Demian: Die Geschichte von Emil Sinclairs Jugend - 04

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sich wieder alsbald Gerüchte geknüpft. Es hieß in der Schule wieder, er sei
eigentlich ein Jude, oder nein, ein Heide, und andre wußten, er sei samt
seiner Mutter ohne jede Religion oder gehöre einer fabelhaften, schlimmen
Sekte an. Im Zusammenhang damit meine ich auch den Verdacht vernommen zu
haben, er lebe mit seiner Mutter wie mit einer Geliebten. Vermutlich war es
so, daß er bisher ohne Konfession erzogen worden war, daß dies nun aber für
seine Zukunft irgendwelche Unzuträglichkeiten fürchten ließ. Jedenfalls
entschloß sich seine Mutter, ihn jetzt doch, zwei Jahre später als seine
Altersgenossen, an der Konfirmation teilnehmen zu lassen. So kam es, daß er
nun monatelang im Konfirmationsunterricht mein Kamerad war.
Eine Weile hielt ich mich ganz von ihm zurück, ich wollte nicht teil an ihm
haben, er war mir allzu sehr von Gerüchten und Geheimnissen umgeben,
namentlich aber störte mich das Gefühl von Verpflichtung, das seit der
Affäre mit Kromer in mir zurückgeblieben war. Und gerade damals hatte ich
genug mit meinen eigenen Geheimnissen zu tun. Für mich fiel der
Konfirmationsunterricht zusammen mit der Zeit der entscheidenden
Aufklärungen in den geschlechtlichen Dingen, und trotz gutem Willen war
mein Interesse für die fromme Belehrung dadurch sehr beeinträchtigt. Die
Dinge, von denen der Geistliche sprach, lagen weit von mir weg in einer
stillen heiligen Unwirklichkeit, sie waren vielleicht ganz schön und
wertvoll, aber keineswegs aktuell und erregend, und jene andern Dinge waren
gerade dies im höchsten Maße.
Je mehr mich nun dieser Zustand gegen den Unterricht gleichgültig machte,
desto mehr näherte sich mein Interesse wieder dem Max Demian. Irgend etwas
schien uns zu verbinden. Ich muß diesem Faden möglichst genau nachgehen.
Soviel ich mich besinnen kann, begann es in einer Stunde früh am Morgen,
als noch Licht in der Schulstube brannte. Unser geistlicher Lehrer war auf
die Geschichte Kains und Abels zu sprechen gekommen. Ich achtete kaum
darauf, ich war schläfrig und hörte kaum zu. Da begann der Pfarrer mit
erhobener Stimme eindringlich vom Kainszeichen zu reden. In diesem
Augenblick spürte ich eine Art von Berührung oder Mahnung, und aufblickend
sah ich aus den vorderen Bankreihen her das Gesicht Demians nach mir zurück
gewendet, mit einem hellen sprechenden Auge, dessen Ausdruck ebensowohl
Spott wie Ernst sein konnte. Nur einen Moment sah er mich an, und plötzlich
horchte ich gespannt auf die Worte des Pfarrers, hörte ihn vom Kain und
seinem Zeichen reden, und spürte tief in mir ein Wissen, daß das nicht so
sei wie er es lehre, daß man das auch anders ansehen konnte, daß daran
Kritik möglich war!
Mit dieser Minute war zwischen Demian und mir wieder eine Verbindung da.
Und sonderbar -- kaum war dies Gefühl einer gewissen Zusammengehörigkeit in
der Seele da, so sah ich es wie magisch auch ins Räumliche übertragen. Ich
wußte nicht, ob er es selbst so einrichten konnte oder ob es ein reiner
Zufall war -- ich glaubte damals noch fest an Zufälle -- nach wenigen Tagen
hatte Demian plötzlich seinen Platz in der Religionsstunde gewechselt und
saß gerade vor mir (ich weiß noch, wie gern ich mitten in der elenden
Armenhäuslerluft der überfüllten Schulstube am Morgen von seinem Nacken her
den zartfrischen Seifengeruch einsog!), und wieder nach einigen Tagen hatte
er wieder gewechselt und saß nun neben mir, und da blieb er sitzen, den
ganzen Winter und das ganze Frühjahr hindurch.
Die Morgenstunden hatten sich ganz verwandelt. Sie waren nicht mehr
schläfrig und langweilig. Ich freute mich auf sie. Manchmal hörten wir
beide mit der größten Aufmerksamkeit dem Pfarrer zu, ein Blick von meinem
Nachbar genügte, um mich auf eine merkwürdige Geschichte, einen seltsamen
Spruch hinzuweisen. Und ein anderer Blick von ihm, ein ganz bestimmter,
genügte, um mich zu mahnen, um Kritik und Zweifel in mir anzuregen.
Sehr oft aber waren wir schlechte Schüler und hörten nichts vom Unterricht.
Demian war stets artig gegen Lehrer und Mitschüler, nie sah ich ihn
Schuljungendummheiten machen, nie hörte man ihn laut lachen oder plaudern,
nie zog er sich einen Tadel des Lehrers zu. Aber ganz leise, und mehr mit
Zeichen und Blicken als mit Flüsterworten, verstand er es, mich an seinen
eigenen Beschäftigungen teilnehmen zu lassen. Diese waren zum Teil von
merkwürdiger Art.
Er sagte mir zum Beispiel, welche von den Schülern ihn interessierten, und
auf welche Weise er sie studiere. Manche kannte er sehr genau. Er sagte mir
vor der Lektion: »Wenn ich dir ein Zeichen mit dem Daumen mache, dann wird
der und der sich nach uns umsehen, oder sich am Nacken kratzen usw.«
Während der Stunde dann, wenn ich oft kaum mehr daran dachte, drehte Max
plötzlich mit auffallender Gebärde mir seinen Daumen zu, ich schaute
schnell nach dem bezeichneten Schüler aus und sah ihn jedesmal, wie am
Draht gezogen, die verlangte Gebärde machen. Ich plagte Max, er solle das
auch einmal am Lehrer versuchen, doch wollte er es nicht tun. Aber einmal,
als ich in die Stunde kam und ihm sagte, ich hätte heute meine Aufgaben
nicht gelernt und hoffe sehr, der Pfarrer werde mich heute nichts fragen,
da half er mir. Der Pfarrer suchte nach einem Schüler, den er ein Stück
Katechismus hersagen lassen wollte, und sein schweifendes Auge blieb auf
meinem schuldbewußten Gesicht hängen. Langsam kam er heran, streckte den
Finger gegen mich aus, hatte schon meinen Namen auf den Lippen -- da wurde
er plötzlich zerstreut oder unruhig, rückte an seinem Halskragen, trat auf
Demian zu, der ihm fest ins Gesicht sah, schien ihn etwas fragen zu wollen,
wandte sich aber überraschend wieder weg, hustete eine Weile und forderte
dann einen andern Schüler auf.
Erst allmählich merkte ich, während diese Scherze mich sehr belustigten,
daß mein Freund mit mir häufig dasselbe Spiel treibe. Es kam vor, daß ich
auf dem Schulweg plötzlich das Gefühl hatte, Demian gehe eine Strecke
hinter mir, und wenn ich mich umwandte, war er richtig da.
»Kannst du denn eigentlich machen, daß ein anderer das denken muß, was du
willst?« fragte ich ihn.
Er gab bereitwillig Auskunft, ruhig und sachlich, in seiner erwachsenen
Art.
»Nein,« sagte er, »das kann man nicht. Man hat nämlich keinen freien
Willen, wenn auch der Pfarrer so tut. Weder kann der andere denken, was er
will, noch kann ich ihn denken machen, was ich will. Wohl aber kann man
jemand gut beobachten, und dann kann man oft ziemlich genau sagen, was er
denkt oder fühlt, und dann kann man meistens auch voraussehen, was er im
nächsten Augenblick tun wird. Es ist ganz einfach, die Leute wissen es bloß
nicht. Natürlich braucht es Übung.
Es gibt zum Beispiel bei den Schmetterlingen gewisse Nachtfalter, bei denen
sind die Weibchen viel seltener als die Männchen. Die Falter pflanzen sich
gerade so fort wie alle Tiere, der Mann befruchtet das Weibchen, das dann
Eier legt. Wenn du nun von diesen Nachtfaltern ein Weibchen hast -- es ist
von Naturforschern oft probiert worden -- so kommen in der Nacht zu diesem
Weibchen die männlichen Falter geflogen, und zwar stundenweit! Stundenweit,
denke dir! Auf viele Kilometer spüren alle diese Männchen das einzige
Weibchen, das in der Gegend ist! Man versucht das zu erklären, aber es geht
schwer. Es muß eine Art Geruchssinn oder so etwas sein, etwa so wie gute
Jagdhunde eine unmerkliche Spur finden und verfolgen können. Du begreifst?
Das sind solche Sachen, die Natur ist voll davon, und niemand kann sie
erklären. Nun sage ich aber: Wären bei diesen Schmetterlingen die Weibchen
so häufig wie die Männchen, so hätten sie die feine Nase eben nicht! Sie
haben sie bloß, weil sie sich darauf dressiert haben. Wenn ein Tier oder
Mensch seine ganze Aufmerksamkeit und seinen ganzen Willen auf eine
bestimmte Sache richtet, dann erreicht er sie auch. Das ist alles. Und
genau so ist es mit dem, was du meinst. Sieh dir einen Menschen genau genug
an, so weißt du mehr von ihm als er selber.«
Mir lag es auf der Zunge, das Wort »Gedankenlesen« auszusprechen, und ihn
damit an die Szene mit Kromer zu erinnern, die so lang zurück lag. Aber
dies war nun auch eine seltsame Sache zwischen uns beiden: Nie und niemals
machte weder er noch ich die leiseste Anspielung darauf, daß er vor
mehreren Jahren einmal so ernstlich in mein Leben eingegriffen hatte. Es
war, als sei nie etwas früher zwischen uns gewesen, oder als rechne jeder
von uns fest damit, daß der andere das vergessen habe. Es kam, ein- oder
zweimal, sogar vor, daß wir zusammen über die Straße gingen und den Franz
Kromer antrafen, aber wir wechselten keinen Blick, sprachen kein Wort von
ihm.
»Aber wie ist nun das mit dem Willen?« fragte ich. »Du sagst, man hat
keinen freien Willen. Aber dann sagst du wieder, man brauche nur seinen
Willen fest auf etwas zu richten, dann könne man sein Ziel erreichen. Das
stimmt doch nicht! Wenn ich nicht Herr über meinen Willen bin, dann kann
ich ihn ja auch nicht beliebig da- oder dorthin richten.«
Er klopfte mir auf die Schulter. Das tat er stets, wenn ich ihm Freude
machte.
»Gut, daß du fragst!« sagte er lachend. »Man muß immer fragen, man muß
immer zweifeln. Aber die Sache ist sehr einfach. Wenn so ein Nachtfalter
zum Beispiel seinen Willen auf einen Stern oder sonstwohin richten wollte,
so könnte er das nicht. Nur -- er versucht das überhaupt nicht. Er sucht
nur das, was Sinn und Wert für ihn hat, was er braucht, was er unbedingt
haben muß. Und eben da gelingt ihm auch das Unglaubliche -- er entwickelt
einen zauberhaften sechsten Sinn, den kein anderes Tier außer ihm hat!
Unsereiner hat mehr Spielraum, gewiß, und mehr Interessen als ein Tier.
Aber auch wir sind in einem verhältnismäßig recht engen Kreis gebunden und
können nicht darüber hinaus. Ich kann wohl das und das phantasieren, mir
etwa einbilden, ich wolle unbedingt an den Nordpol kommen, oder so etwas,
aber ausführen und genügend stark wollen kann ich das nur, wenn der Wunsch
ganz in mir selber liegt, wenn wirklich mein Wesen ganz von ihm erfüllt
ist. Sobald das der Fall ist, sobald du etwas probierst, was dir von innen
heraus befohlen wird, dann geht es auch, dann kannst du deinen Willen
anspannen wie einen guten Gaul. Wenn ich zum Beispiel mir jetzt vornähme,
ich wolle bewirken, daß unser Herr Pfarrer künftig keine Brille mehr trägt,
so geht das nicht. Das ist bloß eine Spielerei. Aber als ich, damals im
Herbst, den festen Willen bekam, aus meiner Bank da vorne versetzt zu
werden, da ging es ganz gut. Da war plötzlich einer da, der im Alphabet vor
mir kam, und der bisher krank gewesen war, und weil jemand ihm Platz machen
mußte, war natürlich ich der, der es tat, weil eben mein Wille bereit war,
sofort die Gelegenheit zu packen.«
»Ja,« sagte ich, »mir war es damals auch ganz eigentümlich. Von dem
Augenblick an, wo wir uns füreinander interessierten, rücktest du mir immer
näher. Aber wie war das? Anfangs kamst du doch nicht gleich neben mich zu
sitzen, du saßest erst ein paarmal in der Bank da vor mir, nicht? Wie ging
das zu?«
»Das war so: ich wußte selber nicht recht, wohin ich wollte, als ich von
meinem ersten Platz weg begehrte. Ich wußte nur, daß ich weiter hinten
sitzen wollte. Es war mein Wille, zu dir zu kommen, der mir aber noch nicht
bewußt geworden war. Zugleich zog dein eigener Wille mit und half mir. Erst
als ich dann da vor dir saß, kam ich darauf, daß mein Wunsch erst halb
erfüllt sei -- ich merkte, daß ich eigentlich nichts anderes begehrt hatte,
als neben dir zu sitzen.«
»Aber damals ist kein Neuer eingetreten.«
»Nein, aber damals tat ich einfach, was ich wollte, und setzte mich
kurzerhand neben dich. Der Junge, mit dem ich den Platz tauschte, war bloß
verwundert und ließ mich machen. Und der Pfarrer merkte zwar einmal, daß es
da eine Änderung gegeben habe -- überhaupt, jedesmal, wenn er mit mir zu
tun hat, plagt ihn heimlich etwas, er weiß nämlich, daß ich Demian heiße
und daß es nicht stimmt, daß ich mit meinem D im Namen da ganz hinten
unterm S sitze! Aber das dringt nicht bis in sein Bewußtsein, weil mein
Wille dagegen ist, und weil ich ihn immer wieder daran hindere. Er merkt es
immer wieder einmal, daß da etwas nicht stimmt, und sieht mich an und fängt
an zu studieren, der gute Herr. Ich habe da aber ein einfaches Mittel. Ich
seh ihm jedesmal ganz, ganz fest in die Augen. Das vertragen fast alle
Leute schlecht. Sie werden alle unruhig. Wenn du von jemand etwas erreichen
willst, und siehst ihm unerwartet ganz fest in die Augen, und er wird gar
nicht unruhig, dann gib es auf! Du erreichst nichts bei ihm, nie! Aber das
ist sehr selten. Ich weiß eigentlich bloß einen einzigen Menschen, bei dem
es mir nicht hilft.«
»Wer ist das?« fragte ich schnell.
Er sah mich an, mit den etwas verkleinerten Augen, die er in der
Nachdenklichkeit bekam. Dann blickte er weg und gab keine Antwort, und ich
konnte, trotz heftiger Neugierde, die Frage nicht wiederholen.
Ich glaube aber, daß er damals von seiner Mutter sprach. -- Mit ihr schien
er sehr innig zu leben, sprach mir aber nie von ihr, nahm mich nie mit sich
nach Hause. Ich wußte kaum, wie seine Mutter aussah.
* * * * *
Manchmal machte ich damals Versuche, es ihm gleichzutun und meinen Willen
auf etwas so zusammenzuziehen, daß ich es erreichen müsse. Es waren Wünsche
da, die mir dringend genug schienen. Aber es war nichts und ging nicht. Mit
Demian davon zu sprechen, brachte ich nicht über mich. Was ich mir
wünschte, hätte ich ihm nicht gestehen können. Und er fragte auch nicht.
Meine Gläubigkeit in den Fragen der Religion hatte inzwischen manche Lücken
bekommen. Doch unterschied ich mich, in meinem durchaus von Demian
beeinflußten Denken, sehr von denen meiner Mitschüler, welche einen
völligen Unglauben aufzuweisen hatten. Es gab einige solche, und sie ließen
gelegentlich Worte hören, wie daß es lächerlich und menschenunwürdig sei,
an einen Gott zu glauben, und Geschichten wie die von der Dreieinigkeit und
von Jesu unbefleckter Geburt seien einfach zum Lachen, und es sei eine
Schande, daß man heute noch mit diesem Kram hausieren gehe. So dachte ich
keineswegs. Auch wo ich Zweifel hatte, wußte ich doch aus der ganzen
Erfahrung meiner Kindheit genug von der Wirklichkeit eines frommen Lebens,
wie es etwa meine Eltern führten, und daß dies weder etwas Unwürdiges noch
geheuchelt sei. Vielmehr hatte ich vor dem Religiösen nach wie vor die
tiefste Ehrfurcht. Nur hatte Demian mich daran gewöhnt, die Erzählungen und
Glaubenssätze freier, persönlicher, spielerischer, phantasievoller
anzusehen und auszudeuten; wenigstens folgte ich den Deutungen, die er mir
nahelegte, stets gern und mit Genuß. Vieles freilich war mir zu schroff, so
auch die Sache wegen Kain. Und einmal während des Konfirmationsunterrichtes
erschreckte er mich durch eine Auffassung, die womöglich noch kühner war.
Der Lehrer hatte von Golgatha gesprochen. Der biblische Bericht vom Leiden
und Sterben des Heilandes hatte mir seit frühester Zeit tiefen Eindruck
gemacht, manchmal als kleiner Knabe hatte ich, etwa am Karfreitag, nachdem
mein Vater die Leidensgeschichte vorgelesen hatte, innig und ergriffen in
dieser leidvoll schönen, bleichen, gespenstigen und doch ungeheuer
lebendigen Welt gelebt, in Gethsemane und auf Golgatha, und beim Anhören
der Matthäuspassion von Bach hatte mich der düster mächtige Leidensglanz
dieser geheimnisvollen Welt mit allen mystischen Schauern überflutet. Ich
finde heute noch in dieser Musik, und im »actus tragicus«, den Inbegriff
aller Poesie und alles künstlerischen Ausdrucks.
Nun sagte Demian am Schluß jener Stunde nachdenklich zu mir: »Da ist etwas,
Sinclair, was mir nicht gefällt. Lies einmal die Geschichte nach und prüfe
sie auf der Zunge, es ist da etwas, was fad schmeckt. Nämlich die Sache mit
den beiden Schächern. Großartig, wie da die drei Kreuze auf dem Hügel
beieinander stehen! Aber nun diese sentimentale Traktätchengeschichte mit
dem biederen Schächer! Erst war er ein Verbrecher und hat Schandtaten
begangen, weiß Gott was alles, und nun schmilzt er dahin und feiert solche
weinerliche Feste der Besserung und Reue! Was für einen Sinn hat solche
Reue zwei Schritt vom Grabe weg, ich bitte dich? Es ist wieder einmal
nichts als eine richtige Pfaffengeschichte, süßlich und unredlich, mit
Schmalz der Rührung und höchst erbaulichem Hintergrund. Wenn du heute einen
von den beiden Schächern zum Freund wählen müßtest, oder dich besinnen,
welchem von beiden du eher Vertrauen schenken könntest, so ist es doch ganz
gewiß nicht dieser weinerliche Bekehrte. Nein, der andere ist's, der ist
ein Kerl und hat Charakter. Er pfeift auf eine Bekehrung, die ja in seiner
Lage bloß noch ein hübsches Gerede sein kann, er geht seinen Weg zu Ende
und sagt sich nicht im letzten Augenblick feig vom Teufel los, der ihm bis
dahin hat helfen müssen. Er ist ein Charakter, und die Leute von Charakter
kommen in der biblischen Geschichte gern zu kurz. Vielleicht ist er auch
ein Abkömmling von Kain. Meinst du nicht?«
Ich war sehr bestürzt. Hier in der Kreuzigungsgeschichte hatte ich ganz
heimisch zu sein geglaubt, und sah erst jetzt, wie wenig persönlich, mit
wie wenig Vorstellungskraft und Phantasie ich sie angehört und gelesen
hatte. Dennoch klang mir Demians neuer Gedanke fatal und drohte Begriffe in
mir umzuwerfen, auf deren Bestehenbleiben ich glaubte halten zu müssen.
Nein, so konnte man doch nicht mit allem und jedem umspringen, auch mit dem
Heiligsten.
Er merkte meinen Widerstand, wie immer, sofort, noch ehe ich irgend etwas
sagte.
»Ich weiß schon,« sagte er resigniert, »es ist die alte Geschichte. Nur
nicht Ernst machen! Aber ich will dir etwas sagen --: hier ist einer von
den Punkten, wo man den Mangel in dieser Religion sehr deutlich sehen kann.
Es handelt sich darum, daß dieser ganze Gott, alten und neuen Bundes, zwar
eine ausgezeichnete Figur ist, aber nicht das, was er doch eigentlich
vorstellen soll. Er ist das Gute, das Edle, das Väterliche, das Schöne und
auch Hohe, das Sentimentale -- ganz recht! Aber die Welt besteht auch aus
anderem. Und das wird nun alles einfach dem Teufel zugeschrieben, und
dieser ganze Teil der Welt, diese ganze Hälfte wird unterschlagen und
totgeschwiegen. Gerade wie sie Gott als Vater alles Lebens rühmen, aber das
ganze Geschlechtsleben, auf dem das Leben doch beruht, einfach totschweigen
und womöglich für Teufelszeug und sündlich erklären! Ich habe nichts
dagegen, daß man diesen Gott Jehova verehrt, nicht das mindeste. Aber ich
meine, wir sollen _Alles_ verehren und heilig halten, die ganze Welt, nicht
bloß diese künstlich abgetrennte, offizielle Hälfte! Also müssen wir dann
neben dem Gottesdienst auch einen Teufelsdienst haben. Das fände ich
richtig. Oder aber, man müßte sich einen Gott schaffen, der auch den Teufel
in sich einschließt, und vor dem man nicht die Augen zudrücken muß, wenn
die natürlichsten Dinge von der Welt geschehen.«
Er war, gegen seine Art, beinahe heftig geworden, gleich darauf lächelte er
jedoch wieder und drang nicht weiter in mich.
In mir aber trafen diese Worte das Rätsel meiner ganzen Knabenjahre, das
ich jede Stunde in mir trug und von dem ich nie jemandem ein Wort gesagt
hatte. Was Demian da über Gott und Teufel, über die göttlich-offizielle und
die totgeschwiegene teuflische Welt gesagt hatte, das war ja genau mein
eigener Gedanke, mein eigener Mythus, der Gedanke von den beiden Welten
oder Welthälften -- der lichten und der dunkeln. Die Einsicht, daß mein
Problem ein Problem aller Menschen, ein Problem alles Lebens und Denkens
sei, überflog mich plötzlich wie ein heiliger Schatten, und Angst und
Ehrfurcht überkam mich, als ich sah und plötzlich fühlte, wie tief mein
eigenstes, persönliches Leben und Meinen am ewigen Strom der großen Ideen
teilhatte. Die Einsicht war nicht freudig, obwohl irgendwie bestätigend und
beglückend. Sie war hart und schmeckte rauh, weil ein Klang von
Verantwortlichkeit in ihr lag, von Nichtmehrkindseindürfen, von
Alleinstehen.
Ich erzählte, zum erstenmal in meinem Leben ein so tiefes Geheimnis
enthüllend, meinem Kameraden von meiner seit frühesten Kindertagen
bestehenden Auffassung von den »zwei Welten«, und er sah sofort, daß damit
mein tiefstes Fühlen ihm zustimmte und recht gab. Doch war es nicht seine
Art, so etwas auszunützen. Er hörte mit tieferer Aufmerksamkeit zu, als er
sie mir je geschenkt hatte, und sah mir in die Augen, bis ich die meinen
abwenden mußte. Denn ich sah in seinem Blick wieder diese seltsame,
tierhafte Zeitlosigkeit, dies unausdenkliche Alter.
»Wir reden ein andermal mehr davon,« sagte er schonend. »Ich sehe, du
denkst mehr, als du einem sagen kannst. Wenn das nun so ist, dann weißt du
aber auch, daß du nie ganz das gelebt hast, was du dachtest, und das ist
nicht gut. Nur das Denken, das wir leben, hat einen Wert. Du hast gewußt,
daß deine >erlaubte Welt< bloß die Hälfte der Welt war, und du hast
versucht, die zweite Hälfte dir zu unterschlagen, wie es die Pfarrer und
Lehrer tun. Es wird dir nicht glücken! Es glückt keinem, wenn er einmal das
Denken angefangen hat.«
Es traf mich tief.
»Aber,« schrie ich fast, »es gibt doch nun einmal tatsächlich und wirklich
verbotene und häßliche Dinge, das kannst du doch nicht leugnen! Und die
sind nun einmal verboten, und wir müssen auf sie verzichten. Ich weiß ja,
daß es Mord und alle möglichen Laster gibt, aber soll ich denn, bloß weil
es das gibt, hingehen und ein Verbrecher werden?«
»Wir werden heute nicht damit fertig,« begütigte Max. »Du sollst gewiß
nicht totschlagen oder Mädchen lustmorden, nein. Aber du bist noch nicht
dort, wo man einsehen kann, was >erlaubt< und >verboten< eigentlich heißt.
Du hast erst ein Stück von der Wahrheit gespürt. Das andere kommt noch,
verlaß dich drauf! Du hast jetzt zum Beispiel, seit einem Jahr etwa, einen
Trieb in dir, der ist stärker als alle andern, und er gilt für >verboten<.
Die Griechen und viele andere Völker haben im Gegenteil diesen Trieb zu
einer Gottheit gemacht und ihn in großen Festen verehrt. >Verboten< ist
also nichts Ewiges, es kann wechseln. Auch heute darf ja jeder bei einer
Frau schlafen, sobald er mit ihr beim Pfarrer gewesen ist und sie
geheiratet hat. Bei andern Völkern ist das anders, auch heute noch. Darum
muß jeder von uns für sich selber finden, was erlaubt und was verboten --
ihm verboten ist. Man kann niemals etwas Verbotnes tun und kann ein großer
Schuft dabei sein. Und ebenso umgekehrt. -- Eigentlich ist es bloß eine
Frage der Bequemlichkeit! Wer zu bequem ist, um selber zu denken und selber
sein Richter zu sein, der fügt sich eben in die Verbote, wie sie nun einmal
sind. Er hat es leicht. Andere spüren selber Gebote in sich, ihnen sind
Dinge verboten, die jeder Ehrenmann täglich tut, und es sind ihnen andere
Dinge erlaubt, die sonst verpönt sind. Jeder muß für sich selber stehen.«
Er schien plötzlich zu bereuen, so viel gesagt zu haben, und brach ab.
Schon damals konnte ich mit dem Gefühl einigermaßen begreifen, was er dabei
empfand. So angenehm und scheinbar obenhin er nämlich seine Einfälle
vorzubringen pflegte, so konnte er doch ein Gespräch »nur um des Redens
willen«, wie er einmal sagte, in den Tod nicht leiden. Bei mir aber spürte
er, neben dem echten Interesse, zu viel Spiel, zu viel Freude am gescheiten
Schwatzen, oder so etwas, kurz, einen Mangel an vollkommenem Ernst.
* * * * *
Wie ich das letzte Wort wieder lese, das ich geschrieben -- »vollkommener
Ernst« -- fällt eine andere Szene mir plötzlich wieder ein, die
eindringlichste, die ich mit Max Demian in jenen noch halbkindlichen Zeiten
erlebt habe.
Unsere Konfirmation kam heran, und die letzten Stunden des geistlichen
Unterrichts handelten vom Abendmahl. Es war dem Pfarrer wichtig damit, und
er gab sich Mühe, etwas von Weihe und Stimmung war in diesen Stunden wohl
zu verspüren. Allein gerade in diesen paar letzten Unterweisungsstunden
waren meine Gedanken an anderes gebunden, und zwar an die Person meines
Freundes. Indem ich der Konfirmation entgegensah, die uns als die
feierliche Aufnahme in die Gemeinschaft der Kirche erklärt wurde, drängte
sich mir unabweislich der Gedanke auf, daß für mich der Wert dieser etwa
halbjährigen Religionsunterweisung nicht in dem liege, was wir hier gelernt
hatten, sondern in der Nähe und dem Einfluß Demians. Nicht in die Kirche
war ich nun bereit aufgenommen zu werden, sondern in etwas ganz anderes, in
einen Orden des Gedankens und der Persönlichkeit, der irgendwie auf Erden
existieren mußte und als dessen Vertreter oder Boten ich meinen Freund
empfand.
Ich suchte diesen Gedanken zurückzudrängen, es war mir Ernst damit, die
Feier der Konfirmation, trotz allem, mit einer gewissen Würde zu erleben,
und diese schien sich mit meinem neuen Gedanken wenig zu vertragen. Doch
ich mochte tun, was ich wollte, der Gedanke war da, und er verband sich mir
allmählich mit dem an die nahe kirchliche Feier, ich war bereit, sie anders
zu begehen als die andern, sie sollte für mich die Aufnahme in eine
Gedankenwelt bedeuten, wie ich sie in Demian kennengelernt hatte.
In jenen Tagen war es, daß ich wieder einmal lebhaft mit ihm disputierte;
es war gerade vor einer Unterweisungsstunde. Mein Freund war zugeknöpft und
hatte keine Freude an meinen Reden, die wohl ziemlich altklug und
wichtigtuerisch waren.
»Wir reden zu viel,« sagte er mit ungewohntem Ernst. »Das kluge Reden hat
gar keinen Wert, gar keinen. Man kommt nur von sich selber weg. Von sich
selber Wegkommen ist Sünde. Man muß sich in sich selber völlig verkriechen
können wie eine Schildkröte.«
Gleich darauf betraten wir den Schulsaal. Die Stunde begann, ich gab mir
Mühe, aufzumerken, und Demian störte mich darin nicht. Nach einer Weile
begann ich von der Seite her, wo er neben mir saß, etwas Eigentümliches zu
spüren, eine Leere oder Kühle oder etwas dergleichen, so, als sei der Platz
unversehens leer geworden. Als das Gefühl beengend zu werden anfing, drehte
ich mich um.
Da sah ich meinen Freund sitzen, aufrecht und in guter Haltung wie sonst.
Aber er sah dennoch ganz anders aus als sonst, und etwas ging von ihm aus,
etwas umgab ihn, was ich nicht kannte. Ich glaubte, er habe die Augen
geschlossen, sah aber, daß er sie offen hielt. Sie blickten aber nicht, sie
waren nicht sehend, sie waren starr und nach Innen oder in eine große Ferne
gewendet. Vollkommen regungslos saß er da, auch zu atmen schien er nicht,
sein Mund war wie aus Holz oder Stein geschnitten. Sein Gesicht war blaß,
gleichmäßig bleich, wie Stein, und die braunen Haare waren das Lebendigste
an ihm. Seine Hände lagen vor ihm auf der Bank, leblos und still wie
Gegenstände, wie Steine oder Früchte, bleich und regungslos, doch nicht
schlaff, sondern wie feste, gute Hüllen um ein verborgnes starkes Leben.
Der Anblick machte mich zittern. Er ist tot! dachte ich, beinahe sagte ich
es laut. Aber ich wußte, daß er nicht tot sei. Ich hing mit gebanntem Blick
an seinem Gesicht, an dieser blassen, steinernen Maske, und ich fühlte: das
war Demian! Wie er sonst war, wenn er mit mir ging und sprach, das war nur
ein halber Demian, einer der zeitweilig eine Rolle spielte, sich
anbequemte, aus Gefälligkeit mittat. Der wirkliche Demian aber sah so aus,
so wie dieser, so steinern, uralt, tierhaft, steinhaft, schön und kalt, tot
und heimlich voll von unerhörtem Leben. Und um ihn her diese stille Leere,
dieser Äther und Sternenraum, dieser einsame Tod!
»Jetzt ist der ganz in sich hineingegangen,« fühlte ich unter Schauern. Nie
war ich so vereinsamt gewesen. Ich hatte nicht teil an ihm, er war mir
unerreichbar, er war mir ferner, als wenn er auf der fernsten Insel der
Welt gewesen wäre.
Ich begriff kaum, daß niemand außer mir es sehe! Alle mußten hersehen, alle
mußten aufschauern! Aber niemand gab acht auf ihn. Er saß bildhaft und, wie
ich denken mußte, sonderbar götzenhaft steif, eine Fliege setzte sich auf
seine Stirn, lief langsam über Nase und Lippen hinweg -- er zuckte mit
keiner Falte.
Wo, wo war er jetzt? Was dachte er, was fühlte er? War er in einem Himmel,
in einer Hölle?
Es war mir nicht möglich, ihn darüber zu fragen. Als ich ihn, am Ende der
Stunde, wieder leben und atmen sah, als sein Blick meinem begegnete, war er
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