Demian: Die Geschichte von Emil Sinclairs Jugend - 05

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wie früher. Wo kam er her? Wo war er gewesen? Er schien müde. Sein Gesicht
hatte wieder Farbe, seine Hände bewegten sich wieder, das braune Haar aber
war jetzt glanzlos und wie ermüdet.
In den folgenden Tagen gab ich mich in meinem Schlafzimmer mehrmals einer
neuen Übung hin: ich setzte mich steil auf einen Stuhl, machte die Augen
starr, hielt mich vollkommen regungslos, und wartete, wie lange ich es
aushalten und was ich dabei empfinden werde. Ich wurde jedoch bloß müde und
bekam ein heftiges Jucken in den Augenlidern.
Bald nachher war die Konfirmation, an welche mir keine wichtigen
Erinnerungen geblieben sind.
Es wurde nun alles anders. Die Kindheit fiel um mich her in Trümmer. Die
Eltern sahen mich mit einer gewissen Verlegenheit an. Die Schwestern waren
mir ganz fremd geworden. Eine Ernüchterung verfälschte und verblaßte mir
die gewohnten Gefühle und Freuden, der Garten war ohne Duft, der Wald
lockte nicht, die Welt stand um mich her wie ein Ausverkauf alter Sachen,
fad und reizlos, die Bücher waren Papier, die Musik war ein Geräusch. So
fällt um einen herbstlichen Baum her das Laub, er fühlt es nicht, Regen
rinnt an ihm herab, oder Sonne, oder Frost, und in ihm zieht das Leben sich
langsam ins Engste und Innerste zurück. Er stirbt nicht. Er wartet.
Es war beschlossen worden, daß ich nach den Ferien in eine andere Schule
und zum ersten Male von Hause fortkommen sollte. Zuweilen näherte sich mir
die Mutter mit besonderer Zärtlichkeit, im voraus Abschied nehmend, bemüht,
mir Liebe, Heimweh und Unvergeßlichkeit ins Herz zu zaubern. Demian war
verreist. Ich war allein.


Viertes Kapitel
Beatrice

Ohne meinen Freund wiedergesehen zu haben, fuhr ich am Ende der Ferien nach
St. Meine Eltern kamen beide mit, und übergaben mich mit jeder möglichen
Sorgfalt dem Schutz einer Knabenpension bei einem Lehrer des Gymnasiums.
Sie wären vor Entsetzen erstarrt, wenn sie gewußt hätten, in was für Dinge
sie mich nun hineinwandern ließen.
Die Frage war noch immer, ob mit der Zeit aus mir ein guter Sohn und
brauchbarer Bürger werden könne, oder ob meine Natur auf andere Wege
hindränge. Mein letzter Versuch, im Schatten des väterlichen Hauses und
Geistes glücklich zu sein, hatte lang gedauert, war zeitweise nahezu
geglückt, und schließlich doch völlig gescheitert.
Die merkwürdige Leere und Vereinsamung, die ich während der Ferien nach
meiner Konfirmation zum erstenmal zu fühlen bekam (wie lernte ich sie
später noch kennen, diese Leere, diese dünne Luft!), ging nicht so rasch
vorüber. Der Abschied von der Heimat gelang sonderbar leicht, ich schämte
mich eigentlich, daß ich nicht wehmütiger war, die Schwestern weinten
grundlos, ich konnte es nicht. Ich war über mich selbst erstaunt. Immer war
ich ein gefühlvolles Kind gewesen, und im Grunde ein ziemlich gutes Kind.
Jetzt war ich ganz verwandelt. Ich verhielt mich völlig gleichgültig gegen
die äußere Welt, und war tagelang nur damit beschäftigt, in mich
hineinzuhorchen und die Ströme zu hören, die verbotenen und dunklen Ströme,
die da in mir unterirdisch rauschten. Ich war sehr rasch gewachsen, erst im
letzten halben Jahre, und sah aufgeschossen, mager und unfertig in die
Welt. Die Liebenswürdigkeit des Knaben war ganz von mir geschwunden, ich
fühlte selbst, daß man mich so nicht lieben könne, und liebte mich selber
auch keineswegs. Nach Max Demian hatte ich oft große Sehnsucht; aber nicht
selten haßte ich auch ihn und gab ihm schuld an der Verarmung meines
Lebens, die ich wie eine häßliche Krankheit auf mich nahm.
In unsrem Schülerpensionat wurde ich anfangs weder geliebt noch geachtet,
man hänselte mich erst, zog sich dann von mir zurück, und sah einen
Duckmäuser und unangenehmen Sonderling in mir. Ich gefiel mir in der Rolle,
übertrieb sie noch, und grollte mich in eine Einsamkeit hinein, die nach
außen beständig wie männlichste Weltverachtung aussah, während ich heimlich
oft verzehrenden Anfällen von Wehmut und Verzweiflung unterlag. In der
Schule hatte ich an aufgehäuften Kenntnissen von Zuhause zu zehren, die
Klasse war etwas gegen meine frühere zurück, und ich gewöhnte mir an, meine
Altersgenossen etwas verächtlich als Kinder anzusehen.
Ein Jahr und länger lief das so dahin, auch die ersten Ferienbesuche zu
Hause brachten keine neuen Klänge; ich fuhr gerne wieder weg.
Es war zu Beginn des November. Ich hatte mir angewöhnt, bei jedem Wetter
kleine, denkerische Spaziergänge zu machen, auf denen ich oft eine Art von
Wonne genoß, eine Wonne voll Melancholie, Weltverachtung und
Selbstverachtung. So schlenderte ich eines Abends in der feuchten, nebligen
Dämmerung durch die Umgebung der Stadt, die breite Allee eines öffentlichen
Parkes stand völlig verlassen und lud mich ein, der Weg lag dick voll
gefallener Blätter, in denen ich mit dunkler Wollust mit den Füßen wühlte,
es roch feucht und bitter, die fernen Bäume traten gespenstisch groß und
schattenhaft aus den Nebeln.
Am Ende der Allee blieb ich unschlüssig stehen, starrte in das schwarze
Laub und atmete mit Gier den nassen Duft von Verwitterung und Absterben,
den etwas in mir erwiderte und begrüßte. O wie fad das Leben schmeckte!
Aus einem Nebenwege kam im wehenden Kragenmantel ein Mensch daher, ich
wollte weitergehen, da rief er mich an.
»Halloh, Sinclair!«
Er kam heran, es war Alfons Beck, der Älteste unserer Pension. Ich sah ihn
immer gern und hatte nichts gegen ihn, als daß er mit mir wie mit allen
Jüngeren immer ironisch und onkelhaft war. Er galt für bärenstark, sollte
den Herrn unsrer Pension unter dem Pantoffel haben und war der Held vieler
Gymnasiastengerüchte.
»Was machst denn du hier?« rief er leutselig mit dem Ton, den die Größeren
hatten, wenn sie gelegentlich sich zu einem von uns herabließen. »Na,
wollen wir wetten, du machst Gedichte?«
»Fällt mir nicht ein,« lehnte ich barsch ab.
Er lachte auf, ging neben mir und plauderte, wie ich es gar nicht mehr
gewohnt war.
»Du brauchst nicht Angst zu haben, Sinclair, daß ich das etwa nicht
verstehe. Es hat ja etwas, wenn man so am Abend im Nebel geht, so mit
Herbstgedanken, man macht dann gern Gedichte, ich weiß schon. Von der
sterbenden Natur, natürlich, und von der verlorenen Jugend, die ihr
gleicht. Siehe Heinrich Heine.«
»Ich bin nicht so sentimental,« wehrte ich mich.
»Na, laß gut sein! Aber bei diesem Wetter, scheint mir, tut der Mensch gut,
einen stillen Ort zu suchen, wo es ein Glas Wein oder dergleichen gibt.
Kommst du ein bißchen mit? Ich bin grade ganz allein. -- Oder magst du
nicht? Deinen Verführer möchte ich nicht machen, Lieber, falls du ein
Musterknabe sein solltest.«
Bald darauf saßen wir in einer kleinen Vorstadtkneipe, tranken einen
zweifelhaften Wein und stießen mit den dicken Gläsern an. Es gefiel mir
zuerst wenig, immerhin war es etwas Neues. Bald aber wurde ich, des Weines
ungewohnt, sehr gesprächig. Es war, als sei ein Fenster in mir aufgestoßen,
die Welt schien herein -- wie lang, wie furchtbar lang hatte ich mir nichts
von der Seele geredet! Ich kam ins Phantasieren, und mitten drinne gab ich
die Geschichte von Kain und Abel zum besten!
Beck hörte mir mit Vergnügen zu -- endlich jemand, dem ich etwas gab! Er
klopfte mir auf die Schulter, er nannte mich einen Teufelskerl und ein
geniales Luder, und mir schwoll das Herz hoch auf vor Wonne, angestaute
Bedürfnisse der Rede und Mitteilung schwelgerisch hinströmen zu lassen,
anerkannt zu sein und bei einem Älteren etwas zu gelten. Als er mich ein
geniales Luder nannte, lief mir das Wort wie ein süßer, starker Wein in die
Seele. Die Welt brannte in neuen Farben, Gedanken flossen mir aus hundert
kecken Quellen zu, Geist und Feuer lohte in mir. Wir sprachen über Lehrer
und Kameraden, und mir schien, wir verstünden einander herrlich. Wir
sprachen von den Griechen und vom Heidentum, und Beck wollte mich durchaus
zu Geständnissen über Liebesabenteuer bringen. Da konnte ich nun nicht
mitreden. Erlebt hatte ich nichts, nichts zum Erzählen. Und was ich in mir
gefühlt, konstruiert, phantasiert hatte, das saß zwar brennend in mir, war
aber auch durch den Wein nicht gelöst und mitteilbar geworden. Von den
Mädchen wußte Beck viel mehr, und ich hörte diesen Märchen glühend zu.
Unglaubliches erfuhr ich da, nie für möglich Gehaltenes trat in die platte
Wirklichkeit, schien selbstverständlich. Alfons Beck hatte mit seinen
vielleicht achtzehn Jahren schon Erfahrungen gesammelt. Unter anderen die,
daß es mit den Mädchen so eine Sache sei, sie wollten nichts als schöntun
und Galanterien haben, und das war ja ganz hübsch, aber doch nicht das
Wahre. Da sei mehr Erfolg bei Frauen zu hoffen. Frauen seien viel
gescheiter. Zum Beispiel die Frau Jaggelt, die den Laden mit den
Schulheften und Bleistiften hatte, mit der ließ sich reden, und was hinter
ihrem Ladentisch schon alles geschehen sei, das gehe in kein Buch.
Ich saß tief bezaubert und benommen. Allerdings, ich hätte die Frau Jaggelt
nicht gerade lieben können -- aber immerhin, es war unerhört. Es schienen
da Quellen zu fließen, wenigstens für die Älteren, von denen ich nie
geträumt hatte. Ein falscher Klang war ja dabei, und es schmeckte alles
geringer und alltäglicher als nach meiner Meinung die Liebe schmecken
durfte, -- aber immerhin, es war Wirklichkeit, es war Leben und Abenteuer,
es saß einer neben mir, der es erlebt hatte, dem es selbstverständlich
schien.
Unsere Gespräche waren ein wenig herabgestiegen, hatten etwas verloren. Ich
war auch nicht mehr der geniale kleine Kerl, ich war jetzt bloß noch ein
Knabe, der einem Manne zuhörte. Aber auch so noch -- gegen das, was seit
Monaten und Monaten mein Leben gewesen war, war dies köstlich, war dies
paradiesisch. Außerdem war es, wie ich erst allmählich zu fühlen begann,
verboten, sehr verboten, vom Wirtshaussitzen bis zu dem, was wir sprachen.
Ich jedenfalls schmeckte Geist, schmeckte Revolution darin.
Ich erinnere mich jener Nacht mit größter Deutlichkeit. Als wir beide, spät
an trüb brennenden Gaslaternen vorbei, in der kühlen nassen Nacht unsern
Heimweg nahmen, war ich zum erstenmal betrunken. Es war nicht schön, es war
äußerst qualvoll, und doch hatte auch das noch etwas, einen Reiz, eine
Süßigkeit, war Aufstand und Orgie, war Leben und Geist. Beck nahm sich
meiner tapfer an, obwohl er bitter über mich als blutigen Anfänger schalt,
und er brachte mich, halb getragen, nach Hause, wo es ihm gelang, mich und
sich durch ein offenstehendes Flurfenster einzuschmuggeln.
Mit der Ernüchterung aber, zu der ich nach ganz kurzem toten Schlaf mit
Schmerzen erwachte, kam ein unsinniges Weh über mich. Ich saß im Bette auf,
hatte das Taghemd noch an, meine Kleider und Schuhe lagen am Boden umher
und rochen nach Tabak und Erbrochenem, und zwischen Kopfweh, Übelkeit und
rasendem Durstgefühl kam mir ein Bild vor die Seele, dem ich lange nicht
mehr ins Auge gesehen hatte. Ich sah Heimat und Elternhaus, Vater und
Mutter, Schwestern und Garten, ich sah mein stilles heimatliches
Schlafzimmer, sah die Schule und den Marktplatz, sah Demian und die
Konfirmationsstunden -- und alles dies war licht, alles war von Glanz
umflossen, alles war wunderbar, göttlich und rein, und alles, alles das
hatte -- so wußte ich jetzt -- noch gestern, noch vor Stunden, mir gehört,
auf mich gewartet, und war jetzt, erst jetzt in dieser Stunde, versunken
und verflucht, gehörte mir nicht mehr, stieß mich aus, sah mit Ekel auf
mich! Alles Liebe und Innige, was ich je bis in fernste goldenste
Kindheitsgärten zurück von meinen Eltern erfahren hatte, jeder Kuß der
Mutter, jede Weihnacht, jeder fromme helle Sonntagmorgen daheim, jede Blume
im Garten -- alles war verwüstet, alles hatte ich mit Füßen getreten! Wenn
jetzt Häscher gekommen wären und hätten mich gebunden und als Auswurf und
Tempelschänder zum Galgen geführt, ich wäre einverstanden gewesen, wäre
gern gegangen, hätte es richtig und gut gefunden.
Also so sah ich innerlich aus! Ich, der herumging und die Welt verachtete!
Ich, der stolz im Geist war und Gedanken Demians mitdachte! So sah ich aus,
ein Auswurf und Schweinigel, betrunken und beschmutzt, ekelhaft und gemein,
eine wüste Bestie, von scheußlichen Trieben überrumpelt! So sah ich aus,
ich, der aus jenen Gärten kam, wo alles Reinheit, Glanz und holde Zartheit
war, ich, der ich Musik von Bach und schöne Gedichte geliebt hatte! Ich
hörte noch mit Ekel und Empörung mein eigenes Lachen, ein betrunkenes,
unbeherrschtes, stoßweis und albern herausbrechendes Lachen. Das war Ich!
Trotz allem aber war es beinahe ein Genuß, diese Qualen zu leiden. So lange
war ich blind und stumpf dahingekrochen, so lange hatte mein Herz
geschwiegen und verarmt im Winkel gesessen, daß auch diese Selbstanklagen,
dieses Grauen, dies ganze scheußliche Gefühl der Seele willkommen war. Es
war doch Gefühl, es stiegen doch Flammen, es zuckte doch Herz darin!
Verwirrt empfand ich mitten im Elend etwas wie Befreiung und Frühling.
Indessen ging es, von außen gesehen, tüchtig bergab mit mir. Der erste
Rausch war bald nicht mehr der erste. Es wurde an unsrer Schule viel
gekneipt und Allotria getrieben, ich war einer der Allerjüngsten unter
denen, die mittaten, und bald war ich kein Geduldeter und Kleiner mehr,
sondern ein Anführer und Stern, ein berühmter wagehalsiger Kneipenbesucher.
Ich gehörte wieder einmal ganz der dunkeln Welt, dem Teufel an, und ich
galt in dieser Welt als ein famoser Kerl.
Dabei war mir jammervoll zumute. Ich lebte in einem selbstzerstörerischen
Orgiasmus dahin, und während ich bei den Kameraden für einen Führer und
Teufelskerl, für einen verflucht schneidigen und witzigen Burschen galt,
hatte ich tief in mir eine angstvolle Seele voller Bangnis flattern. Ich
weiß noch, daß mir einmal die Tränen kamen, als ich beim Verlassen einer
Kneipe am Sonntagvormittag auf der Straße Kinder spielen sah, hell und
vergnügt mit frischgekämmtem Haar und in Sonntagskleidern. Und während ich,
zwischen Bierlachen an schmutzigen Tischen geringer Wirtshäuser, meine
Freunde durch unerhörte Zynismen belustigte und oft erschreckte, hatte ich
im verborgenen Herzen Ehrfurcht vor allem, was ich verhöhnte, und lag
innerlich weinend auf den Knien vor meiner Seele, vor meiner Vergangenheit,
vor meiner Mutter, vor Gott.
Daß ich niemals eins wurde mit meinen Begleitern, daß ich unter ihnen
einsam blieb und darum so leiden konnte, das hatte einen guten Grund. Ich
war ein Kneipenheld und Spötter nach dem Herzen der Rohesten, ich zeigte
Geist und zeigte Mut in meinen Gedanken und Reden über Lehrer, Schule,
Eltern, Kirche -- ich hielt auch Zoten stand und wagte etwa selber eine --
aber ich war niemals dabei, wenn meine Kumpane zu Mädchen gingen, ich war
allein und war voll glühender Sehnsucht nach Liebe, hoffnungsloser
Sehnsucht, während ich nach meinen Reden ein abgebrühter Genießer hätte
sein müssen. Niemand war verletzlicher, niemand schamhafter als ich. Und
wenn ich je und je die jungen Bürgermädchen vor mir gehen sah, hübsch und
sauber, licht und anmutig, waren sie mir wunderbare, reine Träume,
tausendmal zu gut und rein für mich. Eine Zeitlang konnte ich auch nicht
mehr in den Papierladen der Frau Jaggelt gehen, weil ich rot wurde, wenn
ich sie ansah und an das dachte, was Alfons Beck mir von ihr erzählt hatte.
Je mehr ich nun auch in meiner neuen Gesellschaft mich fortwährend einsam
und anders wußte, desto weniger kam ich von ihr los. Ich weiß wirklich
nicht mehr, ob das Saufen und Renommieren mir eigentlich jemals Vergnügen
machte, auch gewöhnte ich mich an das Trinken niemals so, daß ich nicht
jedesmal peinliche Folgen gespürt hätte. Es war alles wie ein Zwang. Ich
tat, was ich mußte, weil ich sonst durchaus nicht wußte, was mit mir
beginnen. Ich hatte Furcht vor langem Alleinsein, hatte Angst vor den
vielen zarten, schamhaften, innigen Anwandlungen, zu denen ich mich stets
geneigt fühlte, hatte Angst vor den zarten Liebesgedanken, die mir so oft
kamen.
Eines fehlte mir am meisten -- ein Freund. Es gab zwei oder drei
Mitschüler, die ich sehr gerne sah. Aber sie gehörten zu den Braven, und
meine Laster waren längst niemandem mehr ein Geheimnis. Sie mieden mich.
Ich galt bei allen für einen hoffnungslosen Spieler, dem der Boden unter
den Füßen wankte. Die Lehrer wußten viel von mir, ich war mehrmals streng
bestraft worden, meine schließliche Entlassung aus der Schule war etwas,
worauf man wartete. Ich selbst wußte das, ich war auch schon lange kein
guter Schüler mehr, sondern drückte und schwindelte mich mühsam durch, mit
dem Gefühl, daß das nicht mehr lange dauern könne.
Es gibt viele Wege, auf denen der Gott uns einsam machen und zu uns selber
führen kann. Diesen Weg ging er damals mit mir. Es war wie ein arger Traum.
Über Schmutz und Klebrigkeit, über zerbrochene Biergläser und zynisch
durchschwatzte Nächte weg sehe ich mich, einen gebannten Träumer, ruhelos
und gepeinigt kriechen, einen häßlichen und unsaubern Weg. Es gibt solche
Träume, in denen man, auf dem Weg zur Prinzessin, in Kotlachen, in
Hintergassen voll Gestank und Unrat steckenbleibt. So ging es mir. Auf
diese wenig feine Art war es mir beschieden, einsam zu werden und zwischen
mich und die Kindheit ein verschlossenes Edentor mit erbarmungslos
strahlenden Wächtern zu bringen. Es war ein Beginn, ein Erwachen des
Heimwehs nach mir selber.
Ich erschrak noch und hatte Zuckungen, als zum erstenmal, durch Briefe
meines Pensionsherrn alarmiert, mein Vater in St. erschien und mir
unerwartet gegenübertrat. Als er, gegen Ende jenes Winters, zum zweitenmal
kam, war ich schon hart und gleichgültig, ließ ihn schelten, ließ ihn
bitten, ließ ihn an die Mutter erinnern. Er war zuletzt sehr aufgebracht
und sagte, wenn ich nicht anders werde, lasse er mich mit Schimpf und
Schande von der Schule jagen und stecke mich in eine Besserungsanstalt.
Mochte er! Als er damals abreiste, tat er mir leid, aber er hatte nichts
erreicht, er hatte keinen Weg mehr zu mir gefunden, und für Augenblicke
fühlte ich, es geschehe ihm recht. --
Was aus mir würde, war mir einerlei. Auf meine sonderbare und wenig hübsche
Art, mit meinem Wirtshaussitzen und Auftrumpfen lag ich im Streit mit der
Welt, dies war meine Form, zu protestieren. Ich machte mich dabei kaputt,
und zuweilen sah für mich die Sache etwa so aus: Wenn die Welt Leute wie
mich nicht brauchen konnte, wenn sie für sie keinen besseren Platz, keine
höhern Aufgaben hatte, nun so gingen Leute wie ich eben kaputt. Mochte die
Welt den Schaden haben.
Die Weihnachtsferien jenes Jahres waren recht unerfreulich. Meine Mutter
erschrak, als sie mich wiedersah. Ich war noch mehr gewachsen, und mein
hageres Gesicht sah grau und verwüstet aus, mit schlaffen Zügen und
entzündeten Augenrändern. Der erste Anflug des Schnurrbartes und die
Brille, die ich seit kurzem trug, machten mich ihr noch fremder. Die
Schwestern wichen zurück und kicherten. Es war alles unerquicklich.
Unerquicklich und bitter das Gespräch mit dem Vater in dessen
Studierzimmer, unerquicklich das Begrüßen der paar Verwandten,
unerquicklich vor allem der Weihnachtsabend. Das war, seit ich lebte, in
unsrem Hause der große Tag gewesen, der Abend der Festlichkeit und Liebe,
der Dankbarkeit, der Erneuerung des Bundes zwischen den Eltern und mir.
Diesmal war alles nur bedrückend und verlegenmachend. Wie sonst las mein
Vater das Evangelium von den Hirten auf dem Felde, »die hüteten allda ihre
Herde,« wie sonst standen die Schwestern strahlend vor ihrem Gabentisch,
aber die Stimme des Vaters klang unfroh, und sein Gesicht sah alt und
beengt aus, und die Mutter war traurig, und mir war alles gleich peinlich
und unerwünscht, Gaben und Glückwünsche, Evangelium und Lichterbaum. Die
Lebkuchen rochen süß und strömten dichte Wolken süßerer Erinnerungen aus.
Der Tannenbaum duftete und erzählte von Dingen, die nicht mehr waren. Ich
sehnte das Ende des Abends und der Feiertage herbei.
Es ging den ganzen Winter so weiter. Erst vor kurzem war ich eindringlich
vom Lehrersenat verwarnt und mit dem Ausschluß bedroht worden. Es würde
nicht lang mehr dauern. Nun, meinetwegen.
Einen besonderen Groll hatte ich gegen Max Demian. Den hatte ich nun die
ganze Zeit nicht mehr gesehen. Ich hatte ihm, am Beginn meiner Schülerzeit
in St., zweimal geschrieben, aber keine Antwort bekommen; darum hatte ich
ihn auch in den Ferien nicht besucht.
* * * * *
In demselben Park, wo ich im Herbst mit Alfons Beck zusammengetroffen war,
geschah es im beginnenden Frühling, als eben die Dornhecken grün zu werden
anfingen, daß ein Mädchen mir auffiel. Ich war allein spazierengegangen,
voll von widerlichen Gedanken und Sorgen, denn meine Gesundheit war
schlecht geworden, und außerdem war ich beständig in Geldverlegenheiten,
war Kameraden Beträge schuldig, mußte notwendige Ausgaben erfinden, um
wieder etwas von Hause zu erhalten, und hatte in mehreren Läden Rechnungen
für Zigarren und ähnliche Dinge anwachsen lassen. Nicht daß diese Sorgen
sehr tief gegangen wären -- wenn nächstens einmal mein Hiersein sein Ende
nahm und ich ins Wasser ging oder in die Besserungsanstalt gebracht wurde,
dann kam es auf diese paar Kleinigkeiten auch nimmer an. Aber ich lebte
doch immerzu Aug in Auge mit solchen unschönen Sachen, und litt darunter.
An jenem Frühlingstag im Park begegnete mir eine junge Dame, die mich sehr
anzog. Sie war groß und schlank, elegant gekleidet, und hatte ein kluges
Knabengesicht. Sie gefiel mir sofort, sie gehörte dem Typ an, den ich
liebte, und sie begann meine Phantasien zu beschäftigen. Sie war wohl kaum
viel älter als ich, aber viel fertiger, elegant und wohl umrissen, schon
fast ganz Dame, aber mit einem Anflug von Übermut und Jungenhaftigkeit im
Gesicht, den ich überaus gern hatte.
Es war mir nie geglückt, mich einem Mädchen zu nähern, in das ich verliebt
war, und es glückte mir auch bei dieser nicht. Aber der Eindruck war tiefer
als alle früheren, und der Einfluß dieser Verliebtheit auf mein Leben war
gewaltig.
Plötzlich hatte ich wieder ein Bild vor mir stehen, ein hohes und verehrtes
Bild -- ach, und kein Bedürfnis, kein Drang war so tief und heftig in mir
wie der Wunsch nach Ehrfurcht und Anbetung! Ich gab ihr den Namen Beatrice,
denn von ihr wußte ich, ohne Dante gelesen zu haben, aus einem englischen
Gemälde, dessen Reproduktion ich mir aufbewahrt hatte. Dort war es eine
englisch-präraffaelitische Mädchenfigur, sehr langgliedrig und schlank mit
schmalem langem Kopf und vergeistigten Händen und Zügen. Mein schönes
junges Mädchen glich ihr nicht ganz, obwohl auch sie diese Schlankheit und
Knabenhaftigkeit der Formen zeigte, die ich liebte, und etwas von der
Vergeistigung oder Beseelung des Gesichts.
Ich habe mit Beatrice nicht ein einziges Wort gesprochen. Dennoch hat sie
damals den tiefsten Einfluß auf mich geübt. Sie stellte ihr Bild vor mir
auf, sie öffnete mir ein Heiligtum, sie machte mich zum Beter in einem
Tempel. Von einem Tag auf den andern blieb ich von den Kneipereien und
nächtlichen Streifzügen weg. Ich konnte wieder allein sein, ich las wieder
gern, ich ging wieder gern spazieren.
Die plötzliche Bekehrung trug mir Spott genug ein. Aber ich hatte nun etwas
zu lieben und anzubeten, ich hatte wieder ein Ideal, das Leben war wieder
voll von Ahnung und bunt geheimnisvoller Dämmerung -- das machte mich
unempfindlich. Ich war wieder bei mir selbst zu Hause, obwohl nur als
Sklave und Dienender eines verehrten Bildes.
An jene Zeit kann ich nicht ohne eine gewisse Rührung denken. Wieder
versuchte ich mit innigstem Bemühen, aus Trümmern einer zusammengebrochenen
Lebensperiode mir eine »lichte Welt« zu bauen, wieder lebte ich ganz in dem
einzigen Verlangen, das Dunkle und Böse in mir abzutun und völlig im
Lichten zu weilen, auf Knien vor Göttern. Immerhin war diese jetzige
»lichte Welt« einigermaßen meine eigene Schöpfung; es war nicht mehr ein
Zurückfliehen und Unterkriechen zur Mutter und verantwortungslosen
Geborgenheit, es war ein neuer, von mir selbst erfundener und geforderter
Dienst, mit Verantwortlichkeit und Selbstzucht. Die Geschlechtlichkeit,
unter der ich litt und vor der ich immer und immer auf der Flucht war,
sollte nun in diesem heiligen Feuer zu Geist und Andacht verklärt werden.
Es durfte nichts Finsteres mehr, nichts Häßliches geben, keine
durchstöhnten Nächte, kein Herzklopfen vor unzüchtigen Bildern, kein
Lauschen an verbotenen Pforten, keine Lüsternheit. Statt alles dessen
richtete ich meinen Altar ein, mit dem Bilde Beatricens, und indem ich mich
ihr weihte, weihte ich mich dem Geist und den Göttern. Den Lebensanteil,
den ich den finsteren Mächten entzog, brachte ich den lichten zum Opfer.
Nicht Lust war mein Ziel, sondern Reinheit, nicht Glück, sondern Schönheit
und Geistigkeit.
Dieser Kult der Beatrice änderte mein Leben ganz und gar. Gestern noch ein
frühreifer Zyniker, war ich jetzt ein Tempeldiener, mit dem Ziel, ein
Heiliger zu werden. Ich tat nicht nur das üble Leben ab, an das ich mich
gewöhnt hatte, ich suchte alles zu ändern, suchte Reinheit, Adel und Würde
in alles zu bringen, dachte hieran in Essen und Trinken, Sprache und
Kleidung. Ich begann den Morgen mit kalten Waschungen, zu denen ich mich
anfangs schwer zwingen mußte. Ich benahm mich ernst und würdig, trug mich
aufrecht und machte meinen Gang langsamer und würdiger. Für Zuschauer mag
es komisch ausgesehen haben -- bei mir innen war es lauter Gottesdienst.
Von all den neuen Übungen, in denen ich Ausdruck für meine neue Gesinnung
suchte, wurde eine mir wichtig. Ich begann zu malen. Es fing damit an, daß
das englische Beatricebild, das ich besaß, jenem Mädchen nicht ähnlich
genug war. Ich wollte versuchen, sie für mich zu malen. Mit einer ganz
neuen Freude und Hoffnung trug ich in meinem Zimmer -- ich hatte seit
kurzem ein eigenes -- schönes Papier, Farben und Pinsel zusammen, machte
Palette, Glas, Porzellanschalen, Bleistifte zurecht. Die feinen
Temperafarben in kleinen Tuben, die ich gekauft hatte, entzückten mich. Es
war ein feuriges Chromoxydgrün dabei, das ich noch zu sehen meine, wie es
erstmals in der kleinen weißen Schale aufleuchtete.
Ich begann mit Vorsicht. Ein Gesicht zu malen, war schwer, ich wollte es
erst mit andrem probieren. Ich malte Ornamente, Blumen und kleine
phantasierte Landschaften, einen Baum bei einer Kapelle, eine römische
Brücke mit Zypressen. Manchmal verlor ich mich ganz in dies spielende Tun,
war glücklich wie ein Kind mit einer Farbenschachtel. Schließlich aber
begann ich, Beatrice zu malen.
Einige Blätter mißglückten ganz und wurden weggetan. Je mehr ich mir das
Gesicht des Mädchens vorzustellen suchte, das ich je und je auf der Straße
antraf, desto weniger wollte es gehen. Schließlich tat ich darauf Verzicht
und begann einfach ein Gesicht zu malen, der Phantasie und den Führungen
folgend, die sich aus dem Begonnenen, aus Farbe und Pinsel von selber
ergaben. Es war ein geträumtes Gesicht, das dabei herauskam, und ich war
nicht unzufrieden damit. Doch setzte ich den Versuch sogleich fort, und
jedes neue Blatt sprach etwas deutlicher, kam dem Typ näher, wenn auch
keineswegs der Wirklichkeit.
Mehr und mehr gewöhnte ich mich daran, mit träumerischem Pinsel Linien zu
ziehen und Flächen zu füllen, die ohne Vorbild waren, die sich aus
spielendem Tasten, aus dem Unbewußten ergaben. Endlich machte ich eines
Tages, fast bewußtlos, ein Gesicht fertig, das stärker als die früheren zu
mir sprach. Es war nicht das Gesicht jenes Mädchens, das sollte es auch
längst nimmer sein. Es war etwas anderes, etwas Unwirkliches, doch nicht
minder Wertvolles. Es sah mehr wie ein Jünglingskopf aus als wie ein
Mädchengesicht, das Haar war nicht hellblond wie bei meinem hübschen
Mädchen, sondern braun mit rötlichem Hauch, das Kinn war stark und fest,
der Mund aber rotblühend, das Ganze etwas steif und maskenhaft, aber
eindrücklich und voll von geheimem Leben.
Als ich vor dem fertigen Blatte saß, machte es mir einen seltsamen
Eindruck. Es schien mir eine Art von Götterbild oder heiliger Maske zu
sein, halb männlich, halb weiblich, ohne Alter, ebenso willensstark wie
träumerisch, ebenso starr wie heimlich lebendig. Dies Gesicht hatte mir
etwas zu sagen, es gehörte zu mir, es stellte Forderungen an mich. Und es
hatte Ähnlichkeit mit irgend jemand, ich wußte nicht mit wem.
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