sind zwar Überbleibsel der
scholastischen Philosophie, das ist wahr; aber doch solche
Überbleibsel--
Chrysander. Über die ich die Geduld verlieren werde, wann du mich
nicht bald anhörst. Ich komme in der ernsthaftesten Sache von der
Welt zu dir,--denn was ist ernsthafter als heiraten?--und du--
Damis. Heiraten? Des Heiratens wegen zu mir? zu mir?
Chrysander. Ha! ha! Macht dich das aufmerksam? Also ausculta et
perpende!
Damis. Ausculta et perpende? ausculta et perpende? Ein glücklicher
Einfall--
Chrysander. Oh, ich habe Einfälle--
Damis. Den ich da bekomme!
Chrysander. Du?
Damis. Ja, ich. Wissen Sie, wo sich dieses ausculta et perpende
herschreibt? Eben mache ich die Entdeckung; aus dem Homer. O was
finde ich nicht alles in meinem Homer?
Chrysander. Du und dein Homer, ihr seid ein paar Narren!
Damis. Ich und Homer? Homer und ich? wir beide? Hi! hi! hi! Gewiß,
Herr Vater? O ich danke, ich danke. Ich und Homer! Homer und ich!
--Aber hören Sie nur: sooft Homer--er war wirklich kein Narr, so wenig
wie ich--sooft er, sag ich, seine Helden den Soldaten zur Tapferkeit
ermuntern oder in dem Kriegsrate eine Beratschlagung anheben läßt;
sooft ist auch der Anfang ihrer Rede: Höret, was ich vortragen werde,
und überlegt es! Zum Exempel in der Odyssee:
"Keklute dae nun meu, Ithakhsioi, oti ken eipo." [Greek]
Und darauf folgt denn auch oft:
"Oy eiath' oi d' ara tau mala men chluon, aed' epithonto," [Greek]
das ist: so sprach er, und sie gehorchten dem, was sie gehöret hatten.
Chrysander. Gehorchten sie ihm? Nu, das ist vernünftig! Homer mag
doch wohl kein Narr sein. Sieh zu, daß ich von dir auch widerrufen
kann. Denn wieder zur Sache: ich kenne, mein Sohn--
Damis. Einen kleinen Augenblick Geduld, Herr Vater. Ich will mich
nur hinsetzen und diese Anmerkung aufschreiben.
Chrysander. Aufschreiben? was ist hier aufzuschreiben? Wem liegt
daran, ob das Sprüchelchen aus dem Homer oder aus dem Gesangbuche ist?
Damis. Der gelehrten Welt liegt daran; meiner und Homers Ehre lieget
daran! Denn ein Halbhundert solche Anmerkungen machen einen
Philologen. Und sie ist neu, muß ich Ihnen sagen, sie ist ganz neu.
Chrysander. So schreib sie ein andermal auf.
Damis. Wenn sie mir aber wieder entfiele? Ich würde untröstlich sein.
Haben Sie wenigstens die Gütigkeit, mich wieder daran zu erinnern.
Chrysander. Gut, das will ich tun; höre mir nur jetzt zu. Ich kenne,
mein Sohn, ein recht allerliebstes Frauenzimmer; und ich weiß, du
kennst es auch. Hättest du wohl Lust--
Damis. Ich soll ein Frauenzimmer, ein liebenswürdiges Frauenzimmer
kennen? Oh, Herr Vater, wenn das jemand hörte, was würde er von
meiner Gelehrsamkeit denken?--Ich ein liebenswürdiges Frauenzimmer?--
Chrysander. Nun wahrhaftig; ich glaube nicht, daß ein Gastwirt so
erschrecken kann, wenn man ihm schuld gibt, er kenne den oder jenen
Spitzbuben, als du erschrickst, weil du ein Frauenzimmer kennen sollst.
Ist denn das ein Schimpf?
Damis. Wenigstens ist es keine Ehre, besonders für einen Gelehrten.
Mit wem man umgeht, dessen Sitten nimmt man nach und nach an. Jedes
Frauenzimmer ist eitel, hoffärtig, geschwätzig, zänkisch und
zeitlebens kindisch, es mag so alt werden, als es will. Jedes
Frauenzimmer weiß kaum, daß es eine Seele hat, um die es unendlich
mehr besorgt sein sollte als um den Körper. Sich ankleiden,
auskleiden und wieder anders ankleiden; vor dem Spiegel sitzen, seinen
eignen Reiz bewundern; auf ausgekünstelte Mienen sinnen; mit
neugierigen Augen müßig an dem Fenster liegen: unsinnige Romane lesen
und aufs höchste zum Zeitvertreibe die Nadel zur Hand nehmen: das sind
seine Beschäftigungen; das ist sein Leben. Und Sie glauben, daß ein
Gelehrter, ohne Nachteil seines guten Namens, solche närrische
Geschöpfe weiter als ihrer äußerlichen Gestalt nach kennen dürfe?
Chrysander. Mensch, Mensch! deine Mutter kehrt sich im Grabe um.
Bedenke doch, daß sie auch ein Frauenzimmer war! Bedenke doch, daß
die Dinger von Natur nun einmal nicht anders sind! Obschon, wie wir
Lateiner zu reden pflegen, nulla regula sine exceptione. Und so eine
Exzeption ist sicherlich das Mädchen, das ich jetzt im Kopfe habe und
das du kennst.--
Damis. Nein, nein! ich schwöre es Ihnen zu; unsere Muhmen ausgenommen
und Julianen--
Chrysander. Und Julianen? bene!--
Damis. Und ihr Mädchen ausgenommen, kenne ich kein einziges Weibsbild.
Ja, der Himmel soll mich strafen, wenn ich mir jemals in den Sinn
kommen lasse, mehrere kennenzulernen!
Chrysander. Je nun, auch das! wie du willst! Genug, Julianen, die
kennst du.
Damis. Leider!
Chrysander. Und eben Juliane ist es, über die ich deine Gedanken
vernehmen möchte.--
Damis. Über Julianen? meine Gedanken über Julianen? O Herr Vater,
wenn Sie noch meine Gedanken über Erinnen oder Korinnen, über
Telesillen oder Praxillen verlangten--
Chrysander. Schocktausend! was sind das für Illen? Den Augenblick
schwur er, er kenne kein Frauenzimmer, und nun nennt er ein halb
Dutzend Menscher.--
Damis. Menscher? Herr Vater!
Chrysander. Ja, Herr Sohn, Menscher! Die Endung gibt's gewiß nicht?
Netrix, Lotrix, Meretrix.--
Damis. Himmel, Menscher! griechische berühmte Dichterinnen Menscher
zu nennen!--
Chrysander. Ja, ja, Dichterinnen! das sind mir eben die rechten.
Lotrix, Meretrix, Poetrix--
Damis. Poetrix? O wehe, meine Ohren! Poetria müßten Sie sagen: oder
Poetris--
Chrysander. Is oder ix, Herr Buchstabenkrämer!


Dritter Auftritt
Chrysander. Damis. Lisette.

Lisette. Hurtig herunter in die Wohnstube, Herr Chrysander! Man will
Sie sprechen.
Chrysander. Nun, was für ein Narr muß mich jetzo stören? Wer ist es
denn?
Lisette. Soll ich alle Narren kennen?
Chrysander. Was sagst du? Du hast ein unglückliches Maul, Lisette.
Einen ehrlichen Mann einen Narren zu schimpfen? Denn ein ehrlicher
Mann muß es doch sein; was wollte er sonst bei mir?
Lisette. Nu, nu; verzeihen Sie immer meinem Maule den Fehler des
Ihrigen.
Chrysander. Den Fehler des meinigen?
Lisette. O gehen Sie doch! der ehrliche Mann wartet.
Chrysander. Laß ihn warten. Habe ich doch den Narren nicht kommen
heißen.--Ich werde gleich wieder da sein, mein Sohn.
Lisette (beiseite). Ich muß doch sehen, ob ich aus dem wunderlichen
Einfall meiner Jungfer etwas machen kann.


Vierter Auftritt
Lisette. Damis.

Damis. Nun? geht Lisette nicht mit?
Lisette. Ich bin Ihre gehorsamste Dienerin. Wenn Sie befehlen, so
werde ich gehorchen. Aber nur eines möchte ich erst wissen. Sagen
Sie mir, um des Himmels willen, wie können Sie beständig so allein
sein? Was machen Sie denn den ganzen Tag auf Ihrer Studierstube?
Werden Ihnen denn nicht alle Augenblicke zu Stunden?
Damis. Ach, was nutzen die Fragen? Fort! fort!
Lisette. Über den Büchern können Sie doch unmöglich die ganze Zeit
liegen. Die Bücher, die toten Gesellschafter! Nein, ich lobe mir das
Lebendige; und das ist auch Mamsell Julianens Geschmack. Zwar dann
und wann lesen wir auch; einen irrenden Ritter, eine Banise, und so
etwas Gutes; aber länger als eine Stunde halten wir es hintereinander
nicht aus. Ganze Tage damit zuzubringen wie Sie, hilf Himmel! in den
ersten dreien wären wir tot. Und vollends nicht ein Wort dabei zu
reden wie Sie; das wäre unsre Hölle. Ein Vorzug des ganzen männlichen
Geschlechts kann es nicht sein, weil ich Mannspersonen kenne, die so
flüchtig und noch flüchtiger sind als wir. Es müssen nur sehr wenig
große Geister diese besondere Gaben besitzen.--
Damis. Lisette spricht so albern eben nicht. Es ist schade, daß ein
so guter Mutterwitz nicht durch die Wissenschaften ausgebessert wird.
Lisette. Sie machen mich schamrot. Bald dürfte ich mich dafür rächen
und Ihnen die Lobeserhebungen nacheinander erzählen, die Ihnen von der
gestrigen Gartengesellschaft gemacht wurden. Doch ich will Ihre
Bescheidenheit nicht beleidigen. Ich weiß, die Gelehrten halten auf
diese Tugend allzuviel.
Damis. Meine Lobeserhebungen? meine?
Lisette. Ja, ja, die Ihrigen.
Damis. O besorge Sie nichts, meine liebe Lisette. Ich will sie als
die Lobeserhebungen eines andern betrachten, und so kann meine
Bescheidenheit zufrieden sein. Erzähle Sie mir sie nur. Bloß wegen
Ihrer lebhaften und ungekünstelten Art, sich auszudrücken, wünsche ich
sie zu hören.
Lisette. O meine Art ist wohl keine von den besten. Es hat mir ein
Lehrmeister wie Sie gefehlt. Doch ich will Ihrem Befehle gehorchen.
Sie wissen doch wohl, wer die Herren waren, die gestern bei Ihrem
Herrn Vater im Garten schmauseten?
Damis. Nein, wahrhaftig nicht. Weil ich nicht dabeisein wollte, so
habe ich mich auch nicht darum bekümmert. Hoffentlich aber werden es
Leute gewesen sein, die selbst lobenswürdig sind, daß man sich also
auf ihr Lob etwas einbilden kann.
Lisette. Das sind sie so ziemlich. Was würde es Ihnen aber
verschlagen, wenn sie es auch nicht wären? Sie wollen ja Ihre
Lobeserhebungen aus Bescheidenheit als fremde betrachten. Und hängt
denn die Wahrheit von dem Munde desjenigen ab, der sie vorträgt?
Hören Sie nur--
Damis. Himmel! ich höre meinen Vater wiederkommen. Um Gottes willen,
liebe Lisette, daß er nicht merkt, daß Sie sich so lange bei mir
aufgehalten hat. Geh Sie hurtig unterdessen in das Kabinett.


Fünfter Auftritt
Damis. Chrysander.

Chrysander. Der verzweifelte Valer! er hätte mir zu keiner
ungelegnern Zeit kommen können. Muß ihn denn der Henker eben heute
von Berlin zurückführen? Und muß er sich denn eben gleich bei mir
anmelden lassen? Hui daß--Nein, Herr Valer, damit kommen Sie zu spät.
--Nun mein Sohn--(Damis steht zerstreut, als in tiefen Gedanken.)
Hörst du, mein Sohn?
Damis. Ich höre; ich höre alles.
Chrysander. Kurz, du merkst doch, wo ich vorhin hinauswollte? Einem
Klugen sind drei Worte genug. Sapienti sat! sagen wir Lateiner.
--Antworte doch--
Damis (noch immer als in Gedanken). Was ist da zu antworten?--
Chrysander. Was da zu antworten ist?--Das will ich dir sagen.
--Antworte, daß du mich verstanden; daß dir mein Antrag lieb ist; daß
dir Juliane gefällt; daß du mir in allem gehorchen willst.--Nun,
antwortest du das?--
Damis. Ich will gleich sehn--(Indem er in der angenommenen
Zerstreuung nach einem Buche greift.)
Chrysander. Was kann in dem Buche davon stehen?--Antworte aus dem
Herzen und nicht aus dem Buche.--Ex libro doctus quilibet esse potest;
sagen wir Lateiner.--
Damis (als ob er in dem Buche läse). Vollkommen recht! Aber nun wie
weiter?--
Chrysander. Das weitere gibt sich, wie 's Griechische. Du sagst ja;
sie sagt ja; damit wird Verlöbnis; und bald darauf wird Hochzeit; und
alsdenn--Du wirst schon sehen, wie's alsdenn weitergeht.--
Damis. Wenn nun aber diese Voraussetzung--(Immer noch als ob er läse.)
Chrysander. Ei, ich setze nichts voraus, was im geringsten
zweifelhaft wäre. Juliane ist eine Waise; ich bin ihr Vormund; ich
bin dein Vater; was muß mir angelegner sein, als euch beide glücklich
zu machen? Ihr Vater war mein Freund und war ein ehrlicher Mann,
obgleich ein Narr. Er hätte einen honetten Bankerott machen können;
seine Gläubiger würden aufs Drittel mit sich haben akkordieren lassen;
und er war so einfältig und bezahlte bis auf den letzten Heller. Wie
ist mir denn? hast du ihn nicht gekannt?
Damis. Von Person nicht. Aber seine Lebensumstände sind mir ganz
wohl bewußt. Ich habe sie, ich weiß nicht in welcher Biographie,
gelesen'
Chrysander. Gelesen? gedruckt gelesen?
Damis. Ja, ja; gelesen. Er ward gegen die Mitte des vorigen
Jahrhunderts geboren und ist, etwa vor zwanzig Jahren, als
Generalsuperintendent in Pommern gestorben. In orientalischen
Sprachen war seine vornehmste Stärke. Allein seine Bücher sind nicht
alle gleich gut. Dieses ist noch eines von den besten. Eine
besondere Gewohnheit soll der Mann an sich gehabt haben--
Chrysander. Von wem sprichst denn du?
Damis. Sie fragen mich ja, ob mir der Verfasser dieses Buchs bekannt
wäre?
Chrysander. Ich glaube, du träumest; oder es geht gar noch etwas
Ärgers in deinem Gehirne vor. Ich frage dich, ob du Julianens Vater
noch gekannt hast?
Damis. Verzeihen Sie mir, wann ich ein wenig zerstreut geantwortet
habe! Ich dachte eben nach,--warum wohl die Rabbinen--das Schurek
M'lo Pum heißen.
Chrysander. Mit dem verdammten Schurek! Gib doch auf das acht, was
der Vater mit dir spricht!--(Er nimmt ihm das Buch aus der Hand.) Du
hast ihn also nicht gekannt? Ich besinne mich; es ist auch nicht wohl
möglich. Als er starb, war Juliane noch sehr jung. Ich nahm sie
gleich nach seinem Tode in mein Haus, und Gott sei Dank! sie hat viel
Wohltaten hier genossen. Sie ist schön, sie ist tugendhaft; wem
sollte ich sie also lieber gönnen als dir? Was meinst du?--Antworte
doch! Stehst du nicht da, als wenn du schliefest!--
Damis. Ja, ja, Herr Vater. Nur eins ist noch dabei zu erwägen.--
Chrysander. Du hast recht; freilich ist noch eins dabei zu erwägen:
ob du dich nämlich geschickt befindest, bald ein öffentliches Amt
anzunehmen, weil doch--
Damis. Wie? geschickt? geschickt? Sie zweifeln also an meiner
Geschicklichkeit?--Wie unglücklich bin ich, daß ich Ihnen nicht
sogleich die unwidersprechlichsten Beweise geben kann! Doch es soll
noch diesen Abend geschehen. Glauben Sie mir, noch diesen Abend.--Die
verdammte Post! Ich weiß auch nicht, wo sie bleibt.
Chrysander. Beruhige dich nur, mein Sohn. Die Frage geschahe eben
aus keinem Mißtrauen, sondern bloß weil ich glaube, es schicke sich
nicht, eher zu heiraten, als bis man ein Amt hat; so wie es sich,
sollte ich meinen, auch nicht wohl schickt, eher ein Amt anzunehmen,
als bis man weiß, woher man die Frau bekommen will.
Damis. Ach, was heiraten? was Frau? Erlauben Sie mir, daß ich Sie
allein lasse. Ich muß ihn gleich wieder auf die Post schicken. Anton!
Anton! Doch es ist mit dem Schlingel nichts anzufangen; ich muß nur
selbst gehen.


Sechster Auftritt
Anton. Chrysander.

Anton. Rufte mich nicht Herr Damis? Wo ist er? was soll ich?
Chrysander. Ich weiß nicht, was ihm im Kopfe steckt. Er ruft dich;
er will dich auf die Post schicken; er besinnt sich, daß mit dir
Schlingel nichts anzufangen ist, und geht selber. Sage mir nur,
willst du zeitlebens ein Esel bleiben?
Anton. Gemach, Herr Chrysander! ich nehme an den Torheiten Ihres
You have read 1 text from German literature.
Next - Der junge Gelehrte: Ein Lustspiel in drei Aufzügen - 2
  • Parts
  • Der junge Gelehrte: Ein Lustspiel in drei Aufzügen - 1
    Total number of words is 4288
    Total number of unique words is 1321
    41.5 of words are in the 2000 most common words
    54.2 of words are in the 5000 most common words
    59.3 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
  • Der junge Gelehrte: Ein Lustspiel in drei Aufzügen - 2
    Total number of words is 4347
    Total number of unique words is 1265
    46.0 of words are in the 2000 most common words
    58.9 of words are in the 5000 most common words
    64.3 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
  • Der junge Gelehrte: Ein Lustspiel in drei Aufzügen - 3
    Total number of words is 4389
    Total number of unique words is 1201
    43.8 of words are in the 2000 most common words
    57.0 of words are in the 5000 most common words
    62.5 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
  • Der junge Gelehrte: Ein Lustspiel in drei Aufzügen - 4
    Total number of words is 4348
    Total number of unique words is 1171
    45.9 of words are in the 2000 most common words
    57.7 of words are in the 5000 most common words
    65.0 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
  • Der junge Gelehrte: Ein Lustspiel in drei Aufzügen - 5
    Total number of words is 4333
    Total number of unique words is 1177
    45.9 of words are in the 2000 most common words
    58.2 of words are in the 5000 most common words
    63.5 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
  • Der junge Gelehrte: Ein Lustspiel in drei Aufzügen - 6
    Total number of words is 4349
    Total number of unique words is 1212
    45.0 of words are in the 2000 most common words
    58.7 of words are in the 5000 most common words
    64.4 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
  • Der junge Gelehrte: Ein Lustspiel in drei Aufzügen - 7
    Total number of words is 180
    Total number of unique words is 123
    74.7 of words are in the 2000 most common words
    81.1 of words are in the 5000 most common words
    82.7 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.