Demian: Die Geschichte von Emil Sinclairs Jugend - 08

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In den Pausen zwischen den Schulstunden war mir zuweilen aufgefallen, daß
ein Mitschüler meine Nähe suchte, den ich nie beachtet hatte. Es war ein
kleiner, schwach aussehender, schmächtiger Jüngling mit rötlich blondem,
dünnem Haar, der in Blick und Benehmen etwas Eigenes hatte. Eines Abends,
als ich nach Hause kam, lauerte er in der Gasse auf mich, ließ mich an sich
vorübergehen, lief mir dann wieder nach, und blieb vor unsrer Haustür
stehen.
»Willst du etwas von mir?« fragte ich.
»Ich möchte bloß einmal mit dir sprechen,« sagte er schüchtern. »Sei so gut
und komm ein paar Schritte mit.«
Ich folgte ihm und spürte, daß er tief erregt und voll Erwartung war. Seine
Hände zitterten.
»Bist du Spiritist?« fragte er ganz plötzlich.
»Nein, Knauer,« sagte ich lachend. »Keine Spur davon. Wie kommst du auf so
etwas?«
»Aber Theosoph bist du?«
»Auch nicht.«
»Ach, sei nicht so verschlossen! Ich spüre doch ganz gut, daß etwas
Besonderes mit dir ist. Du hast es in den Augen. Ich glaube bestimmt, daß
du Umgang mit Geistern hast. -- Ich frage nicht aus Neugierde, Sinclair,
nein! Ich bin selber ein Suchender, weißt du, und ich bin so allein.«
»Erzähle nur!« munterte ich ihn an. »Ich weiß von Geistern zwar gar nichts,
ich lebe in meinen Träumen, und das hast du gespürt. Die anderen Leute
leben auch in Träumen, aber nicht in ihren eigenen, das ist der
Unterschied.«
»Ja, so ist es vielleicht,« flüsterte er. »Es kommt nur drauf an, welcher
Art die Träume sind, in denen man lebt. -- Hast du schon von der weißen
Magie gehört?«
Ich mußte verneinen.
»Das ist, wenn man lernt, sich selber zu beherrschen. Man kann unsterblich
werden, und auch zaubern. Hast du nie solche Übungen gemacht?«
Auf meine neugierige Frage nach diesen Übungen tat er erst geheimnisvoll,
bis ich mich zum Gehen wandte, dann kramte er aus.
»Zum Beispiel, wenn ich einschlafen oder auch mich konzentrieren will, dann
mache ich eine solche Übung. Ich denke mir irgend etwas, zum Beispiel ein
Wort oder einen Namen, oder eine geometrische Figur. Die denke ich dann in
mich hinein, so stark ich kann, ich suche sie mir innen in meinem Kopf
vorzustellen, bis ich fühle, daß sie darin ist. Dann denke ich sie in den
Hals, und so weiter, bis ich ganz davon ausgefüllt bin. Dann bin ich ganz
fest, und nichts mehr kann mich aus der Ruhe bringen.«
Ich begriff einigermaßen, wie er es meine. Doch fühlte ich wohl, daß er
noch anderes auf dem Herzen habe, er war seltsam erregt und hastig. Ich
suchte ihm das Fragen leicht zu machen, und bald kam er denn mit seinem
eigentlichen Anliegen.
»Du bist doch auch enthaltsam?« fragte er mich ängstlich.
»Wie meinst du das? Meinst du das Geschlechtliche?«
»Ja, ja. Ich bin jetzt seit zwei Jahren enthaltsam, seit ich von der Lehre
weiß. Vorher habe ich ein Laster getrieben, du weißt schon. -- Du bist also
nie bei einem Weib gewesen?«
»Nein,« sagte ich. »Ich habe die Richtige nicht gefunden.«
»Aber wenn du die fändest, von der du meinst, sie sei die Richtige, dann
würdest du mit ihr schlafen?«
»Ja, natürlich. -- Wenn sie nichts dagegen hat,« sagte ich mit etwas Spott.
»O da bist du aber auf dem falschen Weg! Die inneren Kräfte kann man nur
ausbilden, wenn man völlig enthaltsam bleibt. Ich habe es getan, zwei Jahre
lang. Zwei Jahre und etwas mehr als einen Monat! Es ist so schwer! Manchmal
kann ich es kaum mehr aushalten.«
»Höre, Knauer, ich glaube nicht, daß die Enthaltsamkeit so furchtbar
wichtig ist.«
»Ich weiß,« wehrte er ab, »das sagen alle. Aber von dir habe ich es nicht
erwartet. Wer den höheren geistigen Weg gehen will, der muß rein bleiben,
unbedingt!«
»Ja, dann tu es! Aber ich begreife nicht, warum einer >reiner< sein soll,
der sein Geschlecht unterdrückt, als irgendein anderer. Oder kannst du das
Geschlechtliche auch aus allen Gedanken und Träumen ausschalten?«
Er sah mich verzweifelt an.
»Nein, eben nicht! Herrgott, und doch muß es sein. Ich habe in der Nacht
Träume, die ich nicht einmal mir selber erzählen könnte! Furchtbare Träume,
du!«
Ich erinnerte mich dessen, was Pistorius mir gesagt hatte. Aber so sehr ich
seine Worte als richtig empfand, ich konnte sie nicht weitergeben, ich
konnte nicht einen Rat erteilen, der nicht aus meiner eigenen Erfahrung
herkam und dessen Befolgung ich mich selber noch nicht gewachsen fühlte.
Ich wurde schweigsam und fühlte mich dadurch gedemütigt, daß da jemand Rat
bei mir suchte, dem ich keinen zu geben hatte.
»Ich habe alles probiert!« jammerte Knauer neben mir. »Ich habe getan, was
man tun kann, mit kaltem Wasser, mit Schnee, mit Turnen und Laufen, aber es
hilft alles nichts. Jede Nacht wache ich aus Träumen auf, an die ich gar
nicht denken darf. Und das Entsetzliche ist: darüber geht mir allmählich
alles wieder verloren, was ich geistig gelernt hatte. Ich bringe es beinahe
nie mehr fertig, mich zu konzentrieren oder mich einzuschläfern, oft liege
ich die ganze Nacht wach. Ich halte das nimmer lang aus. Wenn ich
schließlich doch den Kampf nicht durchführen kann, wenn ich nachgebe und
mich wieder unrein mache, dann bin ich schlechter als alle anderen, die
überhaupt nie gekämpft haben. Das begreifst du doch?«
Ich nickte, konnte aber nichts dazu sagen. Er begann mich zu langweilen,
und ich erschrak vor mir selber, daß mir seine offensichtliche Not und
Verzweiflung keinen tiefern Eindruck machte. Ich empfand nur: ich kann dir
nicht helfen.
»Also weißt du mir gar nichts?« sagte er schließlich erschöpft und traurig.
»Gar nichts? Es muß doch einen Weg geben! Wie machst denn du es?«
»Ich kann dir nichts sagen, Knauer. Man kann einander da nicht helfen. Mir
hat auch niemand geholfen. Du mußt dich auf dich selber besinnen, und dann
mußt du das tun, was wirklich aus deinem Wesen kommt. Es gibt nichts
anderes. Wenn du dich selber nicht finden kannst, dann wirst du auch keine
Geister finden, glaube ich.«
Enttäuscht und plötzlich stumm geworden, sah der kleine Kerl mich an. Dann
glühte sein Blick in plötzlicher Gehässigkeit auf, er schnitt mir eine
Grimasse und schrie wütend: »Ah, du bist mir ein schöner Heiliger! Du hast
auch dein Laster, ich weiß es! Du tust wie ein Weiser und heimlich hängst
du am gleichen Dreck wie ich und alle! Du bist ein Schwein, ein Schwein,
wie ich selber. Alle sind wir Schweine!«
Ich ging weg und ließ ihn stehen. Er tat mir zwei, drei Schritte nach, dann
blieb er zurück, kehrte um und rannte davon. Mir wurde übel aus einem
Gefühl von Mitleid und Abscheu, und ich kam von dem Gefühl nicht los, bis
ich zu Hause in meinem kleinen Zimmerchen meine paar Bilder um mich stellte
und mich mit sehnlichster Innigkeit meinen eigenen Träumen hingab. Da kam
sofort mein Traum wieder, vom Haustor und Wappen, von der Mutter und der
fremden Frau, und ich sah die Züge der Frau so überdeutlich, daß ich noch
am selben Abend ihr Bild zu zeichnen begann.
Als diese Zeichnung nach einigen Tagen fertig war, in traumhaften
Viertelstunden wie bewußtlos hingestrichen, hängte ich sie am Abend an
meiner Wand auf, rückte die Studierlampe davor und stand vor ihr wie vor
einem Geist, mit dem ich kämpfen mußte bis zur Entscheidung. Es war ein
Gesicht, ähnlich dem frühern, ähnlich meinem Freund Demian, in einigen
Zügen auch ähnlich mir selber. Das eine Auge stand auffallend höher als das
andere, der Blick ging über mich weg in versunkener Starrheit, voll von
Schicksal.
Ich stand davor und wurde vor innerer Anstrengung kalt bis in die Brust
hinein. Ich fragte das Bild, ich klagte es an, ich liebkoste es, ich betete
zu ihm; ich nannte es Mutter, ich nannte es Geliebte, nannte es Hure und
Dirne, nannte es Abraxas. Dazwischen fielen Worte von Pistorius -- oder von
Demian? -- mir ein; ich konnte mich nicht erinnern, wann sie gesprochen
waren, aber ich meinte sie wieder zu hören. Es waren Worte über den Kampf
Jakobs mit dem Engel Gottes, und das »Ich lasse dich nicht, du segnest mich
denn«.
Das gemalte Gesicht im Lampenschein verwandelte sich bei jeder Anrufung. Es
wurde hell und leuchtend, wurde schwarz und finster, schloß fahle Lider
über erstorbenen Augen, öffnete sie wieder und blitzte glühende Blicke, es
war Frau, war Mann, war Mädchen, war ein kleines Kind, ein Tier, verschwamm
zum Fleck, wurde wieder groß und klar. Am Ende schloß ich, einem starken
inneren Rufe folgend, die Augen und sah nun das Bild inwendig in mir,
stärker und mächtiger. Ich wollte vor ihm niederknien, aber es war so sehr
in mir innen, daß ich es nicht mehr von mir trennen konnte, als wäre es zu
lauter Ich geworden.
Da hörte ich ein dunkles schweres Brausen wie von einem Frühjahrssturm und
zitterte in einem unbeschreiblich neuen Gefühl von Angst und Erlebnis.
Sterne zuckten vor mich auf und erloschen, Erinnerungen bis in die erste,
vergessenste Kinderzeit zurück, ja bis in Vorexistenzen und frühe Stufen
des Werdens, strömten gedrängt an mir vorüber. Aber die Erinnerungen, die
mir mein ganzes Leben bis ins Geheimste zu wiederholen schienen, hörten mit
gestern und heute nicht auf, sie gingen weiter, spiegelten Zukunft, rissen
mich von heute weg und in neue Lebensformen, deren Bilder ungeheuer hell
und blendend waren, an deren keines ich mich aber später richtig erinnern
konnte.
In der Nacht erwachte ich aus tiefem Schlaf, ich war in den Kleidern und
lag quer überm Bett. Ich zündete Licht an, fühlte, daß ich mich auf
Wichtiges besinnen müsse, wußte nichts mehr von den Stunden vorher. Ich
zündete Licht an, die Erinnerung kam allmählich. Ich suchte das Bild, es
hing nicht mehr an der Wand, lag auch nicht auf dem Tische. Da meinte ich
mich dunkel zu besinnen, daß ich es verbrannt hätte. Oder war es ein Traum
gewesen, daß ich es in meinen Händen verbrannt und die Asche gegessen
hätte?
Eine große, zuckende Unruhe trieb mich. Ich setzte den Hut auf, ging durch
Haus und Gasse, wie unter einem Zwang, lief und lief durch Straßen und über
Plätze wie von einem Sturm geweht, lauschte vor der finstern Kirche meines
Freundes, suchte und suchte in dunklem Trieb, ohne zu wissen, was. Ich kam
durch eine Vorstadt, wo Dirnenhäuser standen, dort war hier und da noch
Licht. Weiter draußen lagen Neubauten und Ziegelhaufen, zum Teil mit grauem
Schnee bedeckt. Mir fiel, da ich wie ein Traumwandler unter einem fremden
Druck durch diese Wüste trieb, der Neubau in meiner Vaterstadt ein, in
welchen mich einst mein Peiniger Kromer zu unserer ersten Abrechnung
gezogen hatte. Ein ähnlicher Bau lag in der grauen Nacht hier vor mir,
gähnte mit schwarzem Türloch mich an. Es zog mich hinein, ich wollte
ausweichen und stolperte über Sand und Schutt; der Drang war stärker, ich
mußte hinein.
Über Bretter und zerbrochene Backsteine hinweg taumelte ich in den öden
Raum, es roch trübe nach feuchter Kälte und Steinen. Ein Sandhaufen lag da,
ein grauheller Fleck, sonst war alles dunkel.
Da rief eine entsetzte Stimme mich an: »Um Gottes willen, Sinclair, wo
kommst du her?«
Und neben mir richtete aus der Finsternis ein Mensch sich auf, ein kleiner
magerer Bursch, wie ein Geist, und ich erkannte, während mir noch die Haare
zu Berg standen, meinen Schulkameraden Knauer.
»Wie kommst du hierher?« fragte er, wie irr vor Erregung. »Wie hast du mich
finden können?«
Ich verstand nicht.
»Ich habe dich nicht gesucht,« sagte ich benommen; jedes Wort machte mir
Mühe und kam mir mühsam über tote, schwere, wie erfrorene Lippen.
Er starrte mich an.
»Nicht gesucht?«
»Nein. Es zog mich her. Hast du mich gerufen? Du mußt mich gerufen haben.
Was tust du denn hier? Es ist doch Nacht.«
Er umschlang mich krampfhaft mit seinen dünnen Armen.
»Ja, Nacht. Es muß bald Morgen werden. O Sinclair, daß du mich nicht
vergessen hast! Kannst du mir denn verzeihen?«
»Was denn?«
»Ach ich war ja so häßlich!«
Erst jetzt kam mir die Erinnerung an unser Gespräch. War das vor vier, fünf
Tagen gewesen? Mir schien seither ein Leben vergangen. Aber jetzt wußte ich
plötzlich alles. Nicht nur, was zwischen uns geschehen war, sondern auch,
warum ich hergekommen war und was Knauer hier draußen hatte tun wollen.
»Du wolltest dir also das Leben nehmen, Knauer?«
Er schauderte vor Kälte und vor Angst.
»Ja, ich wollte. Ich weiß nicht, ob ich es gekonnt hätte. Ich wollte
warten, bis es Morgen wird.«
Ich zog ihn ins Freie. Die ersten wagrechten Lichtstreifen des Tages
glommen unsäglich kalt und lustlos in den grauen Lüften.
Ich führte den Jungen eine Strecke weit am Arm. Es sprach aus mir: »Jetzt
gehst du nach Hause, und sagst niemand etwas! Du bist den falschen Weg
gegangen, den falschen Weg! Wir sind auch nicht Schweine, wie du meinst.
Wir sind Menschen. Wir machen Götter, und kämpfen mit ihnen, und sie segnen
uns.«
Schweigend gingen wir weiter und auseinander. Als ich heimkam, war es Tag
geworden.
* * * * *
Das Beste, was mir jene Zeit in St. noch brachte, waren Stunden mit
Pistorius an der Orgel oder vor dem Kaminfeuer. Wir lasen einen
griechischen Text über Abraxas zusammen, er las mir Stücke einer
Übersetzung aus den Veden vor und lehrte mich das heilige »Om« sprechen.
Indessen waren es nicht diese Gelehrsamkeiten, die mich im Innern
förderten, sondern eher das Gegenteil. Was mir wohltat, war das
Vorwärtsfinden in mir selber, das zunehmende Vertrauen in meine eigenen
Träume, Gedanken und Ahnungen, und das zunehmende Wissen von der Macht, die
ich in mir trug.
Mit Pistorius verstand ich mich auf jede Weise. Ich brauchte nur stark an
ihn zu denken, so war ich sicher, daß er oder ein Gruß von ihm zu mir kam.
Ich konnte ihn, ebenso wie Demian, irgend etwas fragen, ohne daß er selbst
da war: ich brauchte ihn mir nur fest vorzustellen und meine Fragen als
intensive Gedanken an ihn zu richten. Dann kehrte alle in die Frage
gegebene Seelenkraft als Antwort in mich zurück. Nur war es nicht die
Person des Pistorius, die ich mir vorstellte, und nicht die des Max Demian,
sondern es war das von mir geträumte und gemalte Bild, das mannweibliche
Traumbild meines Dämons, das ich anrufen mußte. Es lebte jetzt nicht mehr
nur in meinen Träumen, und nicht mehr gemalt auf Papier, sondern in mir,
als ein Wunschbild und eine Steigerung meiner selbst.
Eigentümlich und zuweilen komisch war das Verhältnis, in welches der
mißglückte Selbstmörder Knauer zu mir getreten war. Seit der Nacht, in der
ich ihm gesendet worden war, hing er an mir wie ein treuer Diener oder
Hund, suchte sein Leben an meines zu knüpfen und folgte mir blindlings. Mit
den wunderlichsten Fragen und Wünschen kam er zu mir, wollte Geister sehen,
wollte die Kabbala lernen, und glaubte mir nicht, wenn ich ihm versicherte,
daß ich von all diesen Sachen nichts verstünde. Er traute mir jede Macht
zu. Aber seltsam war, daß er oft mit seinen wunderlichen und dummen Fragen
gerade dann zu mir kam, wenn irgendein Knoten in mir zu lösen war, und daß
seine launischen Einfälle und Anliegen mir oft das Stichwort und den Anstoß
zur Lösung brachten. Oft war er mir lästig und wurde herrisch weggeschickt,
aber ich spürte doch: auch er war mir gesandt, auch aus ihm kam das, was
ich ihm gab, verdoppelt in mich zurück, auch er war mir ein Führer, oder
doch ein Weg. Die tollen Bücher und Schriften, die er mir zutrug und in
denen er sein Heil suchte, lehrten mich mehr, als ich im Augenblick
einsehen konnte.
Dieser Knauer verlor sich später ungefühlt von meinem Weg. Mit ihm war eine
Auseinandersetzung nicht nötig. Wohl aber mit Pistorius. Mit diesem Freunde
erlebte ich gegen den Schluß meiner Schulzeit in St. noch etwas
Eigentümliches.
Auch den harmlosen Menschen bleibt es kaum erspart, einmal oder einigemal
im Leben in Konflikt mit den schönen Tugenden der Pietät und der
Dankbarkeit zu geraten. Jeder muß einmal den Schritt tun, der ihn von
seinem Vater, von seinen Lehrern trennt, jeder muß etwas von der Härte der
Einsamkeit spüren, wenn auch die meisten Menschen wenig davon ertragen
können und bald wieder unterkriechen. -- Von meinen Eltern und ihrer Welt,
der »lichten« Welt meiner schönen Kindheit, war ich nicht in heftigem Kampf
geschieden, sondern langsam und fast unmerklich ihnen ferner gekommen und
fremder geworden. Es tat mir leid, es machte mir bei den Besuchen in der
Heimat oft bittere Stunden; aber es ging nicht bis ins Herz, es war zu
ertragen.
Aber dort, wo wir nicht aus Gewohnheit, sondern aus eigenstem Antrieb Liebe
und Ehrfurcht dargebracht haben, da, wo wir mit eigenstem Herzen Jünger und
Freunde gewesen sind -- dort ist es ein bitterer und furchtbarer
Augenblick, wenn wir plötzlich zu erkennen meinen, daß die führende
Strömung in uns von dem Geliebten wegführen will. Da richtet jeder Gedanke,
der den Freund und Lehrer abweist, sich mit giftigem Stachel gegen unser
eigenes Herz, da trifft jeder Hieb der Abwehr ins eigene Gesicht. Da
tauchen dem, der eine gültige Moral in sich selber zu tragen meinte, die
Namen »Treulosigkeit« und »Undankbarkeit« wie schändliche Zurufe und
Brandmäler auf, da flieht das erschrockene Herz angstvoll in die lieben
Täler der Kindheitstugenden zurück und kann nicht daran glauben, daß auch
dieser Bruch getan, daß auch dieses Band zerschnitten werden muß.
Langsam hatte ein Gefühl in mir sich mit der Zeit dagegen gewendet, meinen
Freund Pistorius so unbedingt als Führer anzuerkennen. Was ich in den
wichtigsten Monaten meiner Jünglingszeit erlebt hatte, war die Freundschaft
mit ihm, war sein Rat, sein Trost, seine Nähe gewesen. Aus ihm hatte Gott
zu mir gesprochen. Aus seinem Munde waren meine Träume mir zurückgekehrt,
geklärt und gedeutet. Er hatte mir den Mut zu mir selber geschenkt. -- Ach,
und nun spürte ich langsam anwachsend Widerstände gegen ihn. Ich hörte zu
viel Belehrendes in seinen Worten, ich empfand, daß er nur einen Teil von
mir ganz verstehe.
Es gab keinen Streit, keine Szene zwischen uns, keinen Bruch und nicht
einmal eine Abrechnung. Ich sagte ihm nur ein einziges, eigentlich
harmloses Wort -- aber es war doch eben der Augenblick, in dem zwischen uns
eine Illusion in farbige Scherben zerfiel.
Gedrückt hatte die Vorausahnung mich schon eine Weile, zum deutlichen
Gefühl wurde sie eines Sonntags in seiner alten Gelehrtenstube. Wir lagen
am Boden vor dem Feuer, und er sprach von Mysterien und Religionsformen,
die er studierte, an denen er sann, und deren mögliche Zukunft ihn
beschäftigte. Mir aber schien dies alles mehr kurios und interessant als
lebenswichtig, es klang mir Gelehrsamkeit, es klang mir müdes Suchen unter
Trümmern ehemaliger Welten daraus entgegen. Und mit einem Male spürte ich
einen Widerwillen gegen diese ganze Art, gegen diesen Kultus der
Mythologien, gegen dieses Mosaikspiel mit überlieferten Glaubensformen.
»Pistorius,« sagte ich plötzlich, mit einer mir selber überraschend und
erschreckend hervorbrechenden Bosheit, »Sie sollten mir wieder einmal einen
Traum erzählen, einen wirklichen Traum, den Sie in der Nacht gehabt haben.
Das, was Sie da reden, ist so -- so verflucht antiquarisch!«
Er hatte mich niemals so reden hören, und ich selbst empfand im selben
Augenblick blitzhaft mit Scham und Schrecken, daß der Pfeil, den ich auf
ihn abschoß und der ihn ins Herz traf, aus seiner eigenen Rüstkammer
genommen war -- daß ich Selbstvorwürfe, die ich ihn in ironischem Ton
gelegentlich hatte äußern hören, nun boshaft ihm in zugespitzter Form
zuwarf.
Er spürte es augenblicklich, und er wurde sofort still. Ich sah ihn mit
Angst im Herzen an, und sah ihn furchtbar bleich werden.
Nach einer langen schweren Pause legte er neues Holz aufs Feuer und sagte
still: »Sie haben ganz recht, Sinclair. Sie sind ein kluger Kerl. Ich werde
Sie mit dem antiquarischen Zeug verschonen.«
Er sprach sehr ruhig, aber ich hörte den Schmerz der Verwundung wohl
heraus. Was hatte ich getan!
Die Tränen waren mir nah, ich wollte mich ihm herzlich zuwenden, wollte ihn
um Verzeihung bitten, ihn meiner Liebe, meiner zärtlichen Dankbarkeit
versichern. Rührende Worte fielen mir ein -- aber ich konnte sie nicht
sagen. Ich blieb liegen, sah ins Feuer und schwieg. Und er schwieg auch,
und so lagen wir, und das Feuer brannte herab und sank zusammen, und mit
jeder verblassenden Flamme fühlte ich etwas Schönes und Inniges verglühen
und verfliegen, das nicht wiederkommen konnte.
»Ich fürchte, Sie verstehen mich falsch,« sagte ich schließlich sehr
gepreßt und mit trockener, heiserer Stimme. Die dummen, sinnlosen Worte
kamen mir wie mechanisch über die Lippen, als läse ich aus einem
Zeitungsroman vor.
»Ich verstehe Sie ganz richtig,« sagte Pistorius leis. »Sie haben ja
recht.« Er wartete. Dann fuhr er langsam fort: »Soweit ein Mensch eben
gegen den andern recht haben kann.«
Nein, nein, rief es in mir, ich habe unrecht! -- aber sagen konnte ich
nichts. Ich wußte, daß ich mit meinem einzigen kleinen Wort ihn auf eine
wesentliche Schwäche, auf seine Not und Wunde hingewiesen hatte. Ich hatte
den Punkt berührt, wo er sich selber mißtrauen mußte. Sein Ideal war
»antiquarisch«, er war ein Sucher nach rückwärts, er war ein Romantiker.
Und plötzlich fühlte ich tief: Gerade das, was Pistorius mir gewesen war
und gegeben hatte, das konnte er sich selbst nicht sein und geben. Er hatte
mich einen Weg geführt, der auch ihn, den Führer, überschreiten und
verlassen mußte.
Weiß Gott, wie solch ein Wort entsteht! Ich hatte es gar nicht schlimm
gemeint, hatte keine Ahnung von einer Katastrophe gehabt. Ich hatte etwas
ausgesprochen, was ich im Augenblick des Aussprechens selber durchaus nicht
wußte, ich hatte einem kleinen, etwas witzigen, etwas boshaften Einfall
nachgegeben, und es war Schicksal daraus geworden. Ich hatte eine kleine
achtlose Roheit begangen, und für ihn war sie ein Gericht geworden.
O wie sehr habe ich mir damals gewünscht, er möchte böse geworden sein, er
möchte sich verteidigt, möchte mich angeschrien haben! Er tat nichts davon,
alles das mußte ich, in mir drinnen, selber tun. Er hätte gelächelt, wenn
er gekonnt hätte. Daß er es nicht konnte, daran sah ich am besten, wie sehr
ich ihn getroffen hatte.
Und indem Pistorius den Schlag von mir, von seinem vorlauten und
undankbaren Schüler, so lautlos hinnahm, indem er schwieg und mir Recht
ließ, indem er mein Wort als Schicksal anerkannte, machte er mich mir
selbst verhaßt, machte er meine Unbesonnenheit tausendmal größer. Als ich
zuschlug, hatte ich einen Starken und Wehrhaften zu treffen gemeint -- nun
war es ein stiller, duldender Mensch, ein Wehrloser, der sich schweigend
ergab.
Lange Zeit blieben wir vor dem verglimmenden Feuer liegen, in dem jede
glühende Figur, jeder sich krümmende Aschenstab mir glückliche, schöne,
reiche Stunden ins Gedächtnis rief und die Schuld meiner Verpflichtung
gegen Pistorius größer und größer anhäufte. Zuletzt ertrug ich es nicht
mehr. Ich stand auf und ging. Lange stand ich vor seiner Tür, lange auf der
finstern Treppe, lange noch draußen vor dem Hause, wartend, ob er
vielleicht käme und mir nachginge. Dann ging ich weiter und lief Stunden um
Stunden durch Stadt und Vorstädte, Park und Wald, bis zum Abend. Und damals
spürte ich zum erstenmal das Zeichen Kains auf meiner Stirn.
Nur allmählich kam ich zum Nachdenken. Meine Gedanken hatten alle die
Absicht, mich anzuklagen und Pistorius zu verteidigen. Und alle endeten mit
dem Gegenteil. Tausendmal war ich bereit, mein rasches Wort zu bereuen und
zurückzunehmen -- aber wahr war es doch gewesen. Erst jetzt gelang es mir,
Pistorius zu verstehen, seinen ganzen Traum vor mir aufzubauen. Dieser
Traum war gewesen, ein Priester zu sein, die neue Religion zu verkünden,
neue Formen der Erhebung, der Liebe und Anbetung zu geben, neue Symbole
aufzurichten. Aber dies war nicht seine Kraft, nicht sein Amt. Er verweilte
allzu warm im Gewesenen, er kannte allzu genau das Ehemalige, er wußte
allzu viel von Ägypten, von Indien, von Mithras, von Abraxas. Seine Liebe
war an Bilder gebunden, welche die Erde schon gesehen hatte, und dabei
wußte er im Innersten selber wohl, daß das Neue neu und anders sein, daß es
aus frischem Boden quellen und nicht aus Sammlungen und Bibliotheken
geschöpft werden mußte. Sein Amt war vielleicht, Menschen zu sich selbst
führen zu helfen, wie er es mit mir getan hatte. Ihnen das Unerhörte zu
geben, die neuen Götter, war sein Amt nicht.
Und hier brannte mich plötzlich wie eine scharfe Flamme die Erkenntnis: --
Es gab für jeden ein »Amt«, aber für keinen eines, das er selber wählen,
umschreiben und beliebig verwalten durfte. Es war falsch, neue Götter zu
wollen, es war völlig falsch, der Welt irgend etwas geben zu wollen! Es gab
keine, keine, keine Pflicht für erwachte Menschen als die eine: sich selber
zu suchen, in sich fest zu werden, den eigenen Weg vorwärts zu tasten,
einerlei wohin er führte. -- Das erschütterte mich tief, und das war die
Frucht dieses Erlebnisses für mich. Oft hatte ich mit Bildern der Zukunft
gespielt, ich hatte von Rollen geträumt, die mir zugedacht sein könnten,
als Dichter vielleicht oder als Prophet, oder als Maler, oder irgendwie.
All das war nichts. Ich war nicht da, um zu dichten, um zu predigen, um zu
malen, weder ich noch sonst ein Mensch war dazu da. Das alles ergab sich
nur nebenher. Wahrer Beruf für jeden war nur das eine: zu sich selbst zu
kommen. Er mochte als Dichter oder als Wahnsinniger, als Prophet oder als
Verbrecher enden -- dies war nicht seine Sache, ja dies war letzten Endes
belanglos. Seine Sache war, das eigene Schicksal zu finden, nicht ein
beliebiges, und es in sich auszuleben, ganz und ungebrochen. Alles andere
war halb, war Versuch zu entrinnen, war Rückflucht in Ideale der Masse, war
Anpassung und Angst vor dem eigenen Innern. Furchtbar und heilig stieg das
neue Bild vor mir auf, hundertmal geahnt, vielleicht oft schon
ausgesprochen, und doch erst jetzt erlebt. Ich war ein Wurf der Natur, ein
Wurf ins Ungewisse, vielleicht zu Neuem, vielleicht zu Nichts, und diesen
Wurf aus der Urtiefe auswirken zu lassen, seinen Willen in mir zu fühlen
und ihn ganz zu meinem zu machen, das allein war mein Beruf. Das allein!
Viel Einsamkeit hatte ich schon gekostet. Nun ahnte ich, daß es tiefere
gab, und daß sie unentrinnbar sei.
Ich machte keinen Versuch, Pistorius zu versöhnen. Wir blieben Freunde,
aber das Verhältnis war geändert. Nur ein einzigesmal sprachen wir darüber,
oder eigentlich nur er war es, der es tat. Er sagte: »Ich habe den Wunsch,
Priester zu werden, das wissen Sie. Ich wollte am liebsten der Priester der
neuen Religion werden, von der wir so manche Ahnungen haben. Ich werde es
nie sein können -- ich weiß es und wußte es, ohne es mir ganz zu gestehen,
schon lange. Ich werde eben andre Priesterdienste tun, vielleicht auf der
Orgel, vielleicht sonstwie. Aber ich muß immer von etwas umgeben sein, was
ich als schön und heilig empfinde, Orgelmusik und Mysterium, Symbol und
Mythus, ich brauche das und will nicht davon lassen. -- Das ist meine
Schwäche. Denn ich weiß manchmal, Sinclair, ich weiß zu Zeiten, daß ich
solche Wünsche nicht haben sollte, daß sie Luxus und Schwäche sind. Es wäre
größer, es wäre richtiger, wenn ich ganz einfach dem Schicksal zur
Verfügung stünde, ohne Ansprüche. Aber ich kann das nicht; es ist das
einzige, was ich nicht kann. Vielleicht können Sie es einmal. Es ist
schwer, es ist das einzige wirklich Schwere, was es gibt, mein Junge. Ich
habe oft davon geträumt, aber ich kann nicht, es schaudert mich davor: ich
kann nicht so völlig nackt und einsam stehen, auch ich bin ein armer
schwacher Hund, der etwas Wärme und Futter braucht und gelegentlich die
Nähe von seinesgleichen spüren möchte. Wer wirklich gar nichts will als
sein Schicksal, der hat nicht seinesgleichen mehr, der steht ganz allein
und hat nur den kalten Weltenraum um sich. Wissen Sie, das ist Jesus im
Garten Gethsemane. Es hat Märtyrer gegeben, die sich gern ans Kreuz
schlagen ließen, aber auch sie waren keine Helden, waren nicht befreit,
auch sie wollten etwas, was ihnen liebgewohnt und heimatlich war, sie
hatten Vorbilder, sie hatten Ideale. Wer nur noch das Schicksal will, der
hat weder Vorbilder noch Ideale mehr, nichts Liebes, nichts Tröstliches hat
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