Demian: Die Geschichte von Emil Sinclairs Jugend - 03

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bestellt worden, da stand ich nun und wartete und wühlte mit den Füßen im
nassen Kastanienlaub, das noch immerzu von den schwarzen triefenden Bäumen
fiel. Geld hatte ich nicht, aber ich hatte zwei Stücke Kuchen beiseite
gebracht und trug sie bei mir, um dem Kromer wenigstens etwas geben zu
können. Ich war es längst gewohnt, so irgendwo in einem Winkel zu stehen
und auf ihn zu warten, oft sehr lange Zeit, und ich nahm es hin, wie der
Mensch das Unabänderliche hinnimmt.
Endlich kam Kromer. Er blieb heute nicht lang. Er gab mir ein paar Knüffe
in die Rippen, lachte, nahm mir den Kuchen ab, bot mir sogar eine feuchte
Zigarette an, die ich jedoch nicht nahm, und war freundlicher als
gewöhnlich.
»Ja,« sagte er beim Weggehen, »daß ich's nicht vergesse -- du könntest das
nächstemal deine Schwester mitbringen, die ältere. Wie heißt sie
eigentlich?«
Ich verstand gar nicht, gab auch keine Antwort. Ich sah ihn nur verwundert
an.
»Kapierst du nicht? Deine Schwester sollst du mitbringen.«
»Ja, Kromer, aber das geht nicht. Das darf ich nicht, und sie käme auch gar
nicht mit.«
Ich war darauf gefaßt, daß das nur wieder eine Schikane und ein Vorwand
sei. So machte er es oft, verlangte irgend etwas Unmögliches, setzte mich
in Schrecken, demütigte mich, und ließ dann allmählich mit sich handeln.
Ich mußte mich dann mit etwas Geld oder anderen Gaben loskaufen.
Diesmal war er ganz anders. Er wurde auf meine Weigerung hin fast gar nicht
böse.
»Na ja,« sagte er obenhin, »du wirst dir das überlegen. Ich möchte mit
deiner Schwester bekannt werden. Es wird schon einmal gehen. Du nimmst sie
einfach auf einen Spaziergang mit, und dann komme ich dazu. Morgen pfeife
ich dir an, dann sprechen wir noch einmal drüber.«
Als er fort war, dämmerte mir plötzlich etwas vom Sinn seines Begehrens
auf. Ich war noch völlig Kind, aber ich wußte gerüchtweise davon, daß
Knaben und Mädchen, wenn sie etwas älter waren, irgendwelche
geheimnisvolle, anstößige und verbotene Dinge miteinander treiben konnten.
Und nun sollte ich also -- es wurde mir ganz plötzlich klar, wie
ungeheuerlich es war! Mein Entschluß, das nie zu tun, stand sofort fest.
Aber was dann geschehen und wie Kromer sich an mir rächen würde, daran
wagte ich kaum zu denken. Es begann eine neue Marter für mich, es war noch
nicht genug.
Trostlos ging ich über den leeren Platz, die Hände in den Taschen. Neue
Qualen, neue Sklaverei!
Da rief mich eine frische, tiefe Stimme an. Ich erschrak und fing zu laufen
an. Jemand lief mir nach, eine Hand faßte mich sanft von hinten. Es war Max
Demian.
Ich gab mich gefangen.
»Du bist es?« sagte ich unsicher. »Du hast mich so erschreckt!«
Er sah mich an, und nie war sein Blick mehr der eines Erwachsenen, eines
Überlegenen und Durchschauenden gewesen als jetzt. Seit langem hatten wir
nicht mehr miteinander gesprochen.
»Das tut mir leid,« sagte er mit seiner höflichen und dabei sehr bestimmten
Art. »Aber höre, man muß sich nicht so erschrecken lassen.«
»Nun ja, das kann doch passieren.«
»Es scheint so. Aber sieh: wenn du vor jemand, der dir nichts getan hat, so
zusammenfährst, dann fängt der Jemand an nachzudenken. Es wundert ihn, es
macht ihn neugierig. Der Jemand denkt sich, du seiest doch merkwürdig
schreckhaft, und er denkt weiter: so ist man bloß, wenn man Angst hat.
Feiglinge haben immer Angst; aber ich glaube, ein Feigling bist du
eigentlich nicht. Nicht wahr? O freilich, ein Held bist du auch nicht. Es
gibt Dinge, vor denen du Furcht hast; es gibt auch Menschen, vor denen du
Furcht hast. Und das sollte man nie haben. Nein, vor Menschen sollte man
niemals Furcht haben. Du hast doch keine vor mir? Oder?«
»O nein, gar nicht.«
»Eben, siehst du. Aber es gibt Leute, vor denen du Furcht hast?«
»Ich weiß nicht . . . Laß mich doch, was willst du von mir?«
Er hielt mit mir Schritt -- ich war rascher gegangen, mit Fluchtgedanken --
und ich fühlte seinen Blick von der Seite her.
»Nimm einmal an,« fing er wieder an, »daß ich es gut mit dir meine. Angst
brauchst du jedenfalls vor mir nicht zu haben. Ich möchte gern ein
Experiment mit dir machen, es ist lustig und du kannst etwas dabei lernen,
was sehr brauchbar ist. Paß einmal auf! -- Also ich versuche manchmal eine
Kunst, die man Gedankenlesen heißt. Es ist gar keine Hexerei dabei, aber
wenn man nicht weiß, wie es gemacht wird, dann sieht es ganz eigentümlich
aus. Man kann die Leute sehr damit überraschen. -- Nun, wir probieren
einmal. Also ich habe dich gern, oder ich interessiere mich für dich, und
möchte nun herausbringen, wie es in dir drinnen aussieht. Dazu habe ich den
ersten Schritt schon getan. Ich habe dich erschreckt -- du bist also
schreckhaft. Es gibt also Sachen und Menschen, vor denen du Angst hast.
Woher kann das kommen? Man braucht vor niemand Angst zu haben. Wenn man
jemand fürchtet, dann kommt es daher, daß man diesem Jemand Macht über sich
eingeräumt hat. Man hat zum Beispiel etwas Böses getan, und der andre weiß
das -- dann hat er Macht über dich. Du kapierst? Es ist doch klar, nicht?«
Ich sah ihm hilflos ins Gesicht, das war ernst und klug wie stets, und auch
gütig, aber ohne alle Zärtlichkeit, es war eher streng. Gerechtigkeit oder
etwas Ähnliches lag darin. Ich wußte nicht, wie mir geschah; er stand wie
ein Zauberer vor mir.
»Hast du verstanden?« fragte er noch einmal.
Ich nickte. Sagen konnte ich nichts.
»Ich sagte dir ja, es sieht komisch aus, das Gedankenlesen, aber es geht
ganz natürlich zu. Ich könnte dir zum Beispiel auch ziemlich genau sagen,
was du über mich gedacht hast, als ich einmal dir die Geschichte von Kain
und Abel erzählt hatte. Nun, das gehört nicht hierher. Ich halte es auch
für möglich, daß du einmal von mir geträumt hast. Lassen wir das aber! Du
bist ein gescheiter Junge, die meisten sind so dumm! Ich rede gern hie und
da mit einem gescheiten Jungen, zu dem ich Vertrauen habe. Es ist dir doch
recht?«
»O ja. Ich verstehe nur gar nicht --«
»Bleiben wir einmal bei dem lustigen Experiment! Wir haben also gefunden:
der Knabe S. ist schreckhaft -- er fürchtet jemanden -- er hat
wahrscheinlich mit diesem andern ein Geheimnis, das ihm sehr unbequem ist.
-- Stimmt das ungefähr?«
Wie im Traum unterlag ich seiner Stimme, seinem Einfluß. Ich nickte nur.
Sprach da nicht eine Stimme, die nur aus mir selber kommen konnte? Die
alles wußte? Die alles besser, klarer wußte als ich selber?
Kräftig schlug mir Demian auf die Schulter.
»Es stimmt also. Ich konnte mir's denken. Jetzt bloß noch eine einzige
Frage: weißt du, wie der Junge heißt, der da vorhin wegging?«
Ich erschrak heftig, mein angetastetes Geheimnis krümmte sich schmerzhaft
in mir zurück, es wollte nicht ans Licht.
»Was für ein Junge? Es war kein Junge da, bloß ich.«
Er lachte.
»Sag's nur!« lachte er. »Wie heißt er?«
Ich flüsterte: »Meinst du den Franz Kromer?«
Befriedigt nickte er mir zu.
»Bravo! Du bist ein fixer Kerl, wir werden noch Freunde werden. Nun muß ich
dir aber etwas sagen: dieser Kromer, oder wie er heißt, ist ein schlechter
Kerl. Sein Gesicht sagt mir, daß er ein Schuft ist! Was meinst du?«
»O ja,« seufzte ich auf, »er ist schlecht, er ist ein Satan! Aber er darf
nichts wissen! Um Gottes willen, er darf nichts wissen. Kennst du ihn?
Kennt er dich?«
»Sei nur ruhig! Er ist fort, und er kennt mich nicht -- noch nicht. Aber
ich möchte ihn ganz gern kennenlernen. Er geht in die Volksschule?«
»Ja.«
»In welche Klasse?«
»In die fünfte. -- Aber sag ihm nichts! Bitte, bitte sag ihm nichts!«
»Sei ruhig, es passiert dir nichts. -- Vermutlich hast du keine Lust, mir
ein wenig mehr von diesem Kromer zu erzählen?«
»Ich kann nicht! Nein, laß mich!«
Er schwieg eine Weile.
»Schade,« sagte er dann, »wir hätten das Experiment noch weiter führen
können. Aber ich will dich nicht plagen. Aber nicht wahr, das weißt du
doch, daß deine Furcht vor ihm nichts Richtiges ist? So eine Furcht macht
uns ganz kaputt, die muß man loswerden. Du mußt sie loswerden, wenn ein
rechter Kerl aus dir werden soll. Begreifst du?«
»Gewiß, du hast ganz recht . . . aber es geht nicht. Du weißt ja nicht
. . .«
»Du hast gesehen, daß ich manches weiß, mehr als du gedacht hättest. --
Bist du ihm etwa Geld schuldig?«
»Ja, das auch, aber das ist nicht die Hauptsache. Ich kann es nicht sagen,
ich kann nicht!«
»Es hilft also nichts, wenn ich dir soviel Geld gebe, wie du ihm schuldig
bist? -- Ich könnte es dir gut geben.«
»Nein, nein, das ist es nicht. Und ich bitte dich: sage niemand davon! Kein
Wort! Du machst mich unglücklich!«
»Verlaß dich auf mich, Sinclair. Eure Geheimnisse wirst du mir später
einmal mitteilen --«
»Nie, nie!« rief ich heftig.
»Ganz wie du willst. Ich meine nur, vielleicht wirst du mir später einmal
mehr sagen. Nur freiwillig, versteht sich. Du denkst doch nicht, ich werde
es machen wie der Kromer selber?«
»O nein -- aber du weißt ja gar nichts davon!«
»Gar nichts. Ich denke nur darüber nach. Und ich werde es nie so machen wie
Kromer es macht, das glaubst du mir. Du bist ja mir auch nichts schuldig.«
Wir schwiegen eine lange Zeit, und ich wurde ruhiger. Aber Demians Wissen
wurde mir immer rätselhafter.
»Ich geh jetzt nach Hause,« sagte er, und zog im Regen seinen Lodenmantel
fester zusammen. »Ich möchte dir nur eins nochmals sagen, weil wir schon so
weit sind -- du solltest diesen Kerl loswerden! Wenn es gar nicht anders
geht, dann schlage ihn tot! Es würde mir imponieren und gefallen, wenn du
es tätest. Ich würde dir auch helfen.«
Ich bekam von neuem Angst. Die Geschichte von Kain fiel mir plötzlich
wieder ein. Es wurde mir unheimlich, und ich begann sachte zu weinen. Zu
viel Unheimliches war um mich her.
»Nun gut,« lächelte Max Demian. »Geh nur nach Hause! Wir machen das schon.
Obwohl Totschlagen das Einfachste wäre. In solchen Dingen ist das
Einfachste immer das Beste. Du bist in keinen guten Händen bei deinem
Freund Kromer.«
Ich kam nach Hause, und mir schien, ich sei ein Jahr lang weg gewesen.
Alles sah anders aus. Zwischen mir und Kromer stand etwas wie Zukunft,
etwas wie Hoffnung. Ich war nicht mehr allein! Und erst jetzt sah ich, wie
schrecklich allein ich wochen- und wochenlang mit meinem Geheimnis gewesen
war. Und sofort fiel mir ein, was ich mehrmals durchgedacht hatte: daß eine
Beichte vor meinen Eltern mich erleichtern und mich doch nicht ganz erlösen
würde. Nun hatte ich beinahe gebeichtet, einem andern, einem Fremden, und
Erlösungsahnung flog mir wie ein starker Duft entgegen!
* * * * *
Immerhin war meine Angst noch lange nicht überwunden, und ich war noch auf
lange und furchtbare Auseinandersetzungen mit meinem Feinde gefaßt. Desto
merkwürdiger war es mir, daß alles so still, so völlig geheim und ruhig
verlief.
Kromers Pfiff vor unsrem Hause blieb aus, einen Tag, zwei Tage, drei Tage,
eine Woche lang. Ich wagte gar nicht, daran zu glauben, und lag innerlich
auf der Lauer, ob er nicht plötzlich, eben wenn man ihn gar nimmer
erwartete, doch wieder dastehen würde. Aber er war und blieb fort!
Mißtrauisch gegen die neue Freiheit, glaubte ich noch immer nicht recht
daran. Bis ich endlich einmal dem Franz Kromer begegnete. Er kam die
Seilergasse herab, gerade mir entgegen. Als er mich sah, zuckte er
zusammen, verzog das Gesicht zu einer wüsten Grimasse und kehrte ohne
weiteres um, um mir nicht begegnen zu müssen.
Das war für mich ein unerhörter Augenblick! Mein Feind lief vor mir davon!
Mein Satan hatte Angst vor mir! Mir fuhr die Freude und Überraschung durch
und durch.
In diesen Tagen zeigte sich Demian einmal wieder. Er wartete auf mich vor
der Schule.
»Grüß Gott,« sagte ich.
»Guten Morgen, Sinclair. Ich wollte nur einmal hören, wie dir's geht. Der
Kromer läßt dich doch jetzt in Ruhe, nicht?«
»Hast du das gemacht? Aber wie denn? Wie denn? Ich begreife es gar nicht.
Er ist ganz ausgeblieben.«
»Das ist gut. Wenn er je einmal wiederkommen sollte -- ich denke, er tut es
nicht, aber er ist ja ein frecher Kerl -- dann sage ihm bloß, er möge an
den Demian denken.«
»Aber wie hängt das zusammen? Hast du Händel mit ihm angefangen und ihn
verhauen?«
»Nein, das tue ich nicht so gern. Ich habe bloß mit ihm gesprochen, so wie
mit dir auch, und habe ihm dabei klar machen können, daß es sein eigener
Vorteil ist, wenn er dich in Ruhe läßt.«
»O, du wirst ihm doch kein Geld gegeben haben?«
»Nein, mein Junge. Diesen Weg hattest ja du schon probiert.«
Er machte sich los, so sehr ich ihn auszufragen versuchte, und ich blieb
mit dem alten beklommenen Gefühl gegen ihn zurück, das aus Dankbarkeit und
Scheu, aus Bewunderung und Angst, aus Zuneigung und innerem Widerstreben
seltsam gemischt war.
Ich nahm mir vor, ihn bald wiederzusehen, und dann wollte ich mehr mit ihm
über das alles reden, auch noch über die Kain-Sache.
Es kam nicht dazu.
Dankbarkeit ist überhaupt keine Tugend, an die ich Glauben habe, und sie
von einem Kinde zu verlangen, schiene mir falsch. So wundere ich mich über
meine eigene völlige Undankbarkeit nicht eben sehr, die ich gegen Max
Demian bewies. Ich glaube heute mit Bestimmtheit, daß ich fürs Leben krank
und verdorben worden wäre, wenn er mich nicht aus den Klauen Kromers
befreit hätte. Diese Befreiung fühlte ich auch damals schon als das größte
Erlebnis meines jungen Lebens -- aber den Befreier selbst ließ ich links
liegen, sobald er das Wunder vollführt hatte.
Merkwürdig ist die Undankbarkeit, wie gesagt, mir nicht. Sonderbar ist mir
einzig der Mangel an Neugierde, den ich bewies. Wie war es möglich, daß ich
einen einzigen Tag ruhig weiterleben konnte, ohne den Geheimnissen näher zu
kommen, mit denen mich Demian in Berührung gebracht hatte? Wie konnte ich
die Begierde zurückhalten, mehr über Kain zu hören, mehr über Kromer, mehr
über das Gedankenlesen?
Es ist kaum begreiflich, und ist doch so. Ich sah mich plötzlich aus
dämonischen Netzen entwirrt, sah wieder die Welt hell und freudig vor mir
liegen, unterlag nicht mehr Angstanfällen und würgendem Herzklopfen. Der
Bann war gebrochen, ich war nicht mehr ein gepeinigter Verdammter, ich war
wieder ein Schulknabe wie immer. Meine Natur suchte so rasch wie möglich
wieder in Gleichgewicht und Ruhe zu kommen, und so gab sie sich vor allem
Mühe, das viele Häßliche und Bedrohende von sich weg zu rücken, es zu
vergessen. Wunderbar schnell entglitt die ganze lange Geschichte meiner
Schuld und Verängstigung meinem Gedächtnis, ohne scheinbar irgendwelche
Narben und Eindrücke hinterlassen zu haben.
Daß ich hingegen meinen Helfer und Retter ebenso rasch zu vergessen suchte,
begreife ich heute auch. Aus dem Jammertal meiner Verdammung, aus der
furchtbaren Sklaverei bei Kromer floh ich mit allen Trieben und Kräften
meiner geschädigten Seele dahin zurück, wo ich früher glücklich und
zufrieden gewesen war: in das verlorene Paradies, das sich wieder öffnete,
in die helle Vater- und Mutterwelt, zu den Schwestern, zum Duft der
Reinheit, zur Gottgefälligkeit Abels.
Schon am Tage nach meinem kurzen Gespräch mit Demian, als ich von meiner
wiedergewonnenen Freiheit endlich völlig überzeugt war und keine Rückfälle
mehr fürchtete, tat ich das, was ich so oft und sehnlich mir gewünscht
hatte -- ich beichtete. Ich ging zu meiner Mutter, ich zeigte ihr das
Sparbüchslein, dessen Schloß beschädigt und das mit Spielmarken statt mit
Geld gefüllt war, und ich erzählte ihr, wie lange Zeit ich durch eigene
Schuld mich an einen bösen Quäler gefesselt hatte. Sie begriff nicht alles,
aber sie sah die Büchse, sie sah meinen veränderten Blick, hörte meine
veränderte Stimme, fühlte, daß ich genesen, daß ich ihr wiedergegeben war.
Und nun beging ich mit hohen Gefühlen das Fest meiner Wiederaufnahme, die
Heimkehr des verlorenen Sohnes. Die Mutter brachte mich zum Vater, die
Geschichte wurde wiederholt, Fragen und Ausrufe der Verwunderung drängten
sich, beide Eltern streichelten mir den Kopf und atmeten aus langer
Bedrückung auf. Alles war herrlich, alles war wie in den Erzählungen, alles
löste sich in wunderbare Harmonie auf.
In diese Harmonie floh ich nun mit wahrer Leidenschaft. Ich konnte mich
nicht genug daran ersättigen, daß ich wieder meinen Frieden und das
Vertrauen der Eltern hatte, ich wurde ein häuslicher Musterknabe, spielte
mehr als jemals mit meinen Schwestern und sang bei den Andachten die
lieben, alten Lieder mit wonnevollen Gefühlen des Erlösten und Bekehrten
mit. Es geschah von Herzen, es war keine Lüge dabei.
Dennoch war es so gar nicht in Ordnung! Und hier ist der Punkt, aus dem
sich mir meine Vergeßlichkeit gegen Demian allein wahrhaft erklärt. Ihm
hätte ich beichten sollen! Die Beichte wäre weniger dekorativ und rührend,
aber für mich fruchtbarer ausgefallen. Nun klammerte ich mich mit allen
Wurzeln an meine ehemalige, paradiesische Welt, war heimgekehrt und in
Gnaden aufgenommen. Demian aber gehörte zu dieser Welt keineswegs, paßte
nicht in sie. Auch er war, anders als Kromer, aber doch eben -- auch er war
ein Verführer, auch er verband mich mit der zweiten, der bösen, schlechten
Welt, und von der wollte ich nun für immer nichts mehr wissen. Ich konnte
und wollte jetzt nicht Abel preisgeben und Kain verherrlichen helfen,
jetzt, wo ich eben selbst wieder ein Abel geworden war.
So der äußere Zusammenhang. Der innere aber war dieser: Ich war aus Kromers
und des Teufels Händen erlöst, aber nicht durch meine eigene Kraft und
Leistung. Ich hatte versucht, auf den Pfaden der Welt zu wandeln, und sie
waren für mich zu schlüpfrig gewesen. Nun, da der Griff einer freundlichen
Hand mich gerettet hatte, lief ich, ohne einen Blick mehr nebenaus zu tun,
in den Schoß der Mutter und die Geborgenheit einer umhegten, frommen,
milden Kindlichkeit zurück. Ich machte mich jünger, abhängiger, kindlicher
als ich war. Ich mußte die Abhängigkeit von Kromer durch eine neue
ersetzen, denn allein zu gehen vermochte ich nicht. So wählte ich, in
meinem blinden Herzen, die Abhängigkeit von Vater und Mutter, von der
alten, geliebten »lichten Welt,« von der ich doch schon wußte, daß sie
nicht die einzige war. Hätte ich das nicht getan, so hätte ich mich zu
Demian halten und mich ihm anvertrauen müssen. Daß ich das nicht tat, das
erschien mir damals als berechtigtes Mißtrauen gegen seine befremdlichen
Gedanken; in Wahrheit war es nichts als Angst. Denn Demian hätte mehr von
mir verlangt als die Eltern verlangten, viel mehr, er hätte mich mit
Antrieb und Ermahnung, mit Spott und Ironie selbständiger zu machen
versucht. Ach, das weiß ich heute: Nichts auf der Welt ist dem Menschen
mehr zuwider als den Weg zu gehen, der ihn zu sich selber führt!
Dennoch konnte ich, etwa ein halbes Jahr später, der Versuchung nicht
widerstehen, und fragte auf einem Spaziergang meinen Vater, was davon zu
halten sei, daß manche Leute den Kain für besser als den Abel erklärten.
Er war sehr verwundert und erklärte mir, daß dies eine Auffassung sei,
welche der Neuheit entbehre. Sie sei sogar schon in der urchristlichen Zeit
aufgetaucht und sei in Sekten gelehrt worden, deren eine sich die
»Kainiten« nannte. Aber natürlich sei diese tolle Lehre nichts anderes als
ein Versuch des Teufels, unsern Glauben zu zerstören. Denn glaube man an
das Recht Kains und das Unrecht Abels, dann ergebe sich daraus die Folge,
daß Gott sich geirrt habe, daß also der Gott der Bibel nicht der richtige
und einzige, sondern ein falscher sei. Wirklich hätten die Kainiten auch
Ähnliches gelehrt und gepredigt; doch sei diese Ketzerei seit langem aus
der Menschheit verschwunden und er wundere sich nur, daß ein Schulkamerad
von mir etwas davon erfahren habe können. Immerhin ermahne er mich
ernstlich, diese Gedanken zu unterlassen.


Drittes Kapitel
Der Schächer

Es wäre Schönes, Zartes und Liebenswertes zu erzählen von meiner Kindheit,
von meinem Geborgensein bei Vater und Mutter, von Kindesliebe und genügsam
spielerischem Hinleben in sanften, lieben, lichten Umgebungen. Andre haben
davon genugsam gesprochen. Mich interessieren nur die Schritte, die ich in
meinem Leben tat, um zu mir selbst zu gelangen. Alle die hübschen
Ruhepunkte, Glücksinseln und Paradiese, deren Zauber mir nicht unbekannt
blieb, lasse ich im Glanz der Ferne liegen und begehre nicht sie nochmals
zu betreten.
Darum spreche ich, soweit ich noch bei meiner Knabenzeit verweile, nur von
dem, was Neues mir zukam, was mich vorwärts trieb, mich losriß.
Immer kamen diese Anstöße von der »anderen Welt,« immer brachten sie Angst,
Zwang und böses Gewissen mit sich, immer waren sie revolutionär und
gefährdeten den Frieden, in dem ich gern wohnen geblieben wäre.
Es kamen die Jahre, in welchen ich aufs neue entdecken mußte, daß in mir
selbst ein Urtrieb lebte, der in der erlaubten und lichten Welt sich
verkriechen und verstecken mußte. Wie jeden Menschen, so fiel auch mich das
langsam erwachende Gefühl des Geschlechts als ein Feind und Zerstörer an,
als Verbotenes, als Verführung und Sünde. Was meine Neugierde suchte, was
mir Träume, Lust und Angst schuf, das große Geheimnis der Pubertät, das
paßte gar nicht in die umhegte Glückseligkeit meines Kinderfriedens. Ich
tat wie alle. Ich führte das Doppelleben des Kindes, das doch kein Kind
mehr ist. Mein Bewußtsein lebte im Heimischen und Erlaubten, mein
Bewußtsein leugnete die empordämmernde neue Welt. Daneben aber lebte ich in
Träumen, Trieben, Wünschen von unterirdischer Art, über welchen jenes
bewußte Leben sich immer ängstlichere Brücken baute, denn die Kinderwelt in
mir fiel zusammen. Wie fast alle Eltern, so halfen auch die meinen nicht
den erwachenden Lebenstrieben, von denen nicht gesprochen ward. Sie halfen
nur, mit unerschöpflicher Sorgfalt, meinen hoffnungslosen Versuchen, das
Wirkliche zu leugnen und in einer Kindeswelt weiter zu hausen, die immer
unwirklicher und verlogener ward. Ich weiß nicht, ob Eltern hierin viel tun
können, und mache den meinen keinen Vorwurf. Es war meine eigene Sache, mit
mir fertig zu werden und meinen Weg zu finden, und ich tat meine Sache
schlecht, wie die meisten Wohlerzogenen.
Jeder Mensch durchlebt diese Schwierigkeit. Für den Durchschnittlichen ist
dies der Punkt im Leben, wo die Forderung des eigenen Lebens am härtesten
mit der Umwelt in Streit gerät, wo der Weg nach vorwärts am bittersten
erkämpft werden muß. Viele erleben das Sterben und Neugeborenwerden, das
unser Schicksal ist, nur dies eine Mal im Leben, beim Morschwerden und
langsamen Zusammenbrechen der Kindheit, wenn alles Liebgewordene uns
verlassen will und wir plötzlich die Einsamkeit und tödliche Kälte des
Weltraums um uns fühlen. Und sehr viele bleiben für immer an dieser Klippe
hängen und kleben ihr Leben lang schmerzlich am unwiederbringlich
Vergangenen, am Traum vom verlorenen Paradies, der der schlimmste und
mörderischeste aller Träume ist.
Wenden wir uns zur Geschichte zurück. Die Empfindungen und Traumbilder, in
denen sich mir das Ende der Kindheit meldete, sind nicht wichtig genug, um
erzählt zu werden. Das Wichtige war: die »dunkle Welt,« die »andere Welt«
war wieder da. Was einst Franz Kromer gewesen war, das stak nun in mir
selber. Und damit gewann auch von außen her die »andere Welt« wieder Macht
über mich.
Es waren seit der Geschichte mit Kromer mehrere Jahre vergangen. Jene
dramatische und schuldvolle Zeit meines Lebens lag damals mir sehr fern und
schien wie ein kurzer Alptraum in nichts vergangen. Franz Kromer war längst
aus meinem Leben verschwunden, kaum daß ich es achtete, wenn er mir je
einmal begegnete. Die andere wichtige Figur meiner Tragödie aber, Max
Demian, verschwand nicht mehr ganz aus meinem Umkreis. Doch stand er lange
Zeit fern am Rande, sichtbar, doch nicht wirksam. Erst allmählich trat er
wieder näher, strahlte wieder Kräfte und Einflüsse aus.
Ich suche mich zu besinnen, was ich aus jener Zeit von Demian weiß. Es mag
sein, daß ich ein Jahr oder länger kein einziges Mal mit ihm gesprochen
habe. Ich mied ihn, und er drängte sich keineswegs auf. Etwa einmal, wenn
wir uns begegneten, nickte er mir einen freundlichen Gruß zu. Mir schien es
dann zuweilen, es sei in seiner Freundlichkeit ein feiner Klang von Hohn
oder ironischem Vorwurf, doch mag das Einbildung gewesen sein. Die
Geschichte, die ich mit ihm erlebt hatte, und der seltsame Einfluß, den er
damals auf mich geübt, waren wie vergessen, von ihm wie von mir.
Ich suche nach seiner Figur, und nun, da ich mich auf ihn besinne, sehe
ich, daß er doch da war und von mir bemerkt wurde. Ich sehe ihn zur Schule
gehen, allein oder zwischen andern von den größeren Schülern, und ich sehe
ihn fremdartig, einsam und still, wie gestirnhaft zwischen ihnen wandeln,
von einer eigenen Luft umgeben, unter eigenen Gesetzen lebend. Niemand
liebte ihn, niemand war mit ihm vertraut, nur seine Mutter, und auch mit
ihr schien er nicht wie ein Kind, sondern wie ein Erwachsener zu verkehren.
Die Lehrer ließen ihn möglichst in Ruhe, er war ein guter Schüler, aber er
suchte keinem zu gefallen, und je und je vernahmen wir gerüchtweise von
irgendeinem Wort, einer Glosse oder Gegenrede, die er einem Lehrer sollte
gegeben haben und die an schroffer Herausforderung oder an Ironie nichts zu
wünschen übrig ließ.
Ich besinne mich, mit geschlossenen Augen, und ich sehe sein Bild
auftauchen. Wo war das? Ja, nun ist es wieder da. Es war auf der Gasse vor
unserem Hause. Da sah ich ihn eines Tages stehen, ein Notizbuch in der
Hand, und sah ihn zeichnen. Er zeichnete das alte Wappenbild mit dem Vogel
über unsrer Haustüre ab. Und ich stand an einem Fenster, hinterm Vorhang
verborgen, und schaute ihm zu, und sah mit tiefer Verwunderung sein
aufmerksames, kühles, helles Gesicht dem Wappen zugewendet, das Gesicht
eines Mannes, eines Forschers oder Künstlers, überlegen und voll von
Willen, sonderbar hell und kühl, mit wissenden Augen.
Und wieder sehe ich ihn. Es war wenig später, auf der Straße; wir standen
alle, von der Schule kommend, um ein Pferd, das gestürzt war. Es lag, noch
an die Deichsel geschirrt, vor einem Bauernwagen, schnob suchend und
kläglich mit geöffneten Nüstern in die Luft und blutete aus einer
unsichtbaren Wunde, so daß zu seiner Seite der weiße Straßenstaub sich
langsam dunkel vollsog. Als ich, mit einem Gefühl von Übelkeit, mich von
dem Anblick wegwandte, sah ich Demians Gesicht. Er hatte sich nicht
vorgedrängt, er stand zuhinterst, bequem und ziemlich elegant, wie es zu
ihm gehörte. Sein Blick schien auf den Kopf des Pferdes gerichtet, und
hatte wieder diese tiefe, stille, beinah fanatische und doch
leidenschaftslose Aufmerksamkeit. Ich mußte ihn lang ansehen, und damals
fühlte ich, noch fern vom Bewußtsein, etwas sehr Eigentümliches. Ich sah
Demians Gesicht, und ich sah nicht nur, daß er kein Knabengesicht hatte,
sondern das eines Mannes; ich sah noch mehr, ich glaubte zu sehen, oder zu
spüren, daß es auch nicht das Gesicht eines Mannes sei, sondern noch etwas
anderes. Es war, als sei auch etwas von einem Frauengesicht darin, und
namentlich schien dies Gesicht mir, für einen Augenblick, nicht männlich
oder kindlich, nicht alt oder jung, sondern irgendwie tausendjährig,
irgendwie zeitlos, von anderen Zeitläuften gestempelt als wir sie leben.
Tiere konnten so aussehen, oder Bäume, oder Sterne -- ich wußte das nicht,
ich empfand nicht genau das, was ich jetzt als Erwachsener darüber sage,
aber etwas Ähnliches. Vielleicht war er schön, vielleicht gefiel er mir,
vielleicht war er mir auch zuwider, auch das war nicht zu entscheiden. Ich
sah nur: er war anders als wir, er war wie ein Tier, oder wie ein Geist,
oder wie ein Bild, ich weiß nicht, wie er war, aber er war anders,
unausdenkbar anders als wir alle.
Mehr sagt die Erinnerung mir nicht, und vielleicht ist auch dies zum Teil
schon aus späteren Eindrücken geschöpft.
Erst als ich mehrere Jahre älter war, kam ich endlich wieder mit ihm in
nähere Berührung. Demian war nicht, wie die Sitte es gefordert hätte, mit
seinem Jahrgang in der Kirche konfirmiert worden, und auch daran hatten
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