Demian: Die Geschichte von Emil Sinclairs Jugend - 02

Total number of words is 4666
Total number of unique words is 1367
47.5 of words are in the 2000 most common words
61.1 of words are in the 5000 most common words
66.3 of words are in the 8000 most common words
Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.

Im Bett, als ich eine Weile gelegen war, als Wärme und Geborgenheit mich
liebevoll umgab, irrte mein Herz in der Angst noch einmal zurück, flatterte
bang um das Vergangene. Meine Mutter hatte mir wie immer gute Nacht gesagt,
ihr Schritt klang noch im Zimmer nach, der Schein ihrer Kerze glühte noch
im Türspalt. Jetzt, dachte ich, jetzt kommt sie noch einmal zurück -- sie
hat es gefühlt, sie gibt mir einen Kuß und fragt, fragt gütig und
verheißungsvoll, und dann kann ich weinen, dann schmilzt mir der Stein im
Halse, dann umschlinge ich sie und sage es ihr, und dann ist es gut, dann
ist Rettung da! Und als der Türspalt schon dunkel geworden war, horchte ich
noch eine Weile und meinte, es müsse und müsse geschehen.
Dann kehrte ich zu den Dingen zurück und sah meinem Feind ins Auge. Ich sah
ihn deutlich, das eine Auge hatte er eingekniffen, sein Mund lachte roh,
und indem ich ihn ansah und das Unentrinnbare in mich fraß, wurde er größer
und häßlicher, und sein böses Auge blitzte teufelhaft. Er war dicht bei
mir, bis ich einschlief, dann aber träumte ich nicht von ihm und nicht von
heute, sondern mir träumte, wir führen in einem Boot, die Eltern und
Schwestern und ich, und es umgab uns lauter Friede und Glanz eines
Ferientages. Mitten in der Nacht erwachte ich, fühlte noch den
Nachgeschmack der Seligkeit, sah noch die weißen Sommerkleider meiner
Schwestern in der Sonne schimmern und fiel aus allem Paradies zurück in
das, was war, und stand dem Feind mit dem bösen Auge wieder gegenüber.
Am Morgen, als meine Mutter eilig kam und rief, es sei schon spät und warum
ich noch im Bett liege, sah ich schlecht aus, und als sie fragte, ob mir
etwas fehle, erbrach ich mich.
Damit schien etwas gewonnen. Ich liebte es sehr, ein wenig krank zu sein
und einen Morgen lang bei Kamillentee liegenbleiben zu dürfen, zuzuhören,
wie die Mutter im Nebenzimmer aufräumte, und wie Lina draußen in der Flur
den Metzger empfing. Der Vormittag ohne Schule war etwas Verzaubertes und
Märchenhaftes, die Sonne spielte dann ins Zimmer, und war nicht dieselbe
Sonne, gegen die man in der Schule die grünen Vorhänge herabließ. Aber auch
das schmeckte heute nicht und hatte einen falschen Klang bekommen.
Ja wenn ich gestorben wäre! Aber ich war nur so ein wenig unwohl, wie schon
oft, und damit war nichts getan. Das schützte mich vor der Schule, aber es
schützte mich keineswegs vor Kromer, der um elf Uhr am Markt auf mich
wartete. Und die Freundlichkeit der Mutter war diesmal ohne Trost; sie war
lästig und tat weh. Ich stellte mich bald wieder schlafend und dachte nach.
Es half alles nichts, ich mußte um elf Uhr am Markt sein. Darum stand ich
um zehn Uhr leise auf und sagte, daß mir wieder wohl geworden sei. Es hieß,
wie gewöhnlich in solchen Fällen, daß ich entweder wieder zu Bette gehen
oder am Nachmittag in die Schule gehen müsse. Ich sagte, daß ich gern zur
Schule gehe. Ich hatte mir einen Plan gemacht.
Ohne Geld durfte ich nicht zu Kromer kommen. Ich mußte die kleine
Sparbüchse an mich bekommen, die mir gehörte. Es war nicht genug Geld
darin, das wußte ich, lange nicht genug; aber etwas war es doch, und eine
Witterung sagte mir, daß etwas besser sei als nichts und Kromer wenigstens
begütigt werden müsse.
Es war mir schlimm zumute, als ich auf Socken in das Zimmer meiner Mutter
schlich und aus ihrem Schreibtisch meine Büchse nahm; aber so schlimm wie
das Gestrige war es nicht. Das Herzklopfen würgte mich, und es wurde nicht
besser, als ich drunten im Treppenhaus beim ersten Untersuchen fand, daß
die Büchse verschlossen war. Es ging sehr leicht, sie aufzubrechen, es war
nur ein dünnes Blechgitter zu durchreißen; aber der Riß tat weh, erst damit
hatte ich Diebstahl begangen. Bis dahin hatte ich nur genascht,
Zuckerstücke und Obst. Dies nun war gestohlen, obwohl es mein eigenes Geld
war. Ich spürte, wie ich wieder einen Schritt näher bei Kromer und seiner
Welt war, wie es so hübsch Zug um Zug abwärts ging, und setzte Trotz
dagegen. Mochte mich der Teufel holen, jetzt ging kein Weg mehr zurück. Ich
zählte das Geld mit Angst, es hatte in der Büchse so voll geklungen, nun in
der Hand war es elend wenig. Es waren fünfundsechzig Pfennige. Ich
versteckte die Büchse in der untern Flur, hielt das Geld in der
geschlossenen Hand und trat aus dem Hause, anders als ich je durch dieses
Tor gegangen war. Oben rief jemand nach mir, wie mir schien; ich ging
schnell davon.
Es war noch viel Zeit, ich drückte mich auf Umwegen durch die Gassen einer
veränderten Stadt, unter niegesehenen Wolken hin, an Häusern vorbei, die
mich ansahen, und an Menschen, die Verdacht auf mich hatten. Unterwegs fiel
mir ein, daß ein Schulkamerad von mir einmal auf dem Viehmarkt einen Taler
gefunden hatte. Gern hätte ich gebetet, daß Gott ein Wunder tun und mich
auch einen solchen Fund machen lassen möge. Aber ich hatte kein Recht mehr
zu beten. Und auch dann wäre die Büchse nicht wieder ganz geworden.
Franz Kromer sah mich von weitem, doch kam er ganz langsam auf mich zu und
schien nicht auf mich zu achten. Als er in meiner Nähe war, gab er mir
einen befehlenden Wink, daß ich ihm folgen solle, und ging, ohne sich ein
einzigesmal umzusehen, ruhig weiter, die Strohgasse hinab und über den
Steg, bis er bei den letzten Häusern vor einem Neubau hielt. Es wurde dort
nicht gearbeitet, die Mauern standen kahl ohne Türen und Fenster. Kromer
sah sich um und ging durch die Tür hinein, ich ihm nach. Er trat hinter die
Mauer, winkte mich zu sich und streckte die Hand aus.
»Hast du's?« fragte er kühl.
Ich zog die geballte Hand aus der Tasche und schüttete mein Geld in seine
flache Hand. Er hatte es gezählt, noch eh der letzte Fünfer ausgeklungen
hatte.
»Das sind fünfundsechzig Pfennig,« sagte er und sah mich an.
»Ja,« sagte ich schüchtern. »Das ist alles, was ich habe, es ist zu wenig,
ich weiß wohl. Aber es ist alles. Ich habe nicht mehr.«
»Ich hätte dich für gescheiter gehalten,« schalt er mit einem beinah milden
Tadel. »Unter Ehrenmännern soll Ordnung sein. Ich will dir nichts abnehmen,
was nicht recht ist, das weißt du. Nimm deine Nickel wieder, da! Der andere
-- du weißt, wer -- versucht nicht, mich herunter zu handeln. Der zahlt.«
»Aber ich habe und habe nicht mehr! Es war meine Sparkasse.«
»Das ist deine Sache. Aber ich will dich nicht unglücklich machen. Du bist
mir noch eine Mark und fünfunddreißig Pfennig schuldig. Wann krieg' ich
die?«
»O, du kriegst sie gewiß, Kromer! Ich weiß jetzt nicht -- vielleicht habe
ich bald mehr, morgen, oder übermorgen. Du begreifst doch, daß ich es
meinem Vater nicht sagen kann.«
»Das geht mich nichts an. Ich bin nicht so, daß ich dir schaden will. Ich
könnte ja mein Geld noch vor Mittag haben, siehst du, und ich bin arm. Du
hast schöne Kleider an, und du kriegst was Besseres zu Mittag zu essen als
ich. Aber ich will nichts sagen. Ich will meinetwegen ein wenig warten.
Übermorgen pfeife ich dir, am Nachmittag, dann bringst du es in Ordnung. Du
kennst meinen Pfiff?«
Er pfiff ihn mir vor, ich hatte ihn oft gehört.
»Ja,« sagte ich, »ich weiß.«
Er ging weg, als gehörte ich nicht zu ihm. Es war ein Geschäft zwischen uns
gewesen, weiter nichts.
* * * * *
Noch heute, glaube ich, würde Kromers Pfiff mich erschrecken machen, wenn
ich ihn plötzlich wieder hörte. Ich hörte ihn von nun an oft, mir schien,
ich höre ihn immer und immerzu. Kein Ort, kein Spiel, keine Arbeit, kein
Gedanke, wohin dieser Pfiff nicht drang, der mich abhängig machte, der
jetzt mein Schicksal war. Oft war ich in unsrem kleinen Blumengarten, den
ich sehr liebte, an den sanften farbigen Herbstnachmittagen, und ein
sonderbarer Trieb hieß mich, Knabenspiele früherer Epochen wieder
aufzunehmen; ich spielte gewissermaßen einen Knaben, der jünger war als
ich, der noch gut und frei, unschuldig und geborgen war. Aber mitten
hinein, immer erwartet und immer doch entsetzlich aufstörend und
überraschend, klang der Kromersche Pfiff von irgendwoher, schnitt den Faden
ab, zerstörte die Einbildungen. Dann mußte ich gehen, mußte meinem Peiniger
an schlechte und häßliche Orte folgen, mußte ihm Rechenschaft ablegen und
mich um Geld mahnen lassen. Das Ganze hat vielleicht einige Wochen
gedauert, mir schien es aber, es seien Jahre, es sei eine Ewigkeit. Selten
hatte ich Geld, einen Fünfer oder einen Groschen, der vom Küchentisch
gestohlen war, wenn Lina den Marktkorb dort stehen ließ. Jedesmal wurde ich
von Kromer gescholten und mit Verachtung überhäuft; ich war es, der ihn
betrügen und ihm sein gutes Recht vorenthalten wollte, ich war es, der ihn
bestahl, ich war es, der ihn unglücklich machte! Nicht oft im Leben ist mir
die Not so nah ans Herz gestiegen, selten habe ich größere
Hoffnungslosigkeit, größere Abhängigkeit gefühlt.
Die Sparbüchse hatte ich mit Spielmarken gefüllt und wieder an ihren Ort
gestellt, niemand fragte danach. Aber auch das konnte jeden Tag über mich
hereinbrechen. Noch mehr als vor Kromers rohem Pfiff fürchtete ich mich oft
vor der Mutter, wenn sie leise zu mir trat -- kam sie nicht, um mich nach
der Büchse zu fragen?
Da ich viele Male ohne Geld bei meinem Teufel erschienen war, fing er an,
mich auf andere Art zu quälen und zu benutzen. Ich mußte für ihn arbeiten.
Er hatte für seinen Vater Ausgänge zu besorgen, ich mußte sie für ihn
besorgen. Oder er trug mir auf, etwas Schwieriges zu vollführen, zehn
Minuten lang auf einem Bein zu hüpfen, einem Vorübergehenden einen
Papierwisch an den Rock zu heften. In Träumen vieler Nächte setzte ich
diese Plagen fort und lag im Schweiß des Alpdruckes.
Eine Zeitlang wurde ich krank. Ich erbrach oft und hatte leicht kalt,
nachts aber lag ich in Schweiß und Hitze. Meine Mutter fühlte, daß etwas
nicht richtig sei, und zeigte mir viel Teilnahme, die mich quälte, weil ich
sie nicht mit Vertrauen erwidern konnte.
Einmal brachte sie mir am Abend, als ich schon im Bett war, ein Stückchen
Schokolade. Es war ein Anklang an frühere Jahre, wo ich abends, wenn ich
brav gewesen war, oft zum Einschlafen solche Trostbissen bekommen hatte.
Nun stand sie da und hielt mir das Stückchen Schokolade hin. Mir war so
weh, daß ich nur den Kopf schütteln konnte. Sie fragte, was mir fehle, sie
streichelte mir das Haar. Ich konnte nur herausstoßen: »Nicht! Nicht! Ich
will nichts haben.« Sie legte die Schokolade auf den Nachttisch und ging.
Als sie mich andern Tages darüber ausfragen wollte, tat ich, als wüßte ich
nichts mehr davon. Einmal brachte sie mir den Doktor, der mich untersuchte
und mir kalte Waschungen am Morgen verschrieb.
Mein Zustand zu jener Zeit war eine Art von Irrsinn. Mitten im geordneten
Frieden unseres Hauses lebte ich scheu und gepeinigt wie ein Gespenst,
hatte nicht teil am Leben der andern, vergaß mich selten für eine Stunde.
Gegen meinen Vater, der mich oft gereizt zur Rede stellte, war ich
verschlossen und kalt.


Zweites Kapitel
Kain

Die Rettung aus meinen Qualen kam von ganz unerwarteter Seite, und zugleich
mit ihr kam etwas Neues in mein Leben, das bis heute fort gewirkt hat.
In unsere Lateinschule war vor kurzem ein neuer Schüler eingetreten. Er war
der Sohn einer wohlhabenden Witwe, die in unsere Stadt gezogen war, und er
trug einen Trauerflor um den Ärmel. Er ging in eine höhere Klasse als ich
und war mehrere Jahre älter, aber auch mir fiel er bald auf, wie allen.
Dieser merkwürdige Schüler schien viel älter zu sein als er aussah, auf
niemanden machte er den Eindruck eines Knaben. Zwischen uns kindischen
Jungen bewegte er sich fremd und fertig wie ein Mann, vielmehr wie ein
Herr. Beliebt war er nicht, er nahm nicht an den Spielen, noch weniger an
Raufereien teil, nur sein selbstbewußter und entschiedener Ton gegen die
Lehrer gefiel den andern. Er hieß Max Demian.
Eines Tages traf es sich, wie es in unsrer Schule hie und da vorkam, daß
aus irgendwelchen Gründen noch eine zweite Klasse in unser sehr großes
Schulzimmer gesetzt wurde. Es war die Klasse Demians. Wir Kleinen hatten
biblische Geschichte, die Großen mußten einen Aufsatz machen. Während man
uns die Geschichte von Kain und Abel einbläute, sah ich viel zu Demian
hinüber, dessen Gesicht mich eigentümlich faszinierte, und sah dies kluge,
helle, ungemein feste Gesicht aufmerksam und geistvoll über seine Arbeit
gebeugt; er sah gar nicht aus wie ein Schüler, der eine Aufgabe macht,
sondern wie ein Forscher, der eigenen Problemen nachgeht. Angenehm war er
mir eigentlich nicht, im Gegenteil, ich hatte irgend etwas gegen ihn, er
war mir zu überlegen und kühl, er war mir allzu herausfordernd sicher in
seinem Wesen, und seine Augen hatten den Ausdruck der Erwachsenen -- den
die Kinder nie lieben -- ein wenig traurig mit Blitzen von Spott darin.
Doch mußte ich ihn immerfort ansehen, er mochte mir lieb oder leid sein;
kaum aber blickte er einmal auf mich, so zog ich meinen Blick erschrocken
zurück. Wenn ich es mir heute überlege, wie er damals als Schüler aussah,
so kann ich sagen: er war in jeder Hinsicht anders als alle, war durchaus
eigen und persönlich gestempelt, und fiel darum auf -- zugleich aber tat er
alles, um nicht aufzufallen, trug und benahm sich wie ein verkleideter
Prinz, der unter Bauernbuben ist und sich jede Mühe gibt, ihresgleichen zu
scheinen.
Auf dem Heimweg von der Schule ging er hinter mir. Als die anderen sich
verlaufen hatten, überholte er mich und grüßte. Auch dies Grüßen, obwohl er
unsern Schuljungenton dabei nachmachte, war so erwachsen und höflich.
»Gehen wir ein Stück weit zusammen?« fragte er freundlich. Ich war
geschmeichelt und nickte. Dann beschrieb ich ihm, wo ich wohne.
»Ah, dort?« sagte er lächelnd. »Das Haus kenne ich schon. Über eurer
Haustür ist so ein merkwürdiges Ding angebracht, das hat mich gleich
interessiert.«
Ich wußte gar nicht gleich, was er meine, und war erstaunt, daß er unser
Haus besser zu kennen schien als ich. Es war wohl als Schlußstein über der
Torwölbung eine Art Wappen vorhanden, doch war es im Lauf der Zeiten flach
und oftmals mit Farbe überstrichen worden, mit uns und unsrer Familie hatte
es, soviel ich wußte, nichts zu tun.
»Ich weiß nichts darüber,« sagte ich schüchtern. »Es ist ein Vogel oder so
was Ähnliches, es muß ganz alt sein. Das Haus soll früher einmal zum
Kloster gehört haben.«
»Das kann schon sein,« nickte er. »Sieh dir's einmal gut an! Solche Sachen
sind oft ganz interessant. Ich glaube, daß es ein Sperber ist.«
Wir gingen weiter, ich war sehr befangen. Plötzlich lachte Demian, als
falle ihm etwas Lustiges ein.
»Ja, ich habe ja da eurer Stunde beigewohnt,« sagte er lebhaft. »Die
Geschichte von Kain, der das Zeichen auf der Stirn trug, nicht wahr?
Gefällt sie dir?«
Nein, gefallen hatte mir selten irgend etwas von all dem, was wir lernen
mußten. Ich wagte es aber nicht zu sagen, es war, als rede ein Erwachsener
mit mir. Ich sagte, die Geschichte gefalle mir ganz gut.
Demian klopfte mir auf die Schulter.
»Du brauchst mir nichts vorzumachen, Lieber. Aber die Geschichte ist
tatsächlich recht merkwürdig, ich glaube, sie ist viel merkwürdiger als die
meisten andern, die im Unterricht vorkommen. Der Lehrer hat ja nicht viel
darüber gesagt, nur so das Übliche über Gott und die Sünde und so weiter.
Aber ich glaube --« er unterbrach sich, lächelte und fragte: »Interessiert
es dich aber?«
»Ja, ich glaube also,« fuhr er fort, »man kann diese Geschichte von Kain
auch ganz anders auffassen. Die meisten Sachen, die man uns lehrt, sind
gewiß ganz wahr und richtig, aber man kann sie alle auch anders ansehen,
als die Lehrer es tun, und meistens haben sie dann einen viel besseren
Sinn. Mit diesem Kain zum Beispiel und mit dem Zeichen auf seiner Stirn
kann man doch nicht recht zufrieden sein, so wie er uns erklärt wird.
Findest du nicht auch? Daß einer seinen Bruder im Streit totschlägt, kann
ja gewiß passieren, und daß er nachher Angst kriegt und klein beigibt, ist
auch möglich. Daß er aber für seine Feigheit extra mit einem Orden
ausgezeichnet wird, der ihn schützt und allen andern Angst einjagt, ist
doch recht sonderbar.«
»Freilich,« sagte ich interessiert: die Sache begann mich zu fesseln. »Aber
wie soll man die Geschichte anders erklären?«
Er schlug mir auf die Schulter.
»Ganz einfach! Das, was vorhanden war und womit die Geschichte ihren Anfang
genommen hat, war das Zeichen. Es war da ein Mann, der hatte etwas im
Gesicht, was den andern Angst machte. Sie wagten nicht ihn anzurühren, er
imponierte ihnen, er und seine Kinder. Vielleicht, oder sicher, war es aber
nicht wirklich ein Zeichen auf der Stirn, so wie ein Poststempel, so grob
geht es im Leben selten zu. Viel eher war es etwas kaum wahrnehmbares
Unheimliches, ein wenig mehr Geist und Kühnheit im Blick, als die Leute
gewohnt waren. Dieser Mann hatte Macht, vor diesem Mann scheute man sich.
Er hatte ein >Zeichen<. Man konnte das erklären, wie man wollte. Und >man<
will immer das, was einem bequem ist und recht gibt. Man hatte Furcht vor
den Kainskindern, sie hatten ein >Zeichen<. Also erklärte man das Zeichen
nicht als das, was es war, als eine Auszeichnung, sondern als das
Gegenteil. Man sagte, die Kerls mit diesem Zeichen seien unheimlich, und
das waren sie auch. Leute mit Mut und Charakter sind den anderen Leuten
immer sehr unheimlich. Daß da ein Geschlecht von Furchtlosen und
Unheimlichen herumlief, war sehr unbequem, und nun hängte man diesem
Geschlecht einen Übernamen und eine Fabel an, um sich an ihm zu rächen, um
sich für alle die ausgestandne Furcht ein bißchen schadlos zu halten. --
Begreifst du?«
»Ja -- das heißt -- dann wäre ja Kain also gar nicht böse gewesen? Und die
ganze Geschichte in der Bibel wäre eigentlich gar nicht wahr?«
»Ja und nein. So alte, uralte Geschichten sind immer wahr, aber sie sind
nicht immer so aufgezeichnet und werden nicht immer so erklärt, wie es
richtig wäre. Kurz, ich meine, der Kain war ein famoser Kerl, und bloß,
weil man Angst vor ihm hatte, hängte man ihm diese Geschichte an. Die
Geschichte war einfach ein Gerücht, so etwas, was die Leute herumschwätzen,
und es war insofern ganz wahr, als Kain und seine Kinder ja wirklich eine
Art >Zeichen< trugen und anders waren als die meisten Leute.«
Ich war sehr erstaunt.
»Und dann glaubst du, daß auch das mit dem Totschlag gar nicht wahr ist?«
fragte ich ergriffen.
»O doch! Sicher ist das wahr. Der Starke hatte einen Schwachen erschlagen.
Ob es wirklich sein Bruder war, daran kann man ja zweifeln. Es ist nicht
wichtig, schließlich sind alle Menschen Brüder. Also ein Starker hat einen
Schwachen totgeschlagen. Vielleicht war es eine Heldentat, vielleicht auch
nicht. Jedenfalls aber waren die andern Schwachen jetzt voller Angst, sie
beklagten sich sehr, und wenn man sie fragte: >Warum schlaget ihr ihn nicht
einfach auch tot?< dann sagten sie nicht: >Weil wir Feiglinge sind,<
sondern sie sagten: >Man kann nicht. Er hat ein Zeichen. Gott hat ihn
gezeichnet!< Etwa so muß der Schwindel entstanden sein. -- Na, ich halte
dich auf. Adieu denn!«
Er bog in die Altgasse ein und ließ mich allein, verwunderter als ich je
gewesen war. Kaum war er weg, so erschien mir alles, was er gesagt hatte,
ganz unglaublich! Kain ein edler Mensch, Abel ein Feigling! Das
Kainszeichen eine Auszeichnung! Es war absurd, es war gotteslästerlich und
ruchlos. Wo blieb dann der liebe Gott? Hatte der nicht Abels Opfer
angenommen, hatte der nicht Abel lieb? -- Nein, dummes Zeug! Und ich
vermutete, Demian habe sich über mich lustig machen und mich aufs Glatteis
locken wollen. Ein verflucht gescheiter Kerl war er ja, und reden konnte
er, aber so -- nein --
Immerhin hatte ich noch niemals über irgendeine biblische oder andere
Geschichte so viel nachgedacht. Und hatte seit langem noch niemals den
Franz Kromer so völlig vergessen, stundenlang, einen ganzen Abend lang. Ich
las zu Hause die Geschichte noch einmal durch, wie sie in der Bibel stand,
sie war kurz und deutlich, und es war ganz verrückt, da nach einer
besonderen, geheimen Deutung zu suchen. Da könnte jeder Totschläger sich
für Gottes Liebling erklären! Nein, es war Unsinn. Nett war bloß die Art,
wie Demian solche Sachen sagen konnte, so leicht und hübsch, wie wenn alles
selbstverständlich wäre, und mit diesen Augen dazu!
Etwas freilich war ja bei mir selbst nicht in Ordnung, war sogar sehr in
Unordnung. Ich hatte in einer lichten und sauberen Welt gelebt, ich war
selber eine Art von Abel gewesen, und jetzt stak ich so tief im »andern«,
war so sehr gefallen und gesunken, und doch konnte ich im Grunde nicht so
sehr viel dafür! Wie war es nun damit? Ja, und jetzt blitzte eine
Erinnerung in mir herauf, die mir für einen Augenblick fast den Atem nahm.
An jenem üblen Abend, wo mein jetziges Elend angefangen hatte, da war das
mit meinem Vater gewesen, da hatte ich, einen Augenblick lang, ihn und
seine lichte Welt und Weisheit auf einmal wie durchschaut und verachtet!
Ja, da hatte ich selber, der ich Kain war und das Zeichen trug, mir
eingebildet, dies Zeichen sei keine Schande, es sei eine Auszeichnung und
ich stehe durch meine Bosheit und mein Unglück höher als mein Vater, höher
als die Guten und Frommen.
Nicht in dieser Form des klaren Gedankens war es, daß ich die Sache damals
erlebte, aber alles dies war darin enthalten, es war nur ein Aufflammen von
Gefühlen, von seltsamen Regungen, welche weh taten und mich doch mit Stolz
erfüllten.
Wenn ich mich besann -- wie sonderbar hatte Demian von den Furchtlosen und
den Feigen gesprochen! Wie seltsam hatte er das Zeichen auf Kains Stirne
gedeutet! Wie hatte sein Auge, sein merkwürdiges Auge eines Erwachsenen,
dabei wunderlich geleuchtet! Und es schoß mir unklar durch den Kopf: -- ist
nicht er selber, dieser Demian, so eine Art Kain? Warum verteidigt er ihn,
wenn er sich nicht ihm ähnlich fühlt? Warum hat er diese Macht im Blick?
Warum spricht er so höhnisch von den »andern«, von den Furchtsamen, welche
doch eigentlich die Frommen und Gott Wohlgefälligen sind?
Ich kam mit diesen Gedanken zu keinem Ende. Es war ein Stein in den Brunnen
gefallen, und der Brunnen war meine junge Seele. Und für eine lange, sehr
lange Zeit war diese Sache mit Kain, dem Totschlag und dem Zeichen der
Punkt, bei dem meine Versuche zu Erkenntnis, Zweifel und Kritik alle ihren
Ausgang nahmen.
* * * * *
Ich merkte, daß auch die andern Schüler sich mit Demian viel beschäftigten.
Von der Geschichte wegen Kain hatte ich niemandem etwas gesagt, aber er
schien auch andre zu interessieren. Wenigstens kamen viele Gerüchte über
den »Neuen« in Umlauf. Wenn ich sie nur noch alle wüßte, jedes würde ein
Licht auf ihn werfen, jedes würde zu deuten sein. Ich weiß nur noch, daß
zuerst verlautete, die Mutter Demians sei sehr reich. Auch sagte man, sie
gehe nie in die Kirche, und der Sohn auch nicht. Sie seien Juden, wollte
einer wissen, aber sie konnten auch heimliche Mohammedaner sein. Weiter
wurden Märchen erzählt von Max Demians Körperkraft. Sicher war, daß er den
Stärksten seiner Klasse, der ihn zum Raufen aufforderte und ihn bei seiner
Weigerung einen Feigling hieß, furchtbar demütigte. Die, die dabei waren,
sagten, Demian habe ihn bloß mit einer Hand am Genick genommen und fest
gedrückt, dann sei der Knabe bleich geworden, und nachher sei er
weggeschlichen und habe tagelang seinen Arm nicht mehr brauchen können.
Einen Abend lang hieß es sogar, er sei tot. Alles wurde eine Weile
behauptet, alles geglaubt, alles war aufregend und wundersam. Dann hatte
man für eine Weile genug. Nicht viel später aber kamen neue Gerüchte unter
uns Schülern auf, die wußten davon zu berichten, daß Demian vertrauten
Umgang mit Mädchen habe und »alles wisse«.
Inzwischen ging meine Sache mit Franz Kromer ihren zwangsläufigen Weg
weiter. Ich kam nicht von ihm los, denn wenn er mich auch zwischenein
tagelang in Ruhe ließ, war ich doch an ihn gebunden. In meinen Träumen
lebte er wie mein Schatten mit, und was er mir nicht in der Wirklichkeit
antat, das ließ meine Phantasie ihn in diesen Träumen tun, in denen ich
ganz und gar sein Sklave wurde. Ich lebte in diesen Träumen -- ein starker
Träumer war ich immer -- mehr als im Wirklichen, ich verlor Kraft und Leben
an diese Schatten. Unter anderem träumte ich oft, daß Kromer mich
mißhandelte, daß er mich anspie und auf mir kniete, und, was schlimmer war,
daß er mich zu schweren Verbrechen verführte -- vielmehr nicht verführte,
sondern einfach durch seinen mächtigen Einfluß zwang. Der furchtbarste
dieser Träume, aus dem ich halb wahnsinnig erwachte, enthielt einen
Mordanfall auf meinen Vater. Kromer schliff ein Messer und gab es mir in
die Hand, wir standen hinter den Bäumen einer Allee und lauerten auf
jemand, ich wußte nicht auf wen; aber als jemand daherkam und Kromer mir
durch einen Druck auf meinen Arm sagte, der sei es, den ich erstechen
müsse, da war es mein Vater. Da erwachte ich.
Über diesen Dingen dachte ich zwar wohl noch an Kain und Abel, aber wenig
mehr an Demian. Als er mir zuerst wieder nahetrat, war es merkwürdigerweise
auch in einem Traume. Nämlich ich träumte wieder von Mißhandlungen und
Vergewaltigung, die ich erlitt, aber statt Kromer war es diesmal Demian,
der auf mir kniete. Und -- das war ganz neu und machte mir tiefen Eindruck
-- alles, was ich von Kromer unter Qual und Widerstreben erlitten hatte,
das erlitt ich von Demian gerne und mit einem Gefühl, das ebensoviel Wonne
wie Angst enthielt. Diesen Traum hatte ich zweimal, dann trat Kromer wieder
an seine Stelle.
Was ich in diesen Träumen erlebte und was in der Wirklichkeit, das kann ich
längst nicht mehr genau trennen. Jedenfalls aber nahm mein schlimmes
Verhältnis zu Kromer seinen Lauf, und war nicht etwa zu Ende, als ich dem
Knaben endlich die geschuldete Summe aus lauter kleinen Diebstählen
abbezahlt hatte. Nein, jetzt wußte er von diesen Diebstählen, denn er
fragte mich immer, woher das Geld komme, und ich war mehr in seiner Hand
als jemals. Häufig drohte er, meinem Vater alles zu sagen, und dann war
meine Angst kaum so groß wie das tiefe Bedauern darüber, daß ich das nicht
von Anfang an selber getan hatte. Indessen, und so elend ich war, bereute
ich doch nicht alles, wenigstens nicht immer, und glaubte zuweilen zu
fühlen, daß alles so sein müsse. Ein Verhängnis war über mir, und es war
unnütz, es durchbrechen zu wollen.
Vermutlich litten meine Eltern unter diesem Zustande nicht wenig. Es war
ein fremder Geist über mich gekommen, ich paßte nicht mehr in unsre
Gemeinschaft, die so innig gewesen war, und nach der mich oft ein rasendes
Heimweh wie nach verlorenen Paradiesen überfiel. Ich wurde, namentlich von
der Mutter, mehr wie ein Kranker behandelt als wie ein Bösewicht, aber wie
es eigentlich stand, konnte ich am besten aus dem Benehmen meiner beiden
Schwestern sehen. In diesem Benehmen, das sehr schonend war und mich
dennoch unendlich beelendete, gab sich deutlich kund, daß ich eine Art von
Besessenem war, der für seinen Zustand mehr zu beklagen als zu schelten
war, in dem aber doch eben das Böse seinen Sitz genommen hatte. Ich fühlte,
daß man für mich betete, anders als sonst, und fühlte die Vergeblichkeit
dieses Betens. Die Sehnsucht nach Erleichterung, das Verlangen nach einer
richtigen Beichte spürte ich oft brennend, und empfand doch auch voraus,
daß ich weder Vater noch Mutter alles richtig würde sagen und erklären
können. Ich wußte, man würde es freundlich aufnehmen, man würde mich sehr
schonen, ja bedauern, aber nicht ganz verstehen, und das Ganze würde als
eine Art Entgleisung angesehen werden, während es doch Schicksal war.
Ich weiß, daß manche nicht glauben werden, daß ein Kind von noch nicht elf
Jahren so zu fühlen vermöge. Diesen erzähle ich meine Angelegenheit nicht.
Ich erzähle sie denen, welche den Menschen besser kennen. Der Erwachsene,
der gelernt hat, einen Teil seiner Gefühle in Gedanken zu verwandeln,
vermißt diese Gedanken beim Kinde, und meint nun, auch die Erlebnisse seien
nicht da. Ich aber habe nur selten in meinem Leben so tief erlebt und
gelitten wie damals.
* * * * *
Einst war ein Regentag, ich war von meinem Peiniger auf den Burgplatz
You have read 1 text from German literature.
Next - Demian: Die Geschichte von Emil Sinclairs Jugend - 03
  • Parts
  • Demian: Die Geschichte von Emil Sinclairs Jugend - 01
    Total number of words is 4605
    Total number of unique words is 1470
    45.5 of words are in the 2000 most common words
    58.4 of words are in the 5000 most common words
    64.6 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
  • Demian: Die Geschichte von Emil Sinclairs Jugend - 02
    Total number of words is 4666
    Total number of unique words is 1367
    47.5 of words are in the 2000 most common words
    61.1 of words are in the 5000 most common words
    66.3 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
  • Demian: Die Geschichte von Emil Sinclairs Jugend - 03
    Total number of words is 4598
    Total number of unique words is 1354
    45.4 of words are in the 2000 most common words
    58.3 of words are in the 5000 most common words
    63.8 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
  • Demian: Die Geschichte von Emil Sinclairs Jugend - 04
    Total number of words is 4621
    Total number of unique words is 1366
    46.0 of words are in the 2000 most common words
    59.2 of words are in the 5000 most common words
    64.3 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
  • Demian: Die Geschichte von Emil Sinclairs Jugend - 05
    Total number of words is 4506
    Total number of unique words is 1594
    40.3 of words are in the 2000 most common words
    52.3 of words are in the 5000 most common words
    57.8 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
  • Demian: Die Geschichte von Emil Sinclairs Jugend - 06
    Total number of words is 4602
    Total number of unique words is 1428
    46.5 of words are in the 2000 most common words
    58.4 of words are in the 5000 most common words
    64.6 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
  • Demian: Die Geschichte von Emil Sinclairs Jugend - 07
    Total number of words is 4553
    Total number of unique words is 1479
    44.0 of words are in the 2000 most common words
    56.8 of words are in the 5000 most common words
    62.4 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
  • Demian: Die Geschichte von Emil Sinclairs Jugend - 08
    Total number of words is 4621
    Total number of unique words is 1414
    44.4 of words are in the 2000 most common words
    57.6 of words are in the 5000 most common words
    63.2 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
  • Demian: Die Geschichte von Emil Sinclairs Jugend - 09
    Total number of words is 4556
    Total number of unique words is 1428
    44.3 of words are in the 2000 most common words
    58.4 of words are in the 5000 most common words
    63.9 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
  • Demian: Die Geschichte von Emil Sinclairs Jugend - 10
    Total number of words is 4647
    Total number of unique words is 1430
    46.4 of words are in the 2000 most common words
    59.1 of words are in the 5000 most common words
    64.3 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
  • Demian: Die Geschichte von Emil Sinclairs Jugend - 11
    Total number of words is 1369
    Total number of unique words is 633
    55.7 of words are in the 2000 most common words
    68.7 of words are in the 5000 most common words
    73.6 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.