Demian: Die Geschichte von Emil Sinclairs Jugend - 11

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davon. Ich brachte seine Mutter nach Hause zurück. Bald nahm auch ich
Abschied von ihr, sie küßte mich auf den Mund und hielt mich einen
Augenblick an ihrer Brust, und ihre großen Augen brannten nah und fest in
meine.
Und alle Menschen waren wie verbrüdert. Sie meinten das Vaterland und die
Ehre. Aber es war das Schicksal, dem sie alle einen Augenblick in das
unverhüllte Gesicht schauten. Junge Männer kamen aus Kasernen, stiegen in
Bahnzüge, und auf vielen Gesichtern sah ich ein Zeichen -- nicht das unsre
-- ein schönes und würdevolles Zeichen, das Liebe und Tod bedeutete. Auch
ich wurde von Menschen umarmt, die ich nie gesehen hatte, und ich verstand
es und erwiderte es gerne. Es war ein Rausch, in dem sie es taten, kein
Schicksalswille, aber der Rausch war heilig, er rührte daher, daß sie alle
diesen kurzen, aufrüttelnden Blick in die Augen des Schicksals getan
hatten.
Es war schon beinahe Winter, als ich ins Feld kam.
Im Anfang war ich, trotz der Sensationen der Schießerei, von allem
enttäuscht. Früher hatte ich viel darüber nachgedacht, warum so äußerst
selten ein Mensch für ein Ideal zu leben vermöge. Jetzt sah ich, daß viele,
ja alle Menschen fähig sind, für ein Ideal zu sterben. Nur durfte es kein
persönliches, kein freies, kein gewähltes Ideal sein, es mußte ein
gemeinsames und übernommenes sein.
Mit der Zeit sah ich aber, daß ich die Menschen unterschätzt hatte. So sehr
der Dienst und die gemeinsame Gefahr sie uniformierte, ich sah doch viele,
Lebende und Sterbende, sich dem Schicksalswillen prachtvoll nähern. Viele,
sehr viele hatten nicht nur beim Angriff, sondern zu jeder Zeit den festen,
fernen, ein wenig wie besessenen Blick, der nichts von Zielen weiß und
volles Hingegebensein an das Ungeheure bedeutet. Mochten diese glauben und
meinen, was immer sie wollten -- sie waren bereit, sie waren brauchbar, aus
ihnen würde sich Zukunft formen lassen. Und je starrer die Welt auf Krieg
und Heldentum, auf Ehre und andre alte Ideale eingestellt schien, je ferner
und unwahrscheinlicher jede Stimme scheinbarer Menschlichkeit klang, dies
war alles nur die Oberfläche, ebenso wie die Frage nach den äußeren und
politischen Zielen des Krieges nur Oberfläche blieb. In der Tiefe war etwas
im Werden. Etwas wie eine neue Menschlichkeit. Denn viele konnte ich sehen,
und mancher von ihnen starb an meiner Seite -- denen war gefühlhaft die
Einsicht geworden, daß Haß und Wut, Totschlagen und Vernichten nicht an die
Objekte geknüpft waren. Nein, die Objekte, ebenso wie die Ziele, waren ganz
zufällig. Die Urgefühle, auch die wildesten, galten nicht dem Feinde, ihr
blutiges Werk war nur Ausstrahlung des Innern, der in sich zerspaltenen
Seele, welche rasen und töten, vernichten und sterben wollte, um neu
geboren werden zu können. Es kämpfte sich ein Riesenvogel aus dem Ei, und
das Ei war die Welt, und die Welt mußte in Trümmer gehen.
Vor dem Gehöfte, das wir besetzt hatten, stand ich in einer
Vorfrühlingsnacht auf Wache. In launischen Stößen ging ein schlapper Wind,
über den hohen flandrischen Himmel ritten Wolkenheere, irgendwo dahinter
eine Ahnung von Mond. Schon den ganzen Tag war ich in Unruhe gewesen,
irgendeine Sorge störte mich. Jetzt, auf meinem dunklen Posten, dachte ich
mit Innigkeit an die Bilder meines bisherigen Lebens, an Frau Eva, an
Demian. Ich stand an eine Pappel gelehnt und starrte in den bewegten
Himmel, dessen heimlich zuckende Helligkeiten bald zu großen, quellenden
Bilderfolgen wurden. Ich spürte an der seltsamen Dünne meines Pulses, an
der Unempfindlichkeit meiner Haut gegen Wind und Regen, an der funkelnden
inneren Wachheit, daß ein Führer um mich sei.
In den Wolken war eine große Stadt zu sehen, aus der strömten Millionen von
Menschen hervor, die verbreiteten sich in Schwärmen über weite
Landschaften. Mitten unter sie trat eine mächtige Göttergestalt, funkelnde
Sterne im Haar, groß wie ein Gebirge, mit den Zügen der Frau Eva. In sie
hinein verschwanden die Züge der Menschen, wie in eine riesige Höhle, und
waren weg. Die Göttin kauerte sich am Boden nieder, hell schimmerte das Mal
auf ihrer Stirn. Ein Traum schien Gewalt über sie zu haben, sie schloß die
Augen und ihr großes Antlitz verzog sich in Weh. Plötzlich schrie sie hell
auf, und aus ihrer Stirn sprangen Sterne, viele tausend leuchtende Sterne,
die schwangen sich in herrlichen Bogen und Halbkreisen über den schwarzen
Himmel.
Einer von den Sternen brauste mit hellem Klang gerade zu mir her, schien
mich zu suchen. -- Da krachte er brüllend in tausend Funken auseinander, es
riß mich empor und warf mich wieder zu Boden, donnernd brach die Welt über
mir zusammen.
Man fand mich nahe bei der Pappel, mit Erde bedeckt und mit vielen Wunden.
Ich lag in einem Keller, Geschütze brummten über mir. Ich lag in einem
Wagen und holperte über leere Felder. Meistens schlief ich oder war ohne
Bewußtsein. Aber je tiefer ich schlief, desto heftiger empfand ich, daß
etwas mich zog, daß ich einer Kraft folgte, die über mich Herr war.
Ich lag in einem Stall auf Stroh, es war dunkel, jemand war mir auf die
Hand getreten. Aber mein Inneres wollte weiter, stärker zog es mich weg.
Wieder lag ich auf einem Wagen, und später auf einer Bahre oder Leiter,
immer stärker fühlte ich mich irgendwohin befohlen, fühlte nichts als den
Drang, endlich dahin zu kommen.
Da war ich am Ziel. Es war Nacht, ich war bei vollem Bewußtsein, mächtig
hatte ich soeben noch den Zug und Drang in mir empfunden. Nun lag ich in
einem Saal, am Boden gebettet, und fühlte, daß ich dort sei, wohin ich
gerufen war. Ich blickte um mich, dicht neben meiner Matratze lag eine
andre, und jemand auf ihr, der neigte sich vor und sah mich an. Er hatte
das Zeichen auf der Stirn. Es war Max Demian.
Ich konnte nicht sprechen, und auch er konnte oder wollte nicht. Er sah
mich nur an. Auf seinem Gesicht lag der Schein einer Ampel, die über ihm an
der Wand hing. Er lächelte mir zu.
Eine unendlich lange Zeit sah er mir immerfort in die Augen. Langsam schob
er sein Gesicht mir näher, bis wir uns fast berührten.
»Sinclair!« sagte er flüsternd.
Ich gab ihm ein Zeichen mit den Augen, daß ich ihn verstehe.
Er lächelte wieder, beinah wie in Mitleid.
»Kleiner Junge!« sagte er lächelnd.
Sein Mund lag nun ganz nahe an meinem. Leise fuhr er fort zu sprechen.
»Kannst du dich noch an Franz Kromer erinnern?« fragte er.
Ich zwinkerte ihm zu, und konnte auch lächeln.
»Kleiner Sinclair, paß auf! Ich werde fortgehen müssen. Du wirst mich
vielleicht einmal wieder brauchen, gegen den Kromer oder sonst. Wenn du
mich dann rufst, dann komme ich nicht mehr so grob auf einem Pferd geritten
oder mit der Eisenbahn. Du mußt dann in dich hinein hören, dann merkst du,
daß ich in dir drinnen bin. Verstehst du? -- Und noch etwas! Frau Eva hat
gesagt, wenn es dir einmal schlecht gehe, dann solle ich dir den Kuß von
ihr geben, den sie mir mitgegeben hat . . . Mach die Augen zu, Sinclair!«
Ich schloß gehorsam meine Augen zu, ich spürte einen leichten Kuß auf
meinen Lippen, auf denen ich immer ein wenig Blut stehen hatte, das nie
weniger werden wollte. Und dann schlief ich ein.
Am Morgen wurde ich geweckt, ich sollte verbunden werden. Als ich endlich
richtig wach war, wendete ich mich schnell nach der Nachbarmatratze hin. Es
lag ein fremder Mensch darauf, den ich nie gesehen hatte.
Das Verbinden tat weh. Alles, was seither mit mir geschah, tat weh. Aber
wenn ich manchmal den Schlüssel finde und ganz in mich selbst
hinuntersteige, da wo im dunkeln Spiegel die Schicksalsbilder schlummern,
dann brauche ich mich nur über den schwarzen Spiegel zu neigen, und sehe
mein eigenes Bild, das nun ganz Ihm gleicht, Ihm, meinem Freund und Führer.
Druck von Hallberg & Büchting, Leipzig.


Werke von Hermann Hesse

Peter Camenzind
Roman. 98. Auflage.
Unterm Rad
Roman. 108. Auflage.
Diesseits
Erzählungen. 27. Auflage.
Nachbarn
Erzählungen. 12. Auflage.
Umwege
Erzählungen. 17. Auflage.
Aus Indien
Aufzeichnungen von einer indischen Reise. 9. Auflage.
Roßhalde
Roman. 42. Auflage.
Knulp
Drei Geschichten aus dem Leben Knulps. 95. Auflage.
Schön ist die Jugend
78. Auflage.
Märchen
21. Auflage.
Zarathustras Wiederkehr
Ein Wort an die deutsche Jugend. 10. Auflage.
Klingsors letzter Sommer
Erzählungen. 10. Auflage.
Wanderung
Aufzeichnungen mit 14 farbigen Bildern vom Verfasser. 8. Auflage.


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