Demian: Die Geschichte von Emil Sinclairs Jugend - 06

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Das Bildnis begleitete nun eine Weile alle meine Gedanken und teilte mein
Leben. Ich hielt es in einer Schieblade verborgen, niemand sollte es
erwischen und mich damit verhöhnen können. Aber sobald ich allein in meinem
Stübchen war, zog ich das Bild heraus und hatte Umgang mit ihm. Abends
heftete ich es mit einer Nadel mir gegenüber überm Bett an die Tapete, sah
es bis zum Einschlafen an, und morgens fiel mein erster Blick darauf.
Gerade in jener Zeit fing ich wieder an viel zu träumen, wie ich es als
Kind stets getan hatte. Mir schien, ich habe jahrelang keine Träume mehr
gehabt. Jetzt kamen sie wieder, eine ganz neue Art von Bildern, und oft und
oft tauchte das gemalte Bildnis darin auf, lebend und redend, mir
befreundet oder feindlich, manchmal bis zur Fratze verzogen und manchmal
unendlich schön, harmonisch und edel.
Und eines Morgens, als ich aus solchen Träumen erwachte, erkannte ich es
plötzlich. Es sah mich so fabelhaft wohlbekannt an, es schien meinen Namen
zu rufen. Es schien mich zu kennen, wie eine Mutter, schien mir seit allen
Zeiten zugewandt. Mit Herzklopfen starrte ich das Blatt an, die braunen
dichten Haare, den halbweiblichen Mund, die starke Stirn mit der
sonderbaren Helligkeit (es war von selber so aufgetrocknet), und näher und
näher fühlte ich in mir die Erkenntnis, das Wiederfinden, das Wissen.
Ich sprang aus dem Bette, stellte mich vor dem Gesicht auf und sah es aus
nächster Nähe an, gerade in die weit offenen, grünlichen, starren Augen
hinein, von denen das rechte etwas höher als das andere stand. Und mit
einemmal zuckte dies rechte Auge, zuckte leicht und fein, aber deutlich,
und mit diesem Zucken erkannte ich das Bild . . .
Wie hatte ich das erst so spät finden können! Es war Demians Gesicht.
Später verglich ich das Blatt oft und oft mit Demians wirklichen Zügen, wie
ich sie in meinem Gedächtnis fand. Sie waren gar nicht dieselben, obwohl
ähnlich. Aber es war doch Demian.
Einst an einem Frühsommerabend schien die Sonne schräg und rot durch mein
Fenster, das nach Westen blickte. Im Zimmer wurde es dämmerig. Da kam ich
auf den Einfall, das Bildnis Beatricens, oder Demians, mit der Nadel ans
Fensterkreuz zu heften und es anzusehen, wie die Abendsonne hindurch
schien. Das Gesicht verschwamm ohne Umrisse, aber die rötlich umrandeten
Augen, die Helligkeit auf der Stirn und der heftig rote Mund glühten tief
und wild aus der Fläche. Lange saß ich ihm gegenüber, auch als es schon
erloschen war. Und allmählich kam mir ein Gefühl, daß das nicht Beatrice
und nicht Demian sei, sondern -- ich selbst. Das Bild glich mir nicht --
das sollte es auch nicht, fühlte ich -- aber es war das, was mein Leben
ausmachte, es war mein Inneres, mein Schicksal oder mein Dämon. So würde
mein Freund aussehen, wenn ich je wieder einen fände. So würde meine
Geliebte aussehen, wenn ich je eine bekäme. So würde mein Leben und so mein
Tod sein, dies war der Klang und Rhythmus meines Schicksals.
In jenen Wochen hatte ich eine Lektüre begonnen, die mir tieferen Eindruck
machte als alles, was ich früher gelesen. Auch später habe ich selten mehr
Bücher so erlebt, vielleicht nur noch Nietzsche. Es war ein Band Novalis,
mit Briefen und Sentenzen, von denen ich viele nicht verstand und die mich
doch alle unsäglich anzogen und umspannen. Einer von den Sprüchen fiel mir
nun ein. Ich schrieb ihn mit der Feder unter das Bildnis: »Schicksal und
Gemüt sind Namen eines Begriffs.« Das hatte ich nun verstanden.
Das Mädchen, das ich Beatrice nannte, begegnete mir noch oft. Ich fühlte
keine Bewegung mehr dabei, aber stets ein sanftes Übereinstimmen, ein
gefühlhaftes Ahnen: Du bist mit mir verknüpft, aber nicht du, nur dein
Bild; du bist ein Stück von meinem Schicksal.
* * * * *
Meine Sehnsucht nach Max Demian wurde wieder mächtig. Ich wußte nichts von
ihm, seit Jahren nichts. Ein einzigesmal hatte ich ihn in den Ferien
angetroffen. Ich sehe jetzt, daß ich diese kurze Begegnung in meinen
Aufzeichnungen unterschlagen habe, und sehe, daß es aus Scham und Eitelkeit
geschah. Ich muß es nachholen.
Also einmal in den Ferien, als ich mit dem blasierten und stets etwas müden
Gesicht meiner Wirtshauszeit durch meine Vaterstadt schlenderte, meinen
Spazierstock schwang und den Philistern in die alten, gleichgebliebenen,
verachteten Gesichter sah, da kam mir mein ehemaliger Freund entgegen. Kaum
sah ich ihn, so zuckte ich zusammen. Und blitzschnell mußte ich an Franz
Kromer denken. Möchte doch Demian diese Geschichte wirklich vergessen
haben! Es war so unangenehm, diese Verpflichtung gegen ihn zu haben --
eigentlich ja eine dumme Kindergeschichte, aber doch eben eine
Verpflichtung . . .
Er schien zu warten, ob ich ihn grüßen wolle, und als ich es möglichst
gelassen tat, gab er mir die Hand. Das war wieder sein Händedruck! So fest,
warm und doch kühl, männlich!
Er sah mir aufmerksam ins Gesicht und sagte: »Du bist groß geworden,
Sinclair.« Er selbst schien mir ganz unverändert, gleich alt, gleich jung
wie immer.
Er schloß sich mir an, wir machten einen Spaziergang und sprachen über
lauter nebensächliche Dinge, nichts von damals. Es fiel mir ein, daß ich
ihm einst mehrmals geschrieben hatte, ohne eine Antwort zu erhalten. Ach,
möchte er doch auch das vergessen haben, diese dummen, dummen Briefe! Er
sagte nichts davon.
Es gab damals noch keine Beatrice und kein Bildnis, ich war noch mitten in
meiner wüsten Zeit. Vor der Stadt lud ich ihn ein, mit in ein Wirtshaus zu
kommen. Er ging mit. Prahlerisch bestellte ich eine Flasche Wein, schenkte
ein, stieß mit ihm an und zeigte mich mit den studentischen Trinkgebräuchen
sehr vertraut, leerte auch das erste Glas auf einen Zug.
»Du gehst viel ins Wirtshaus?« fragte er mich.
»Ach ja,« sagte ich träge, »was soll man sonst tun? Es ist am Ende immer
noch das Lustigste.«
»Findest du? Es kann schon sein. Etwas daran ist ja sehr schön -- der
Rausch, das Bacchische! Aber ich finde, bei den meisten Leuten, die viel im
Wirtshaus sitzen, ist das ganz verlorengegangen. Mir kommt es so vor, als
sei gerade das Wirtshauslaufen etwas richtig Philisterhaftes. Ja, eine
Nacht lang, mit brennenden Fackeln, zu einem richtigen, schönen Rausch und
Taumel! Aber so immer wieder, ein Schöppchen ums andere, das ist doch wohl
nicht das Wahre? Kannst du dir etwa den Faust vorstellen, wie er Abend für
Abend an einem Stammtisch sitzt?«
Ich trank und schaute ihn feindselig an.
»Ja, es ist eben nicht jeder ein Faust,« sagte ich kurz.
Er sah mich etwas stutzig an.
Dann lachte er mit der alten Frische und Überlegenheit.
»Na, wozu darüber streiten? Jedenfalls ist das Leben eines Säufers oder
Wüstlings vermutlich lebendiger als das des tadellosen Bürgers. Und dann --
ich habe das einmal gelesen -- ist das Leben des Wüstlings eine der besten
Vorbereitungen für den Mystiker. Es sind ja auch immer solche Leute wie der
heilige Augustin, die zu Sehern werden. Der war vorher auch ein Genießer
und Lebemann.«
Ich war mißtrauisch und wollte mich keineswegs von ihm meistern lassen. So
sagte ich blasiert: »Ja, jeder nach seinem Geschmack! Mir ist es, offen
gestanden, gar nicht darum zu tun, ein Seher oder so etwas zu werden.«
Demian blitzte mich aus leicht eingekniffenen Augen wissend an.
»Lieber Sinclair,« sagte er langsam, »es war nicht meine Absicht, dir
Unangenehmes zu sagen. Übrigens -- zu welchem Zweck du jetzt deine Schoppen
trinkst, wissen wir ja beide nicht. Das in dir, was dein Leben macht, weiß
es schon. Es ist so gut, das zu wissen: daß in uns drinnen einer ist, der
alles weiß, alles will, alles besser macht als wir selber. -- Aber verzeih,
ich muß nach Hause.«
Wir nahmen kurzen Abschied. Ich blieb sehr mißmutig sitzen, trank meine
Flasche vollends aus, und fand, als ich gehen wollte, daß Demian sie schon
bezahlt hatte. Das ärgerte mich noch mehr.
Bei dieser kleinen Begebenheit hielten nun meine Gedanken wieder an. Sie
waren voll von Demian. Und die Worte, die er in jenem Gasthaus vor der
Stadt gesagt, kamen in meinem Gedächtnis wieder hervor, seltsam frisch und
unverloren. -- »Es ist so gut, das zu wissen, daß in uns drinnen einer ist,
der alles weiß!«
Ich blickte auf das Bild, das am Fenster hing und ganz erloschen war. Aber
ich sah die Augen noch glühen. Das war der Blick Demians. Oder es war der,
der in mir drinnen war. Der, der alles weiß.
Wie hatte ich Sehnsucht nach Demian! Ich wußte nichts von ihm, er war mir
nicht erreichbar. Ich wußte nur, daß er vermutlich irgendwo studiere und
daß nach dem Abschluß seiner Gymnasiastenzeit seine Mutter unsere Stadt
verlassen habe.
Bis zu meiner Geschichte mit Kromer zurück suchte ich alle Erinnerungen an
Max Demian in mir hervor. Wie vieles klang da wieder auf, was er mir einst
gesagt hatte, und alles hatte heut noch Sinn, war aktuell, ging mich an!
Auch das, was er bei unsrem letzten, so wenig erfreulichen Zusammentreffen
über den Wüstling und den Heiligen gesagt hatte, stand mir plötzlich hell
vor der Seele. War es nicht genau so mit mir gegangen? Hatte ich nicht in
Rausch und Schmutz gelebt, in Betäubung und Verlorenheit, bis mit einem
neuen Lebensantrieb gerade das Gegenteil in mir lebendig geworden war, das
Verlangen nach Reinheit, die Sehnsucht nach dem Heiligen?
So ging ich weiter den Erinnerungen nach, es war längst Nacht geworden und
draußen regnete es. Auch in meinen Erinnerungen hörte ich es regnen, es war
die Stunde unter den Kastanienbäumen, wo er mich einst wegen Franz Kromer
ausgefragt und meine ersten Geheimnisse erraten hatte. Eines ums andre kam
hervor, Gespräche auf dem Schulweg, die Konfirmationsstunden. Und zuletzt
fiel mein allererstes Zusammentreffen mit Max Demian mir ein. Um was hatte
es sich doch da gehandelt? Ich kam nicht gleich darauf, aber ich ließ mir
Zeit, ich war ganz darein versunken. Und nun kam es wieder, auch das. Wir
waren vor unserem Hause gestanden, nachdem er mir seine Meinung über Kain
mitgeteilt hatte. Da hatte er von dem alten verwischten Wappen gesprochen,
das über unsrem Haustor saß, in dem von unten nach oben breiter werdenden
Schlußstein. Er hatte gesagt, es interessiere ihn, und man müsse auf solche
Sachen acht haben.
In der Nacht träumte ich von Demian und von dem Wappen. Es verwandelte sich
beständig, Demian hielt es in Händen, oft war es klein und grau, oft
mächtig groß und vielfarbig, aber er erklärte mir, daß es doch immer ein
und dasselbe sei. Zuletzt aber nötigte er mich, das Wappen zu essen. Als
ich es geschluckt hatte, spürte ich mit ungeheurem Erschrecken, daß der
verschlungene Wappenvogel in mir lebendig sei, mich ausfülle und von innen
zu verzehren beginne. Voller Todesangst fuhr ich auf und erwachte.
Ich wurde munter, es war mitten in der Nacht, und hörte es ins Zimmer
regnen. Ich stand auf, um das Fenster zu schließen, und trat dabei auf
etwas Helles, das am Boden lag. Am Morgen fand ich, daß es mein gemaltes
Blatt war. Es lag in der Nässe am Boden und hatte sich in Wülste geworfen.
Ich spannte es zum Trocknen zwischen Fließblätter in ein schweres Buch. Als
ich am nächsten Tage wieder danach sah, war es getrocknet. Es hatte sich
aber verändert. Der rote Mund war verblaßt und etwas schmäler geworden. Es
war jetzt ganz der Mund Demians.
Ich ging nun daran, ein neues Blatt zu malen, den Wappenvogel. Wie er
eigentlich aussah, wußte ich nicht mehr deutlich, und einiges daran war,
wie ich wußte, auch aus der Nähe nicht gut mehr zu erkennen, da das Ding
alt und oftmals mit Farbe überstrichen worden war. Der Vogel stand oder saß
auf etwas, vielleicht auf einer Blume, oder auf einem Korb oder Nest, oder
auf einer Baumkrone. Ich kümmerte mich nicht darum und fing mit dem an,
wovon ich eine deutliche Vorstellung hatte. Aus einem unklaren Bedürfnis
begann ich gleich mit starken Farben, der Kopf des Vogels war auf meinem
Blatte goldgelb. Je nach Laune machte ich daran weiter und brachte das Ding
in einigen Tagen fertig.
Nun war es ein Raubvogel, mit einem scharfen kühnen Sperberkopf. Er stak
mit halbem Leibe in einer dunkeln Weltkugel, aus der er sich wie aus einem
riesigen Ei heraufarbeitete, auf einem blauen Himmelsgrunde. Wie ich das
Blatt länger betrachtete, schien es mir mehr und mehr, als sei es das
farbige Wappen, wie es in meinem Traum vorgekommen war.
Einen Brief an Demian zu schreiben, wäre mir nicht möglich gewesen, auch
wenn ich gewußt hätte wohin. Ich beschloß aber, in demselben traumhaften
Ahnen, mit dem ich damals alles tat, ihm das Bild mit dem Sperber zu
schicken, mochte es ihn dann erreichen oder nicht. Ich schrieb nichts
darauf, auch nicht meinen Namen, beschnitt die Ränder sorgfältig, kaufte
einen großen Papierumschlag und schrieb meines Freundes ehemalige Adresse
darauf. Dann schickte ich es fort.
Ein Examen kam näher, und ich mußte mehr als sonst für die Schule arbeiten.
Die Lehrer hatten mich wieder zu Gnaden angenommen, seit ich plötzlich
meinen schnöden Wandel geändert hatte. Ein guter Schüler war ich auch jetzt
wohl nicht, aber weder ich noch sonst jemand dachte noch daran, daß vor
einem halben Jahr meine strafweise Entlassung aus der Schule allen
wahrscheinlich gewesen war.
Mein Vater schrieb mir jetzt wieder mehr in dem Ton wie früher, ohne
Vorwürfe und Drohungen. Doch hatte ich keinen Trieb, ihm oder irgend jemand
zu erklären, wie die Wandlung mit mir vor sich gegangen war. Es war ein
Zufall, daß diese Wandlung mit den Wünschen meiner Eltern und Lehrer
übereinstimmte. Diese Wandlung brachte mich nicht zu den andern, näherte
mich niemandem an, machte mich nur einsamer. Sie zielte irgendwohin, zu
Demian, zu einem fernen Schicksal. Ich wußte es selber ja nicht, ich stand
ja mitten drin. Mit Beatrice hatte es angefangen, aber seit einiger Zeit
lebte ich mit meinen gemalten Blättern und meinen Gedanken an Demian in
einer so ganz unwirklichen Welt, daß ich auch sie völlig aus den Augen und
Gedanken verlor. Niemand hätte ich von meinen Träumen, meinen Erwartungen,
meiner inneren Umwandlung ein Wort sagen können, auch nicht, wenn ich
gewollt hätte.
Aber wie hätte ich dies wollen können?


Fünftes Kapitel
Der Vogel kämpft sich aus dem Ei

Mein gemalter Traumvogel war unterwegs und suchte meinen Freund. Auf die
wunderlichste Weise kam mir eine Antwort.
In meiner Schulklasse, an meinem Platz, fand ich einst nach der Pause
zwischen zwei Lektionen einen Zettel in meinem Buch stecken. Er war genau
so gefaltet, wie es bei uns üblich war, wenn Klassengenossen zuweilen
während einer Lektion heimlich einander Billetts zukommen ließen. Mich
wunderte nur, wer mir solch einen Zettel zuschicke, denn ich stand mit
keinem Mitschüler je in solchem Verkehr. Ich dachte, es werde die
Aufforderung zu irgendeinem Schülerspaß sein, an dem ich doch nicht
teilnehmen würde, und legte den Zettel ungelesen vorn in mein Buch. Erst
während der Lektion fiel er mir zufällig wieder in die Hand.
Ich spielte mit dem Papier, entfaltete es gedankenlos und fand einige Worte
darein geschrieben. Ich warf einen Blick darauf, blieb an einem Wort
hängen, erschrak und las, während mein Herz sich vor Schicksal wie in
großer Kälte zusammenzog:
»Der Vogel kämpft sich aus dem Ei. Das Ei ist die Welt. Wer geboren werden
will, muß eine Welt zerstören. Der Vogel fliegt zu Gott. Der Gott heißt
Abraxas.«
Ich versank nach dem mehrmaligen Lesen dieser Zeilen in tiefes Nachsinnen.
Es war kein Zweifel möglich, es war Antwort von Demian. Niemand konnte von
dem Vogel wissen, als ich und er. Er hatte mein Bild bekommen. Er hatte
verstanden und half mir deuten. Aber wie hing alles zusammen? Und -- das
plagte mich vor allem -- was hieß Abraxas? Ich hatte das Wort nie gehört
oder gelesen. »Der Gott heißt Abraxas!«
Die Stunde verging, ohne daß ich etwas vom Unterricht hörte. Die nächste
begann, die letzte des Vormittags. Sie wurde von einem ganz jungen
Hilfslehrer gegeben, der erst von der Universität kam und uns schon darum
gefiel, weil er so jung war und sich uns gegenüber keine falsche Würde
anmaßte.
Wir lasen unter Doktor Follens Führung Herodot. Diese Lektüre gehörte zu
den wenigen Schulfächern, die mich interessierten. Aber diesmal war ich
nicht dabei. Ich hatte mechanisch mein Buch aufgeschlagen, folgte aber dem
Übersetzen nicht und blieb in meine Gedanken versunken. Übrigens hatte ich
schon mehrmals die Erfahrung gemacht, wie richtig das war, was Demian mir
damals im geistlichen Unterricht gesagt hatte. Was man stark genug wollte,
das gelang. Wenn ich während des Unterrichts sehr stark mit eigenen
Gedanken beschäftigt war, so konnte ich ruhig sein, daß der Lehrer mich in
Ruhe ließ. Ja, wenn man zerstreut war oder schläfrig, dann stand er
plötzlich da: das war mir auch schon begegnet. Aber wenn man wirklich
dachte, wirklich versunken war, dann war man geschützt. Und auch das mit
dem festen Anblicken hatte ich schon probiert und bewährt gefunden. Damals
zu Demians Zeiten war es mir nicht geglückt, jetzt spürte ich oft, daß man
mit Blicken und Gedanken sehr viel ausrichten konnte.
So saß ich auch jetzt und war weit von Herodot und von der Schule weg. Aber
da schlug unversehens mir die Stimme des Lehrers wie ein Blitz ins
Bewußtsein, daß ich voll Schreck erwachte. Ich hörte seine Stimme, er stand
dicht neben mir, ich glaubte schon, er habe meinen Namen gerufen. Aber er
sah mich nicht an. Ich atmete auf.
Da hörte ich seine Stimme wieder. Laut sagte sie das Wort: »Abraxas.«
In einer Erklärung, deren Anfang mir entgangen war, fuhr Doktor Follen
fort: »Wir müssen uns die Anschauungen jener Sekten und mystischen
Vereinigungen des Altertums nicht so naiv vorstellen, wie sie vom
Standpunkt einer rationalistischen Betrachtung aus erscheinen. Eine
Wissenschaft in unserem Sinn kannte das Altertum überhaupt nicht. Dafür gab
es eine Beschäftigung mit philosophisch-mystischen Wahrheiten, die sehr
hoch entwickelt war. Zum Teil entstand daraus Magie und Spielerei, die wohl
oft auch zu Betrug und Verbrechen führte. Aber auch die Magie hatte eine
edle Herkunft und tiefe Gedanken. So die Lehre von Abraxas, die ich vorhin
als Beispiel anführte. Man nennt diesen Namen in Verbindung mit
griechischen Zauberformeln und hält ihn vielfach für den Namen irgendeines
Zauberteufels, wie ihn etwa wilde Völker heute noch haben. Es scheint aber,
daß Abraxas viel mehr bedeutet. Wir können uns den Namen etwa denken als
den einer Gottheit, welche die symbolische Aufgabe hatte, das Göttliche und
das Teuflische zu vereinigen.«
Der kleine gelehrte Mann sprach fein und eifrig weiter, niemand war sehr
aufmerksam, und da der Name nicht mehr vorkam, sank auch meine
Aufmerksamkeit bald wieder in mich selbst zurück.
»Das Göttliche und das Teuflische vereinigen,« klang es mir nach. Hier
konnte ich anknüpfen. Das war mir von den Gesprächen mit Demian in der
allerletzten Zeit unsrer Freundschaft her vertraut. Demian hatte damals
gesagt, wir hätten wohl einen Gott, den wir verehrten, aber der stelle nur
eine willkürlich abgetrennte Hälfte der Welt dar (es war die offizielle,
erlaubte, »lichte« Welt). Man müsse aber die ganze Welt verehren können,
also müsse man entweder einen Gott haben, der auch Teufel sei, oder man
müsse neben dem Gottesdienst auch einen Dienst des Teufels einrichten. --
Und nun war also Abraxas der Gott, der sowohl Gott wie Teufel war.
Eine Zeitlang suchte ich mit großem Eifer auf der Spur weiter, ohne doch
vorwärts zu kommen. Ich stöberte auch eine ganze Bibliothek erfolglos nach
dem Abraxas durch. Doch war mein Wesen niemals stark auf diese Art des
direkten und bewußten Suchens eingestellt, wobei man zumeist nur Wahrheiten
findet, die einem Steine in der Hand bleiben.
Die Gestalt der Beatrice, mit der ich eine gewisse Zeit hindurch so viel
und innig beschäftigt gewesen war, sank nun allmählich unter, oder vielmehr
sie trat langsam von mir hinweg, näherte sich mehr und mehr dem Horizont
und wurde schattenhafter, ferner, blasser. Sie genügte der Seele nicht
mehr.
Es begann jetzt in dem eigentümlich in mich selbst eingesponnenen Dasein,
das ich wie ein Traumwandler führte, eine neue Bildung zu entstehen. Die
Sehnsucht nach dem Leben blühte in mir, vielmehr die Sehnsucht nach Liebe,
und der Trieb des Geschlechts, den ich eine Weile hatte in die Anbetung
Beatrices auflösen können, verlangte neue Bilder und Ziele. Noch immer kam
keine Erfüllung mir entgegen, und unmöglicher als je war es mir, die
Sehnsucht zu täuschen und etwas von den Mädchen zu erwarten, bei denen
meine Kameraden ihr Glück suchten. Ich träumte wieder heftig, und zwar mehr
am Tage als in der Nacht. Vorstellungen, Bilder oder Wünsche, stiegen in
mir auf und zogen mich von der äußeren Welt hinweg, so daß ich mit diesen
Bildern in mir, mit diesen Träumen oder Schatten, wirklicher und lebhafter
Umgang hatte und lebte, als mit meiner wirklichen Umgebung.
Ein bestimmter Traum, oder ein Phantasiespiel, das immer wiederkehrte,
wurde mir bedeutungsvoll. Dieser Traum, der wichtigste und nachhaltigste
meines Lebens, war etwa so: Ich kehrte in mein Vaterhaus zurück -- über dem
Haustor leuchtete der Wappenvogel in Gelb auf blauem Grund -- im Hause kam
mir meine Mutter entgegen -- aber als ich eintrat und sie umarmen wollte,
war es nicht sie, sondern eine nie gesehene Gestalt, groß und mächtig, dem
Max Demian und meinem gemalten Blatte ähnlich, doch anders, und trotz der
Mächtigkeit ganz und gar weiblich. Diese Gestalt zog mich an sich und nahm
mich in eine tiefe, schauernde Liebesumarmung auf. Wonne und Grausen waren
vermischt, die Umarmung war Gottesdienst, und war ebenso Verbrechen. Zu
viel Erinnerung an meine Mutter, zu viel Erinnerung an meinen Freund Demian
geistete in der Gestalt, die mich umfing. Ihre Umarmung verstieß gegen jede
Ehrfurcht und war doch Seligkeit. Oft erwachte ich aus diesem Traume mit
tiefem Glücksgefühl, oft mit Todesangst und gequältestem Gewissen wie aus
furchtbarer Sünde.
Nur allmählich und unbewußt kam zwischen diesem ganz innerlichen Bilde und
dem mir von außen zugekommenen Wink über den zu suchenden Gott eine
Verbindung zustande. Sie wurde aber dann enger und inniger, und ich begann
zu spüren, daß ich gerade in diesem Ahnungstraum den Abraxas anrief. Wonne
und Grauen, Mann und Weib gemischt, Heiligstes und Gräßliches ineinander
verflochten, tiefe Schuld durch zarteste Unschuld zuckend -- so war mein
Liebestraumbild, und so war auch Abraxas. Liebe war nicht mehr tierisch
dunkler Trieb, wie ich sie beängstigt im Anfang empfunden hatte, und sie
war auch nicht mehr fromm vergeistigte Anbeterschaft, wie ich sie dem Bilde
der Beatrice dargebracht. Sie war beides, beides und noch viel mehr, sie
war Engelsbild und Satan, Mann und Weib in einem, Mensch und Tier, höchstes
Gut und äußerstes Böses. Dies zu leben schien mir bestimmt, dies zu kosten
mein Schicksal. Ich hatte Sehnsucht nach ihm und hatte Angst vor ihm, ich
träumte ihm nach und ich floh vor ihm, aber es war immer da, war immer über
mir.
Im nächsten Frühjahr sollte ich das Gymnasium verlassen und studieren
gehen, ich wußte noch nicht wo und was. Auf meinen Lippen wuchs ein kleiner
Bart, ich war ein ausgewachsener Mensch, und doch vollkommen hilflos und
ohne Ziele. Fest war nur eines: die Stimme in mir, das Traumbild. Ich
fühlte die Aufgabe, dieser Führung blind zu folgen. Aber es fiel mir
schwer, und täglich lehnte ich mich auf. Vielleicht war ich verrückt,
dachte ich nicht selten, vielleicht war ich nicht wie andere Menschen? Aber
ich konnte das, was andre leisteten, alles auch tun, mit ein wenig Fleiß
und Bemühung konnte ich Plato lesen, konnte trigonometrische Aufgaben lösen
oder einer chemischen Analyse folgen. Nur eines konnte ich nicht: das in
mir dunkel verborgene Ziel herausreißen und irgendwo vor mich hinmalen, wie
andere es taten, welche genau wußten, daß sie Professor oder Richter, Arzt
oder Künstler werden wollten, wie lang das dauern und was für Vorteile es
haben würde. Das konnte ich nicht. Vielleicht wurde ich auch einmal so
etwas, aber wie sollte ich das wissen. Vielleicht mußte ich auch suchen und
weitersuchen, jahrelang, und wurde nichts, und kam an kein Ziel. Vielleicht
kam ich auch an ein Ziel, aber es war ein böses, gefährliches, furchtbares.
Ich wollte ja nichts als das zu leben versuchen, was von selber aus mir
heraus wollte. Warum war das so sehr schwer?
Oft machte ich den Versuch, die mächtige Liebesgestalt meines Traumes zu
malen. Es gelang aber nie. Wäre es mir gelungen, so hätte ich das Blatt an
Demian gesandt. Wo war er? Ich wußte es nicht. Ich wußte nur, er war mit
mir verbunden. Wann würde ich ihn wiedersehen?
Die freundliche Ruhe jener Wochen und Monate der Beatricezeit war lang
vergangen. Damals hatte ich gemeint, eine Insel erreicht und einen Frieden
gefunden zu haben. Aber so war es immer -- kaum war ein Zustand mir lieb
geworden, kaum hatte ein Traum mir wohlgetan, so wurde er auch schon welk
und blind. Vergebens, ihm nachzuklagen! Ich lebte jetzt in einem Feuer von
ungestilltem Verlangen, von gespanntem Erwarten, das mich oft völlig wild
und toll machte. Das Bild der Traumgeliebten sah ich oft mit überlebendiger
Deutlichkeit vor mir, viel deutlicher als meine eigene Hand, sprach mit
ihm, weinte vor ihm, fluchte ihm. Ich nannte es Mutter und kniete vor ihm
in Tränen, ich nannte es Geliebte und ahnte seinen reifen, alles
erfüllenden Kuß, ich nannte es Teufel und Hure, Vampyr und Mörder. Es
verlockte mich zu zartesten Liebesträumen und zu wüsten Schamlosigkeiten,
nichts war ihm zu gut und köstlich, nichts zu schlecht und niedrig.
Jenen ganzen Winter verlebte ich in einem inneren Sturm, den ich schwer
beschreiben kann. An die Einsamkeit war ich lang gewöhnt, sie drückte mich
nicht, ich lebte mit Demian, mit dem Sperber, mit dem Bild der großen
Traumgestalt, die mein Schicksal und meine Geliebte war. Das war genug, um
darin zu leben, denn alles blickte ins Große und Weite, und alles deutete
auf Abraxas. Aber keiner dieser Träume, keiner meiner Gedanken gehorchte
mir, keinen konnte ich rufen, keinem konnte ich nach Belieben seine Farben
geben. Sie kamen und nahmen mich, ich wurde von ihnen regiert, wurde von
ihnen gelebt.
Wohl war ich nach außen gesichert. Vor Menschen hatte ich keine Furcht, das
hatten auch meine Mitschüler gelernt und brachten mir eine heimliche
Achtung entgegen, die mich oft lächeln machte. Wenn ich wollte, konnte ich
die meisten von ihnen sehr gut durchschauen und sie gelegentlich dadurch in
Erstaunen setzen. Nur wollte ich selten oder nie. Ich war immer mit mir
beschäftigt, immer mit mir selbst. Und ich verlangte sehnlichst danach, nun
endlich auch einmal ein Stück zu leben, etwas aus mir hinaus in die Welt zu
geben, in Beziehung und Kampf mit ihr zu treten. Manchmal wenn ich am Abend
durch die Straßen lief und vor Unrast bis Mitternacht nicht heimkehren
konnte, manchmal meinte ich dann, jetzt und jetzt müsse meine Geliebte mir
begegnen, an der nächsten Ecke vorübergehen, mir aus dem nächsten Fenster
rufen. Manchmal auch schien mir dies alles unerträglich qualvoll, und ich
war darauf gefaßt, mir einmal das Leben zu nehmen.
Eine eigentümliche Zuflucht fand ich damals -- durch einen »Zufall«, wie
man sagt. Es gibt aber solche Zufälle nicht. Wenn der, der etwas notwendig
braucht, dies ihm Notwendige findet, so ist es nicht der Zufall, der es ihm
gibt, sondern er selbst, sein eigenes Verlangen und Müssen führt ihn hin.
Ich hatte zwei oder drei Male auf meinen Gängen durch die Stadt aus einer
kleineren Vorstadtkirche Orgelspiel vernommen, ohne dabei zu verweilen. Als
ich das nächstemal vorüberkam, hörte ich es wieder, und erkannte, daß Bach
gespielt wurde. Ich ging zum Tor, das ich geschlossen fand, und da die
Gasse fast ohne Menschen war, setzte ich mich neben der Kirche auf einen
Prellstein, schlug den Mantelkragen um mich und hörte zu. Es war keine
große, doch eine gute Orgel, und es wurde wunderlich gespielt, nämlich gut
und beinahe virtuos, aber mit einem eigentümlichen, höchst persönlichen
Ausdruck von Willen und Beharrlichkeit, der wie ein Gebet klang. Ich hatte
das Gefühl: der Mann, der da spielt, weiß in dieser Musik einen Schatz
verschlossen, und er wirbt und pocht und müht sich um diesen Schatz wie um
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