Der Heizer: Ein Fragment - 1

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Franz Kafka
Der Heizer
Ein Fragment

1913
Kurt Wolff Verlag * Leipzig

Dies Buch wurde
gedruckt im Mai 1913 als dritter
Band der Bücherei »Der jüngste Tag« bei
Poeschel & Trepte in Leipzig

COPYRIGHT BY KURT WOLFF VERLAG, LEIPZIG 1913


Als der sechzehnjährige Karl Roßmann, der von seinen armen Eltern nach
Amerika geschickt worden war, weil ihn ein Dienstmädchen verführt und
ein Kind von ihm bekommen hatte, in dem schon langsam gewordenen Schiff
in den Hafen von New York einfuhr, erblickte er die schon längst
beobachtete Statue der Freiheitsgöttin wie in einem plötzlich stärker
gewordenen Sonnenlicht. Ihr Arm mit dem Schwert ragte wie neuerdings
empor und um ihre Gestalt wehten die freien Lüfte.
»So hoch!« sagte er sich und wurde, wie er so gar nicht an das Weggehen
dachte, von der immer mehr anschwellenden Menge der Gepäckträger, die an
ihm vorüberzogen, allmählich bis an das Bordgeländer geschoben.
Ein junger Mann, mit dem er während der Fahrt flüchtig bekannt geworden
war, sagte im Vorübergehen: »Ja, haben Sie denn noch keine Lust,
auszusteigen?« »Ich bin doch fertig,« sagte Karl, ihn anlachend, und hob
aus Übermut, und weil er ein starker Junge war, seinen Koffer auf die
Achsel. Aber wie er über seinen Bekannten hinsah, der ein wenig seinen
Stock schwenkend sich schon mit den andern entfernte, merkte er
bestürzt, daß er seinen eigenen Regenschirm unten im Schiff vergessen
hatte. Er bat schnell den Bekannten, der nicht sehr beglückt schien, um
die Freundlichkeit, bei seinem Koffer einen Augenblick zu warten,
überblickte noch die Situation, um sich bei der Rückkehr zurechtzufinden
und eilte davon. Unten fand er zu seinem Bedauern einen Gang, der seinen
Weg sehr verkürzt hätte, zum erstenmal versperrt, was wahrscheinlich mit
der Ausschiffung sämtlicher Passagiere zusammenhing und mußte sich
seinen Weg durch eine Unzahl kleiner Räume, über kurze Treppen, die
einander immer wieder folgten, durch fortwährend abbiegende Korridore,
durch ein leeres Zimmer mit einem verlassenen Schreibtisch mühselig
suchen, bis er sich tatsächlich, da er diesen Weg nur ein- oder zweimal
und immer in größerer Gesellschaft gegangen war, ganz und gar verirrt
hatte. In seiner Ratlosigkeit und da er keinen Menschen traf und nur
immerfort über sich das Scharren der tausend Menschenfüße hörte und von
der Ferne, wie einen Hauch, das letzte Arbeiten der schon eingestellten
Maschinen merkte, fing er, ohne zu überlegen, an eine beliebige kleine
Tür zu schlagen an, bei der er in seinem Herumirren stockte.
»Es ist ja offen,« rief es von innen, und Karl öffnete mit ehrlichem
Aufatmen die Tür. »Warum schlagen Sie so verrückt auf die Tür?« fragte
ein riesiger Mann, kaum daß er nach Karl hinsah. Durch irgendeine
Oberlichtluke fiel ein trübes, oben im Schiff längst abgebrauchtes Licht
in die klägliche Kabine, in welcher ein Bett, ein Schrank, ein Sessel
und der Mann knapp nebeneinander, wie eingelagert, standen. »Ich habe
mich verirrt,« sagte Karl, »ich habe es während der Fahrt gar nicht so
bemerkt, aber es ist ein schrecklich großes Schiff.« »Ja, da haben Sie
recht,« sagte der Mann mit einigem Stolz und hörte nicht auf, an dem
Schloß eines kleinen Koffers zu hantieren, den er mit beiden Händen
immer wieder zudrückte, um das Einschnappen des Riegels zu behorchen.
»Aber kommen Sie doch herein!« sagte der Mann weiter, »Sie werden doch
nicht draußen stehn!« »Störe ich nicht?« fragte Karl. »Ach, wie werden
Sie denn stören!« »Sind Sie ein Deutscher?« suchte sich Karl noch zu
versichern, da er viel von den Gefahren gehört hatte, welche besonders
von Irländern den Neuankömmlingen in Amerika drohen. »Bin ich, bin ich,«
sagte der Mann. Karl zögerte noch. Da faßte unversehens der Mann die
Türklinke und schob mit der Türe, die er rasch schloß, Karl zu sich
herein. »Ich kann es nicht leiden, wenn man mir vom Gang hereinschaut,«
sagte der Mann, der wieder an seinem Koffer arbeitete, »da läuft jeder
vorbei und schaut herein, das soll der Zehnte aushalten!« »Aber der Gang
ist doch ganz leer,« sagte Karl, der unbehaglich an den Bettpfosten
gequetscht dastand. »Ja, jetzt,« sagte der Mann. »Es handelt sich doch
um jetzt,« dachte Karl, »mit dem Mann ist schwer zu reden.« »Legen Sie
sich doch aufs Bett, da haben Sie mehr Platz,« sagte der Mann. Karl
kroch, so gut es ging, hinein und lachte dabei laut über den ersten
vergeblichen Versuch, sich hinüberzuschwingen. Kaum war er aber im Bett,
rief er: »Gottes Willen, ich habe ja ganz meinen Koffer vergessen!« »Wo
ist er denn?« »Oben auf dem Deck, ein Bekannter gibt acht auf ihn. Wie
heißt er nur?« Und er zog aus einer Geheimtasche, die ihm seine Mutter
für die Reise im Rockfutter angelegt hatte, eine Visitkarte.
»Butterbaum, Franz Butterbaum.« »Haben Sie den Koffer sehr nötig?«
»Natürlich.« »Ja, warum haben Sie ihn dann einem fremden Menschen
gegeben?« »Ich hatte meinen Regenschirm unten vergessen und bin
gelaufen, ihn zu holen, wollte aber den Koffer nicht mitschleppen. Dann
habe ich mich auch noch verirrt.« »Sie sind allein? Ohne Begleitung?«
»Ja, allein.« »Ich sollte mich vielleicht an diesen Mann halten,« ging
es Karl durch den Kopf, »wo finde ich gleich einen besseren Freund.«
»Und jetzt haben Sie auch noch den Koffer verloren. Vom Regenschirm rede
ich gar nicht.« Und der Mann setzte sich auf den Sessel, als habe Karls
Sache jetzt einiges Interesse für ihn gewonnen. »Ich glaube aber, der
Koffer ist noch nicht verloren.« »Glauben macht selig,« sagte der Mann
und kratzte sich kräftig in seinem dunklen, kurzen, dichten Haar, »auf
dem Schiff wechseln mit den Hafenplätzen auch die Sitten. In Hamburg
hätte Ihr Butterbaum den Koffer vielleicht bewacht, hier ist
höchstwahrscheinlich von beiden keine Spur mehr.« »Da muß ich aber doch
gleich hinaufschaun,« sagte Karl und sah sich um, wie er hinauskommen
könnte. »Bleiben Sie nur,« sagte der Mann und stieß ihn mit einer Hand
gegen die Brust, geradezu rauh, ins Bett zurück. »Warum denn?« fragte
Karl ärgerlich. »Weil es keinen Sinn hat,« sagte der Mann »in einem
kleinen Weilchen gehe ich auch, dann gehen wir zusammen. Entweder ist
der Koffer gestohlen, dann ist keine Hilfe, oder der Mensch bewacht ihn
noch immer, dann ist er ein Dummkopf und soll weiter wachen, oder er ist
bloß ein ehrlicher Mensch und hat den Koffer stehen gelassen, dann
werden wir ihn, bis das Schiff ganz entleert ist, desto besser finden.
Ebenso auch Ihren Regenschirm.« »Kennen Sie sich auf dem Schiff aus?«
fragte Karl mißtrauisch und es schien ihm, als hätte der sonst
überzeugende Gedanke, daß auf dem leeren Schiff seine Sachen am besten
zu finden sein würden, einen verborgenen Haken. »Ich bin doch
Schiffsheizer,« sagte der Mann. »Sie sind Schiffsheizer!« rief Karl
freudig, als überstiege das alle Erwartungen, und sah, den Ellbogen
aufgestützt, den Mann näher an. »Gerade vor der Kammer, wo ich mit den
Slowaken geschlafen habe, war eine Luke angebracht, durch die man in den
Maschinenraum sehen konnte.« »Ja, dort habe ich gearbeitet,« sagte der
Heizer. »Ich habe mich immer so für Technik interessiert,« sagte Karl,
der in einem bestimmten Gedankengang blieb, »und ich wäre sicher später
Ingenieur geworden, wenn ich nicht nach Amerika hätte fahren müssen.«
»Warum haben Sie denn fahren müssen?« »Ach was!« sagte Karl und warf die
ganze Geschichte mit der Hand weg. Dabei sah er lächelnd den Heizer an,
als bitte er ihn selbst für das Nichteingestandene um seine Nachsicht.
»Es wird schon einen Grund gehabt haben,« sagte der Heizer und man wußte
nicht recht, ob er damit die Erzählung dieses Grundes fordern oder
abwehren wollte. »Jetzt könnte ich auch Heizer werden,« sagte Karl,
»meinen Eltern ist es jetzt ganz gleichgültig, was ich werde.« »Meine
Stelle wird frei,« sagte der Heizer, gab im Vollbewußtsein dessen die
Hände in die Hosentaschen und warf die Beine, die in faltigen,
lederartigen, eisengrauen Hosen steckten, aufs Bett hin, um sie zu
strecken. Karl mußte mehr an die Wand rücken. »Sie verlassen das
Schiff?« »Jawohl, wir marschieren heute ab.« »Warum denn? Gefällt es
Ihnen nicht?« »Ja, das sind die Verhältnisse, es entscheidet nicht
immer, ob es einem gefällt oder nicht. Übrigens haben Sie recht, es
gefällt mir auch nicht. Sie denken wahrscheinlich nicht ernstlich daran,
Heizer zu werden, aber gerade dann kann man es am leichtesten werden.
Ich also rate Ihnen entschieden ab. Wenn Sie in Europa studieren
wollten, warum wollen Sie es denn hier nicht? Die amerikanischen
Universitäten sind ja unvergleichlich besser als die europäischen.« »Es
ist ja möglich,« sagte Karl, »aber ich habe ja fast kein Geld zum
Studieren. Ich habe zwar von irgendjemandem gelesen, der bei Tag in
einem Geschäft gearbeitet und in der Nacht studiert hat, bis er Doktor
und ich glaube Bürgermeister wurde, aber dazu gehört doch eine große
Ausdauer, nicht? Ich fürchte, die fehlt mir. Außerdem war ich gar kein
besonders guter Schüler, der Abschied von der Schule ist mir wirklich
nicht schwer geworden. Und die Schulen hier sind vielleicht noch
strenger. Englisch kann ich fast gar nicht. Überhaupt ist man hier gegen
Fremde so eingenommen, glaube ich.« »Haben Sie das auch schon erfahren?
Na, dann ist’s gut. Dann sind Sie mein Mann. Sehen Sie, wir sind doch
auf einem deutschen Schiff, es gehört der Hamburg-Amerika-Linie, warum
sind wir nicht lauter Deutsche hier? Warum ist der Obermaschinist ein
Rumäne? Er heißt Schubal. Das ist doch nicht zu glauben. Und dieser
Lumpenhund schindet uns Deutsche auf einem deutschen Schiff. Glauben Sie
nicht« – ihm ging die Luft aus, er fackelte mit der Hand – »daß ich
klage, um zu klagen. Ich weiß, daß Sie keinen Einfluß haben und selbst
ein armes Bürschchen sind. Aber es ist zu arg!« Und er schlug auf den
Tisch mehrmals mit der Faust und ließ kein Auge von ihr, während er
schlug. »Ich habe doch schon auf so vielen Schiffen gedient« – und er
nannte zwanzig Namen hintereinander als sei es ein Wort, Karl wurde ganz
wirr – »und habe mich ausgezeichnet, bin belobt worden, war ein Arbeiter
nach dem Geschmack meiner Kapitäne, sogar auf dem gleichen Handelssegler
war ich einige Jahre« – er erhob sich, als sei das der Höhepunkt seines
Lebens – »und hier auf diesem Kasten, wo alles nach der Schnur
eingerichtet ist, wo kein Witz erfordert wird, hier taug’ ich nichts,
hier stehe ich dem Schubal immer im Wege, bin ein Faulpelz, verdiene
hinausgeworfen zu werden und bekomme meinen Lohn aus Gnade. Verstehen
Sie das? Ich nicht.« »Das dürfen Sie sich nicht gefallen lassen,« sagte
Karl aufgeregt. Er hatte fast das Gefühl davon verloren, daß er auf dem
unsicheren Boden eines Schiffes, an der Küste eines unbekannten Erdteils
war, so heimisch war ihm hier auf dem Bett des Heizers zumute. »Waren
Sie schon beim Kapitän? Haben Sie schon bei ihm Ihr Recht gesucht?« »Ach
gehen Sie, gehen Sie lieber weg. Ich will Sie nicht hier haben. Sie
hören nicht zu was ich sage und geben mir Ratschläge. Wie soll ich denn
zum Kapitän gehen!« Und müde setzte sich der Heizer wieder und legte das
Gesicht in beide Hände.
»Einen besseren Rat kann ich ihm nicht geben,« sagte sich Karl. Und er
fand überhaupt, daß er lieber seinen Koffer hätte holen sollen, statt
hier Ratschläge zu geben, die doch nur für dumm gehalten wurden. Als ihm
der Vater den Koffer für immer übergeben hatte, hatte er im Scherz
gefragt: »Wielange wirst Du ihn haben?« und jetzt war dieser teuere
Koffer vielleicht schon im Ernst verloren. Der einzige Trost war noch,
daß der Vater von seiner jetzigen Lage kaum erfahren konnte, selbst wenn
er nachforschen sollte. Nur daß er bis New York mitgekommen war, konnte
die Schiffsgesellschaft gerade noch sagen. Leid tat es aber Karl, daß er
die Sachen im Koffer noch kaum verwendet hatte, trotzdem er es
beispielsweise längst nötig gehabt hätte, das Hemd zu wechseln. Da hatte
er also am unrichtigen Ort gespart; jetzt, wo er es gerade am Beginn
seiner Laufbahn nötig haben würde, rein gekleidet aufzutreten, würde er
im schmutzigen Hemd erscheinen müssen. Sonst wäre der Verlust des
Koffers nicht gar so arg gewesen, denn der Anzug, den er anhatte, war
sogar besser, als jener im Koffer, der eigentlich nur ein Notanzug war,
den die Mutter noch knapp vor der Abreise hatte flicken müssen. Jetzt
erinnerte er sich auch, daß im Koffer noch ein Stück Veroneser Salami
war, die ihm die Mutter als Extragabe eingepackt hatte, von der er
jedoch nur den kleinsten Teil hatte aufessen können, da er während der
Fahrt ganz ohne Appetit gewesen war und die Suppe, die im Zwischendeck
zur Verteilung kam, ihm reichlich genügt hatte. Jetzt hätte er aber die
Wurst gern bei der Hand gehabt, um sie dem Heizer zu verehren. Denn
solche Leute sind leicht gewonnen, wenn man ihnen irgendeine Kleinigkeit
zusteckt, das wußte Karl noch von seinem Vater her, welcher durch
Zigarrenverteilung alle die niedrigeren Angestellten gewann, mit denen
er geschäftlich zu tun hatte. Jetzt besaß Karl an Verschenkbarem nur
noch sein Geld, und das wollte er, wenn er schon vielleicht den Koffer
verloren haben sollte, vorläufig nicht anrühren. Wieder kehrten seine
Gedanken zum Koffer zurück, und er konnte jetzt wirklich nicht einsehen,
warum er den Koffer während der Fahrt so aufmerksam bewacht hatte, daß
ihm die Wache fast den Schlaf gekostet hatte, wenn er jetzt diesen
gleichen Koffer so leicht sich hatte wegnehmen lassen. Er erinnerte sich
an die fünf Nächte, während derer er einen kleinen Slowaken, der zwei
Schlafstellen links von ihm gelegen war, unausgesetzt im Verdacht gehabt
hatte, daß er es auf seinen Koffer abgesehen habe. Dieser Slowake hatte
nur darauf gelauert, daß Karl endlich, von Schwäche befallen, für einen
Augenblick einnicke, damit er den Koffer mit einer langen Stange, mit
der er immer während des Tages spielte oder übte, zu sich hinüberziehen
könne. Bei Tag sah dieser Slowake genug unschuldig aus, aber kaum war
die Nacht gekommen, erhob er sich von Zeit zu Zeit von seinem Lager und
sah traurig zu Karls Koffer hinüber. Karl konnte dies ganz deutlich
erkennen, denn immer hatte hie und da jemand mit der Unruhe des
Auswanderers ein Lichtchen angezündet, trotzdem dies nach der
Schiffsordnung verboten war, und versuchte, unverständliche Prospekte
der Auswanderungsagenturen zu entziffern. War ein solches Licht in der
Nähe, dann konnte Karl ein wenig eindämmern, war es aber in der Ferne,
oder war dunkel, dann mußte er die Augen offenhalten. Diese Anstrengung
hatte ihn recht erschöpft, und nun war sie vielleicht ganz umsonst
gewesen. Dieser Butterbaum, wenn er ihn einmal irgendwo treffen sollte!
In diesem Augenblick ertönten draußen in weiter Ferne in die bisherige
vollkommene Ruhe hinein kleine kurze Schläge, wie von Kinderfüßen, sie
kamen näher mit verstärktem Klang und nun war es ein ruhiger Marsch von
Männern. Sie gingen offenbar, wie es in dem schmalen Gang natürlich war,
in einer Reihe, man hörte Klirren wie von Waffen. Karl, der schon nahe
daran gewesen war, sich im Bett zu einem von allen Sorgen um Koffer und
Slowaken befreiten Schlafe auszustrecken, schreckte auf und stieß den
Heizer an, um ihn endlich aufmerksam zu machen, denn der Zug schien mit
seiner Spitze die Tür gerade erreicht zu haben. »Das ist die
Schiffskapelle,« sagte der Heizer, »die haben oben gespielt und gehen
jetzt einpacken. Jetzt ist alles fertig und wir können gehen. Kommen
Sie!« Er faßte Karl bei der Hand, nahm noch im letzten Augenblick ein
eingerahmtes Muttergottesbild von der Wand über dem Bett, stopfte es in
seine Brusttasche, ergriff seinen Koffer und verließ mit Karl eilig die
Kabine.
»Jetzt gehe ich ins Bureau und werde den Herren meine Meinung sagen. Es
ist kein Passagier mehr da, man muß keine Rücksicht nehmen«. Dieses
wiederholte der Heizer verschiedenartig und wollte im Gehen mit
Seitwärtsstoßen des Fußes eine den Weg kreuzende Ratte niedertreten,
stieß sie aber bloß schneller in das Loch hinein, das sie noch
rechtzeitig erreicht hatte. Er war überhaupt langsam in seinen
Bewegungen, denn wenn er auch lange Beine hatte, so waren sie doch zu
schwer.
Sie kamen durch eine Abteilung der Küche, wo einige Mädchen in
schmutzigen Schürzen – sie begossen sie absichtlich – Geschirr in großen
Bottichen reinigten. Der Heizer rief eine gewisse Line zu sich, legte
den Arm um ihre Hüfte und führte sie, die sich immerzu kokett gegen
seinen Arm drückte, ein Stückchen mit. »Es gibt jetzt Auszahlung, willst
du mitkommen?« fragte er. »Warum soll ich mich bemühn, bring mir das
Geld lieber her,« antwortete sie, schlüpfte unter seinem Arm durch und
lief davon. »Wo hast du denn den schönen Knaben aufgegabelt?« rief sie
noch, wollte aber keine Antwort mehr. Man hörte das Lachen aller
Mädchen, die ihre Arbeit unterbrochen hatten.
Sie gingen aber weiter und kamen an eine Tür, die oben einen kleinen
Vorgiebel hatte, der von kleinen, vergoldeten Karyatiden getragen war.
Für eine Schiffseinrichtung sah das recht verschwenderisch aus. Karl
war, wie er merkte, niemals in diese Gegend gekommen, die
wahrscheinlich während der Fahrt den Passagieren der ersten und zweiten
Klasse vorbehalten gewesen war, während man jetzt vor der großen
Schiffsreinigung die Trennungstüren ausgehoben hatte. Sie waren auch
tatsächlich schon einigen Männern begegnet, die Besen an der Schulter
trugen und den Heizer gegrüßt hatten. Karl staunte über den großen
Betrieb, in seinem Zwischendeck hatte er davon freilich wenig erfahren.
Entlang der Gänge zogen sich auch Drähte elektrischer Leitungen und eine
kleine Glocke hörte man immerfort.
Der Heizer klopfte respektvoll an der Türe an und forderte, als man
»herein« rief, Karl mit einer Handbewegung auf, ohne Furcht einzutreten.
Er trat auch ein, aber blieb an der Türe stehen. Vor den drei Fenstern
des Zimmers sah er die Wellen des Meeres und bei Betrachtung ihrer
fröhlichen Bewegung schlug ihm das Herz, als hätte er nicht fünf lange
Tage das Meer ununterbrochen gesehen. Große Schiffe kreuzten gegenseitig
ihre Wege und gaben dem Wellenschlag nur soweit nach als es ihre Schwere
erlaubte. Wenn man die Augen klein machte, schienen diese Schiffe vor
lauter Schwere zu schwanken. Auf ihren Masten trugen sie schmale, aber
lange Flaggen, die zwar durch die Fahrt gestrafft wurden, trotzdem aber
noch hin- und herzappelten. Wahrscheinlich von Kriegsschiffen her
erklangen Salutschüsse, die Kanonenrohre eines solchen nicht allzuweit
vorüberfahrenden Schiffes, strahlend mit dem Reflex ihres Stahlmantels,
waren wie gehätschelt von der sicheren, glatten und doch nicht
wagrechten Fahrt. Die kleinen Schiffchen und Boote konnte man,
wenigstens von der Tür aus, nur in der Ferne beobachten, wie sie in
Mengen in die Öffnungen zwischen den großen Schiffen einliefen. Hinter
alledem aber stand New York und sah Karl mit den hunderttausend Fenstern
seiner Wolkenkratzer an. Ja, in diesem Zimmer wußte man, wo man war.
An einem runden Tisch saßen drei Herren, der eine ein Schiffsoffizier in
blauer Schiffsuniform, die zwei anderen, Beamte der Hafenbehörde, in
schwarzen, amerikanischen Uniformen. Auf dem Tisch lagen,
hochaufgeschichtet, verschiedene Dokumente, welche der Offizier zuerst
mit der Feder in der Hand überflog, um sie dann den beiden anderen zu
reichen, die bald lasen, bald exzerpierten, bald in ihre Aktentaschen
einlegten, wenn nicht gerade der eine, der fast ununterbrochen ein
kleines Geräusch mit den Zähnen vollführte, seinem Kollegen etwas in ein
Protokoll diktierte.
Am Fenster saß an einem Schreibtisch, den Rücken der Türe zugewendet,
ein kleinerer Herr, der mit großen Folianten hantierte, die auf einem
starken Bücherbrett in Kopfhöhe vor ihm aneinander gereiht waren. Neben
ihm stand eine offene, wenigstens auf den ersten Blick leere Kassa.
Das zweite Fenster war leer und gab den besten Ausblick. In der Nähe des
dritten aber standen zwei Herren in halblautem Gespräch. Der eine lehnte
neben dem Fenster, trug auch die Schiffsuniform und spielte mit dem
Griff des Degens. Derjenige, mit dem er sprach, war dem Fenster
zugewendet und enthüllte hie und da durch eine Bewegung einen Teil der
Ordensreihe auf der Brust des andern. Er war in Zivil und hatte ein
dünnes Bambusstöckchen, das, da er beide Hände an den Hüften festhielt,
auch wie ein Degen abstand.
Karl hatte nicht viel Zeit, alles anzusehen, denn bald trat ein Diener
auf sie zu und fragte den Heizer mit einem Blick, als gehöre er nicht
hierher, was er denn wolle. Der Heizer antwortete, so leise als er
gefragt wurde, er wolle mit dem Herrn Oberkassier reden. Der Diener
lehnte für seinen Teil mit einer Handbewegung diese Bitte ab, ging aber
dennoch auf den Fußspitzen, dem runden Tisch in großem Bogen
ausweichend, zu dem Herrn mit den Folianten. Dieser Herr – das sah man
deutlich – erstarrte geradezu unter den Worten des Dieners, kehrte sich
aber endlich nach dem Manne um, der ihn zu sprechen wünschte, und
fuchtelte dann, streng abwehrend, gegen den Heizer und der Sicherheit
halber auch gegen den Diener hin. Der Diener kehrte darauf zum Heizer
zurück und sagte in einem Tone, als vertraue er ihm etwas an: »Scheren
Sie sich sofort aus dem Zimmer!«
Der Heizer sah nach dieser Antwort zu Karl hinunter, als sei dieser sein
Herz, dem er stumm seinen Jammer klage. Ohne weitere Besinnung machte
sich Karl los, lief quer durchs Zimmer, daß er sogar leicht an den
Sessel des Offiziers streifte, der Diener lief gebeugt mit zum Umfangen
bereiten Armen, als jage er ein Ungeziefer, aber Karl war der erste beim
Tisch des Oberkassiers, wo er sich festhielt, für den Fall, daß der
Diener versuchen sollte, ihn fortzuziehen.
Natürlich wurde gleich das ganze Zimmer lebendig. Der Schiffsoffizier am
Tisch war aufgesprungen, die Herren von der Hafenbehörde sahen ruhig,
aber aufmerksam zu, die beiden Herren am Fenster waren nebeneinander
getreten, der Diener, welcher glaubte, er sei dort, wo schon die hohen
Herren Interesse zeigten, nicht mehr am Platze, trat zurück. Der Heizer
an der Tür wartete angespannt auf den Augenblick, bis seine Hilfe nötig
würde. Der Oberkassier endlich machte in seinem Lehnsessel eine große
Rechtswendung.
Karl kramte aus seiner Geheimtasche, die er den Blicken dieser Leute zu
zeigen keine Bedenken hatte, seinen Reisepaß hervor, den er statt
weiterer Vorstellung geöffnet auf den Tisch legte. Der Oberkassier
schien diesen Paß für nebensächlich zu halten, denn er schnippte ihn mit
zwei Fingern beiseite, worauf Karl, als sei diese Formalität zur
Zufriedenheit erledigt, den Paß wieder einsteckte.
»Ich erlaube mir zu sagen,« begann er dann, »daß meiner Meinung nach dem
Herrn Heizer Unrecht geschehen ist. Es ist hier ein gewisser Schubal,
der ihm aufsitzt. Er selbst hat schon auf vielen Schiffen, die er Ihnen
alle nennen kann, zur vollständigen Zufriedenheit gedient, ist fleißig,
meint es mit seiner Arbeit gut, und es ist wirklich nicht einzusehen,
warum er gerade auf diesem Schiff, wo doch der Dienst nicht so übermäßig
schwer ist, wie zum Beispiel auf Handelsseglern, schlecht entsprechen
sollte. Es kann daher nur Verleumdung sein, die ihn in seinem
Vorwärtskommen hindert und ihn um die Anerkennung bringt, die ihm sonst
ganz bestimmt nicht fehlen würde. Ich habe nur das Allgemeine über diese
Sache gesagt, seine besonderen Beschwerden wird er Ihnen selbst
vorbringen.« Karl hatte sich mit dieser Rede an alle Herren gewendet,
weil ja tatsächlich auch alle zuhörten und es viel wahrscheinlicher
schien, daß sich unter allen zusammen ein Gerechter vorfand, als daß
dieser Gerechte gerade der Oberkassier sein sollte. Aus Schlauheit hatte
außerdem Karl verschwiegen, daß er den Heizer erst so kurze Zeit kannte.
Im übrigen hätte er noch viel besser gesprochen, wenn er nicht durch das
rote Gesicht des Herrn mit dem Bambusstöckchen beirrt worden wäre, das
er von seinem jetzigen Standort zum erstenmal sah.
»Es ist alles Wort für Wort richtig,« sagte der Heizer, ehe ihn noch
jemand gefragt, ja ehe man noch überhaupt auf ihn hingesehen hatte.
Diese Übereiltheit des Heizers wäre ein großer Fehler gewesen, wenn
nicht der Herr mit den Orden, der, wie es jetzt Karl aufleuchtete,
jedenfalls der Kapitän war, offenbar mit sich bereits übereingekommen
wäre, den Heizer anzuhören. Er streckte nämlich die Hand aus und rief
dem Heizer zu: »Kommen Sie her!« mit einer Stimme, fest, um mit einem
Hammer darauf zu schlagen. Jetzt hing alles vom Benehmen des Heizers ab,
denn was die Gerechtigkeit seiner Sache anlangte, an der zweifelte Karl
nicht.
Glücklicherweise zeigte sich bei dieser Gelegenheit, daß der Heizer
schon viel in der Welt herumgekommen war. Musterhaft ruhig nahm er aus
seinem Köfferchen mit dem ersten Griff ein Bündelchen Papiere, sowie ein
Notizbuch, ging damit, als verstünde sich das von selbst, unter
vollständiger Vernachlässigung des Oberkassiers, zum Kapitän und
breitete auf dem Fensterbrett seine Beweismittel aus. Dem Oberkassier
blieb nichts übrig, als sich selbst hinzubemühn. »Der Mann ist ein
bekannter Querulant,« sagte er zur Erklärung, »er ist mehr in der Kassa,
als im Maschinenraum. Er hat Schubal, diesen ruhigen Menschen, ganz zur
Verzweiflung gebracht. Hören Sie einmal!« wandte er sich an den Heizer,
»Sie treiben Ihre Zudringlichkeit doch schon wirklich zu weit. Wie oft
hat man Sie schon aus den Auszahlungsräumen hinausgeworfen, wie Sie es
mit Ihren ganz, vollständig und ausnahmslos unberechtigten Forderungen
verdienen! Wie oft sind Sie von dort in die Hauptkassa gelaufen
gekommen! Wie oft hat man Ihnen im Guten gesagt, daß Schubal Ihr
unmittelbarer Vorgesetzter ist, mit dem allein Sie sich als sein
Untergebener abzufinden haben! Und jetzt kommen Sie gar noch her, wenn
der Herr Kapitän da ist, schämen sich nicht, sogar ihn zu belästigen,
sondern entblöden sich nicht einmal, als eingelernten Stimmführer Ihrer
abgeschmackten Beschuldigungen diesen Kleinen mitzubringen, den ich
überhaupt zum erstenmal auf dem Schiffe sehe!«
Karl hielt sich mit Gewalt zurück, vorzuspringen. Aber schon war auch
der Kapitän da, welcher sagte: »Hören wir den Mann doch einmal an. Der
Schubal wird mir sowieso mit der Zeit viel zu selbständig, womit ich
aber nichts zu Ihren Gunsten gesagt haben will.« Das letztere galt dem
Heizer, es war nur natürlich, daß er sich nicht sofort für ihn einsetzen
konnte, aber alles schien auf dem richtigen Wege. Der Heizer begann
seine Erklärungen und überwand sich gleich am Anfang, indem er den
Schubal mit »Herr« titulierte. Wie freute sich Karl am verlassenen
Schreibtisch des Oberkassiers, wo er eine Briefwage immer wieder
niederdrückte vor lauter Vergnügen. – Herr Schubal ist ungerecht! Herr
Schubal bevorzugt die Ausländer! Herr Schubal verwies den Heizer aus dem
Maschinenraum und ließ ihn Klosette reinigen, was doch gewiß nicht des
Heizers Sache war! – Einmal wurde sogar die Tüchtigkeit des Herrn
Schubal angezweifelt, die eher scheinbar als wirklich vorhanden sein
sollte. Bei dieser Stelle starrte Karl mit aller Kraft den Kapitän an,
zutunlich, als sei er sein Kollege, nur damit er sich durch die etwas
ungeschickte Ausdrucksweise des Heizers nicht zu dessen Ungunsten
beeinflussen lasse. Immerhin erfuhr man aus den vielen Reden nichts
Eigentliches, und wenn auch der Kapitän noch immer vor sich hinsah, in
den Augen die Entschlossenheit, den Heizer diesmal bis zu Ende
anzuhören, so wurden doch die anderen Herren ungeduldig, und die Stimme
des Heizers regierte bald nicht mehr unumschränkt in dem Raume, was
manches befürchten ließ. Als erster setzte der Herr in Zivil sein
Bambusstöckchen in Tätigkeit und klopfte, wenn auch nur leise, auf das
Parkett. Die anderen Herren sahen natürlich hie und da hin, die Herren
von der Hafenbehörde, die offenbar pressiert waren, griffen wieder zu
den Akten und begannen, wenn auch noch etwas geistesabwesend, sie
durchzusehen, der Schiffsoffizier rückte seinem Tische wieder näher, und
der Oberkassier, der gewonnenes Spiel zu haben glaubte, seufzte aus
Ironie tief auf. Von der allgemein eintretenden Zerstreuung schien nur
der Diener bewahrt, der von den Leiden des unter die Großen gestellten
armen Mannes einen Teil mitfühlte und Karl ernst zunickte, als wolle er
damit etwas erklären.
Inzwischen ging vor den Fenstern das Hafenleben weiter; ein flaches
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