Das Haidedorf - 1

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DAS HAIDEDORF
von Adalbert Stifter


EDITED FOR THE USE OF SCHOOLS
BY
OTTO HELLER
professor of the German language and literature, Washington University


PREFACE.

If any prose-writer may be called a poet, none is more worthy of that name
than Adalbert Stifter. And, unless it be a requirement that, to be ranked
as classic, a writer must be dead for many years, Stifter is entitled to
an honorable place among the classic writers of Germany. Not all he has
written bears the stamp of beauty and genius, but at his best he is truly
great, and of his best we have a great deal.
Adalbert Stifter was born in Oberplan, Bohemia, October 23d, 1806. His
father was a poor linen-weaver who was killed by an accident when the boy
was only ten years old. An uncle assumed charge of his education and sent
him to the monastic Latin School at Kremsmünster. His education was
completed in Vienna, whither he went in 1826, principally to study history
and philosophy, but also to cultivate his love of nature by the pursuit of
natural science and landscape-painting. His love for nature remained
throughout his life the most characteristic trait of the man. In all his
works, but especially in his "Studien," he showed himself to be a painter
of words who has only one equal in German Literature--Paul Heyse. His love
of detail confined him to one form of literary production, the short
novel. And even within these narrow limits Stifter's works show little
action. But for this we are amply compensated by the simple beauty of his
diction, its calm moderated tone, with never a word superfluous or
lacking, the manly nobility of his sentiment, and the almost womanly
delicacy of his perception. No one can read "Das Haidedorf" without
feeling the poet's love for man and nature.
The two volumes of which "Das Haidedorf" forms a small part are entitled
"Studien." In an English translation of extracts from Stifter this is
rendered by "Sketches." Far from being sketches, they are exquisite
studies carefully finished by a master hand. It may be said without
exaggeration that the following beautiful prose-idyl will suggest to a
sensitive and appreciative mind a succession of pictures destined to
remain as permanent possessions of art. And, when it is added that the
style is simple and modern, no further apology need be made for this
publication, save this, that the "Studien" have not, as far as I have been
able to gather, been reprinted singly.
Stifter's life, like his writings, was idyllic. He was appointed in 1846
to one of the higher educational posts by the Austrian government, and
took up his residence in Linz. This post he had to resign in 1856, owing
to impaired health. His remaining years were spent in happy retirement,
given to literary work, landscape-painting and his favorite pastime of
horticulture. Adalbert Stifter died at Linz, Austria ob der Enns, January
28th, 1868.
OTTO HELLER.
Philadelphia, February, 1891.
N.B. The orthography of this edition is that used in the original edition
of the "Studien."


I.

DIE HAIDE.

Im eigentlichen Sinne des Wortes ist es nicht eine Haide, wohin ich den
lieben Leser und Zuhörer führen will, sondern weit von unserer Stadt ein
traurig liebliches Fleckchen [1] Landes, das sie die Haide nennen, weil
seit unvordenklichen Zeiten [2] nur kurzes Gras darauf wuchs, hie und da
ein Stamm Haideföhre, [3] oder die Krüppelbirke, an deren Rinde zuweilen
ein Wollflöckchen hing, von den wenigen Schafen und Ziegen, die zeitweise
[4] hier herumgingen. Ferner war noch in ziemlicher Verbreitung die
Wachholderstaude [5] da, im Weitern [6] aber kein andrer Schmuck mehr; man
müßte nur [7] die fernen Berge hierher rechnen, die ein wunderschönes
blaues Band um das mattfarbige Gelände [8] zogen.
Wie es aber des Oeftern [9] geht, daß tiefsinnige Menschen, oder solche,
denen die Natur allerlei wunderliche Dichtung und seltsame Gefühle in das
Herz gepflanzt hatte, gerade solche Orte aussuchen und liebgewinnen, weil
sie da ihren Träumen und innerem Klingklang nachgehen können: so geschah
es auch auf diesem Haideflecke. Mit den Ziegen und Schafen nämlich kam
auch sehr oft ein schwarzäugiger Bube von zehn oder zwölf Jahren,
eigentlich [10] um dieselben zu hüten; aber wenn sich die Thiere
zerstreuten--die Schafe um das kurze würzige Gras zu genießen, die Ziegen
hingegen, für die im Grunde [11] kein passendes Futter da war, mehr ihren
Betrachtungen und der reinen Luft überlassen, nur so gelegentlich den
einen oder andern weichen Sprossen pflückend--fing er inzwischen an,
Bekanntschaft mit den allerlei Wesen zu machen, welche die Haide hegte
[12], und schloß mit ihnen Bündniß und Freundschaft.
Es war da ein etwas erhabener Punkt, an dem sich das graue Gestein, auch
ein Mitbesitzer [13] der Haide, reichlicher vorfand, und sich gleichsam
emporschob, ja sogar am Gipfel mit einer überhängenden Platte ein Obdach
und eine Rednerbühne bildete. Auch der Wachholder drängte sich dichter an
diesem Orte, sich breit machend in vielzweigiger Abstammung [14] und
Sippschaft [15] nebst manch schönblumiger Distel. Bäume aber waren gerade
hier weit und breit keine, weßhalb eben die Aussicht weit schöner war, als
an andern Punkten, vorzüglich gegen Süden, wo das ferne Moorland, so
ungesund für seine Bewohner, so schön für das entfernte Äuge, blauduftig
[16] hinausschwamm in allen Abstufungen der Ferne. Man hieß den Ort den
Roßberg [17]; aus welchen Gründen, ist unbekannt, da hier nie seit
Menschenbesinnen ein Pferd ging, was überhaupt [18] ein für die Haide zu
kostbares Gut gewesen wäre.
Nach diesem Punkte nun [19] wanderte unser kleiner Freund am
allerliebsten, wenn auch seine Pflegebefohlenen [20] weit ab in ihren
Berufsgeschäften gingen, da er aus Erfahrung wußte, daß keines die
Gesellschaft verließ, und er sie am Ende alle wieder vereint fand, wie
weit er auch nach ihnen suchen mußte; ja, das Suchen war ihm selber
abenteuerlich, vorzüglich, wenn er weit und breit wandern mußte. Auf dem
Hügel des Roßberges gründete er sein Reich. Unter dem überhängenden Blocke
bildete er nach und nach durch manche Zuthat, [21] und durch mühevolles,
mit spitzen Steinen bewerkstelligtes [22] Weghämmern einen Sitz, anfangs
für Einen, dann füglich für Drei geräumig [23] genug; auch ein und das
andere Fach [24] wurde vorgefunden oder hergerichtet, oder andere bequeme
Stellen und Winkel, wohin er seinen leinenen Haidesack legte, und sein
Brot, und die unzähligen Haideschätze, die er oft hieher zusammen trug.
Gesellschaft war im Uebermaße da. Vorerst [25] die vielen großen Blöcke,
die seine Burg bildeten, ihm alle bekannt und benannt, jeder anders an
Farbe und Gesichtsbildung, der unzähligen kleinen gar nicht zu gedenken,
die oft noch bunter und farbenfeuriger waren. Die großen theilte er ein,
je nachdem sie ihn durch Abenteuerlichkeit entzückten, oder durch
Gemeinheit ärgerten: die kleinen liebte er alle. Dann war der Wachholder,
ein widerspenstiger [26] Geselle, unüberwindlich zähe in seinen Gliedern,
wenn er einen köstlichen, wohlriechenden Hirtenstab sollte fahren lassen,
[27] oder Platz machen für einen anzulegenden [28] Weg;--seine Aeste
starrten [29] rings von Nadeln, strotzten [30] aber auch in allen Zweigen
von Gaben der Ehre, die sie Jahr aus Jahr ein den reichlichen Haidegästen
auftischten, [31] die millionenmal Millionen blauer und grüner Beeren.
Dann waren die wundersamen Haideblümchen, glutfärbig oder himmelblau
brennend, zwischen dem sonnigen Gras des Gesteines, oder jene unzählbaren
kleinen, zwischen dem Wachholder sprossend, die ein weißes Schnäbelchen
aussperren, mit einem gelben Zünglein darinnen--auch manche Erdbeere war
hie und da, selbst zwei Himbeersträuche, und sogar, zwischen den Steinen
emporwachsend, eine lange Haselruthe. Böse Gesellschaft fehlte wohl [32]
auch nicht, die er vom Vater gar wohl kannte, wenn sie auch schön war, z.
B. hie und da, aber sparsam, die Einbeeren, [33] die er nur schonte, weil
sie so glänzend schwarz waren, so schwarz, wie gar nichts auf der ganzen
Haide, seine Augen ausgenommen, die er freilich [34] nicht sehen konnte.
Fast sollte man von der lebenden und bewegenden Gesellschaft nun gar nicht
mehr reden, so viel ist schon da; aber diese Gesellschaft ist erst
vollends ausgezeichnet. Ich will von den tausend und tausend goldenen,
rubinenen, smaragdenen Thierchen und Würmchen gar nichts sagen, die auf
Stein, Gras und Halm kletterten, rannten und arbeiteten, weil er von Gold,
Rubinen und Smaragden noch nichts sah, außer was der Himmel und die Haide
zuweilen zeigte;--aber von Anderem muß gesprochen werden. Da war einer
seiner Günstlinge, ein schnarrender [35] purpurflügliger Springer, [36]
der dutzendweise vor ihm aufflog, und sich wieder hinsetzte, wenn er eben
seine Gebiete durchreiste--da waren dessen unzählbare Vettern, die größern
und kleinern Heuschrecken, in mißfarbiges Grün gekleidete Heiduken, [37]
lustig und rastlos zirpend [38] und schleifend, [39] daß an Sonnentagen
ein zitterndes Gesinge [40] längs der ganzen Haide war,--dann waren die
Schnecken mit und ohne Häuser, braune und gestreifte, gewölbte und platte,
und sie zogen silberne Straßen über das Haidegras, oder über seinen
Filzhut, auf den er sie gerne setzte--dann die Fliegen, summende,
singende, piepende, blaue, grüne, glasflüglige--dann die Hummel, die
schläfrig vorbeiläutete [41]--die Schmetterlinge, besonders ein kleiner
mit himmelblauen Flügeln, auf der Kehrseite [42] silbergrau mit gar
anmuthigen Aeuglein, dann noch ein kleinerer mit Flügeln, wie eitel [43]
Abendröthe--dann endlich war die Ammer, und sang an vielen Stellen; die
Goldammer, das Rotkehlchen, die Haidelerche, daß von ihr oft der ganze
Himmel voll Kirchenmusik hing; der Distelfink, die Grasmücke, der Kibitz,
und andere und wieder andere. Alle ihre Nester lagen in seiner Monarchie,
und wurden ausgesucht und beschützt. Auch manch rothes Feldmäuschen sah er
schlüpfen [44] und schonte sein, wenn es plötzlich stille hielt, und ihn
mit den glänzenden erschrockenen Aeuglein ansah. Von Wölfen oder andern
gefährlichen Bösewichtern war seit Urzeiten [45] aller seiner Vorfahren
keiner erlebt worden, [46] manches eiersaufende [47] Wiesel ausgenommen,
das er aber mit Feuer und Schwert verfolgte.
Inmitten all dieser Herrlichkeiten stand er, oder ging, oder sprang, oder
saß er--ein herrlicher Sohn der Haide: aus dem tiefbraunen Gesichtchen
voll Güte und Klugheit leuchteten in blitzendem, unbewußtem Glanze die
pechschwarzen Augen, voll Liebe und Kühnheit, und reichlich zeigend jenes
gefahrvolle Element, was ihm geworden [48] und in der Haideeinsamkeit zu
sprossen begann, eine dunkle glutensprühige Fantasie. Um die Stirne war
eine Wildniß dunkelbrauner Haare, kunstlos den Winden der Fläche
hingegeben. Wenn es mir erlaubt wäre, so würde ich meinen Liebling
vergleich en mit jenem Hirtenknaben aus den heiligen Büchern, der auch auf
der Haide vor Bethlehem sein Herz fand, und seinen Gott, und die Träume
der künftigen Königsgröße. Aber so ganz arm, wie unser kleiner Freund, war
jener Hirtenknabe gewiß nicht; denn des ganzen lieben Tages Länge hatte er
nichts, als ein tüchtig Stück schwarzen Brotes, wovon er unbegreiflicher
Weise [49] seinen blühenden Körper und den noch blühendern Geist nährte,
und ein klares kühles Wasser, das unweit des Roßberges vorquoll, [50] ein
Brünnlein füllte, und dann flink längs der Haide forteilte, um mit andern
Schwestern vereint jenem fernen Moore zuzugehen, dessen wir oben
gedachten. Zu g u t e n Zeiten waren auch ein oder zwei Ziegenkäse in der
Tasche. Aber ein Nahrungsmittel hatte er in einer Güte und Fülle, wie es
der überreichste Städter nicht aufweisen kann, einen ganzen Ozean der
heilsamsten Luft u m sich, und eine Farbe und Gesundheit reifende
Lichthülle ü b e r sich. Abends, wenn er heim kam, wohin er sehr weit
hatte, kochte ihm die Mutter eine Milchsuppe, oder einen köstlichen Brei
aus Hirse. [51] Sein Kleid war ein halbgebleichtes Linnen. Weiter hatte er
noch einen breiten Filzhut, den er aber selten aufthat, sondern meistens
in seinem Schlosse an einen Holznagel hing, der er in die Felsenritze
geschlagen hatte.
Dennoch war er stets lustig, und wußte sich oft nicht zu halten vor
Frohsinn. Von seinem Königssitze aus herrschte er über die Haide. Theils
durchzog er sie weit und breit, theils saß er hoch oben auf der Platte
oder Rednerbühne, und so weit das Auge gehen konnte, so weit ging die
Fantasie mit, oder sie ging noch weiter, und überspann die ganze Fernsicht
mit einem Fadennetze von Gedanken und Einbildungen, und je länger er saß,
desto dichter kamen sie, so daß er oft am Ende selbst ohnmächtig unter dem
Netze steckte. Furcht der Einsamkeit kannte er nicht; ja, wenn recht weit
und breit kein menschliches Wesen zu erspähen war, und nichts, als die
heiße Mittagsluft längs der ganzen Haide zitterte, dann kam erst recht das
ganze Gewimmel seiner innern Gestalten daher; [52] und bevölkerte die
Haide. Nicht selten stieg er dann auf die Steinplatte, und hielt sofort
eine Predigt und Rede--unten standen die Könige und Richter, und das Volk
und die Heerführer, und Kinder und Kindeskinder, zahlreich, wie der Sand
am Meere; er predigte Buße und Bekehrung--und Alle lauschten auf ihn; er
beschrieb ihnen das gelobte Land, verhieß, daß sie Heldenthaten thun
würden, und wünschte zuletzt nichts sehnlicher, als daß er auch noch ein
Wunder zu wirken vermöchte. Dann stieg er hernieder und führte sie an, in
die fernsten und entlegensten Theile der Haide, wohin er wohl eine
Viertelstunde zu gehen hatte--zeigte ihnen nun das ganze Land der Väter,
und nahm es ein mit der Schärfe des Schwertes. Dann wurde es unter die
Stämme ausgetheilt, und jedem das Seinige zur Vertheidigung angewiesen.
Oder er baute Babilon, eine furchtbare und weitläufige Stadt--er baute sie
aus den kleinen Steinen des Roßberges, und verkündete den Heuschrecken und
Käfern, daß hier ein gewaltiges Reich entstehe, das Niemand überwinden
kann, als Cyrus, der morgen oder übermorgen kommen werde, den gottlosen
König Balsazar zu züchtigen, wie es ja Daniel längst vorher gesagt hat.
Oder er grub den Jordan ab, d. i. den Bach, der von der Quelle floß, und
leitete ihn anderer Wege--oder er that das alles nicht, sondern entschlief
auf der offenen Fläche, und ließ über sich einen bunten Teppich der Träume
weben. Die Sonne sah ihn an, und lockte auf die schlummernden Wangen eine
Röthe, so schön und so gesund, wie an gezeitigten Aepfeln, oder so reif,
und kräftig, wie an der Lichtseite vollkörniger Haselnüsse, und wenn sie
endlich gar die hellen großen Tropfen auf seine Stirne gezogen hatte, dann
erbarmte ihr der Knabe [53] und sie weckte ihn mit einem heißen Kusse.
So lebte er nun manchen Tag und manches Jahr auf der Haide, und wurde
größer und stärker, und in das Herz kamen tiefere, dunklere und stillere
Gewalten, und es ward ihm wehe und sehnsüchtig--und er wußte nicht, wie
ihm geschah. Seine Erziehung hatte er vollendet, und was die Haide geben
konnte, das hatte sie gegeben; der reife Geist schmachtete nun nach seinem
Brote, dem W i s s e n, und das Herz nach seinem Weine, der L i e b e.
Sein Auge ging über die fernen Duftstreifen des Moores, und noch weiter
hinaus; als müsse dort draußen etwas sein was ihm fehle, und als müsse er
eines Tages seine Lenden gürten, den Stab nehmen, und weit, weit von
seiner Heerde gehen.
Die Wiese, die Blumen, das Feld und seine Aehren, der Wald und seine
unschuldigen Thierchen sind die ersten und natürlichsten Gespielen und
Erzieher des Kinderherzens. Ueberlaß den kleinen Engel nur seinem eigenen
innern Gotte, und halte bloß die Dämonen ferne, und er wird sich wunderbar
erziehen und vorbereiten. Dann, wenn das fruchtbare Herz hungert nach
Wissen und Gefühlen, dann schließ ihm die Größe der Welt, des Menschen und
Gottes auf.
Und somit laßt uns Abschied nehmen von dem Knaben auf der Haide.


II.

Das Haidehaus.

Eine gute Wegestunde von dem Roßberge stand ein Haus, oder vielmehr eine
weitläufige Hütte. Sie stand am Rande der Haide weit ab jeder Straße
menschlichen Verkehres; sie stand ganz allein, und das Land um sie war
selber wieder eine Haide, nur anders, als die, auf der der Knabe die
Ziegen hütete. Das Haus war ganz aus Holz, faßte zwei Stuben und ein
Hinterstübchen, alles mit mächtigen braunschwarzen Tragebalken, daran
manch Festkrüglein hing, mit schönen Trinksprüchen [54] bemalt. Die
Fenster, licht und geräumig, sahen auf die Haide, und das Haus war umgeben
von dem Stalle, Schuppen [55] und der Scheune. Es war auch ein Gärtlein
vor demselben, worin Gemüse wuchs, ein Hollunderstrauch und ein alter
Apfelbaum stand--weiter ab waren noch drei Kirschbäume, und unansehnliche
Pflaumengesträuche. Ein Brunnen floß vor dem Hause, kühl, aber sparsam; er
floß von dem hohen starken Holzschafte in eine Kufe nieder, die aus einem
einzigen Haidestein gehauen war.
In diesem Hause war es sehr einsam geworden; es wohnten nur ein alter
Vater und eine alte Mutter darinnen, und eine noch ältere Großmutter--und
Alle waren sie traurig; denn er war fortgezogen, weit in die Fremde, der
das Haus mit seiner jugendlichen Gestalt belebt hatte, und der die Freude
Aller war. Freilich spielte noch ein kleines Schwesterlein an der
Thürschwelle, aber sie war noch gar zu klein, und war noch zu thöricht;
denn sie fragte ewig, wann der Bruder Felix wieder kommen werde. Weil der
Vater Feld und Wiese besorgen mußte, so war ein anderer Ziegenknabe
genommen worden; allein dieser legte auf der Haide Vogelschlingen, trieb
immer sehr früh nach Hause, [56] und schlief gleich nach dem Abendessen
ein. Alle Wesen auf der Haide trauerten um den schönen lockigen Knaben,
der von ihnen fortgezogen.
Es war ein traurig schöner Tag gewesen, an dem er fortgegangen war. Sein
Vater war ein verständig stiller Mann, der ihm nie ein Scheltwort gegeben
hatte, und seine Mutter liebte ihn, wie ihren Augapfel;--und aus i h r e m
Herzen, dem er oft und gerne lauschte, sog er jene Weichheit und
Fantasiefülle, die sie hatte, aber zu nichts verwenden konnte, als zu
lauter Liebe für ihren Sohn. Den Vater ehrte sie als den Oberherrn, der
sich Tag und Nacht so plagen müsse, um den Unterhalt herbeizuschaffen, da
die Haide karg war, und nur gegen große Mühe sparsame Früchte trug, und
oft die nicht, wenn Gott ein heißes Jahr über dieselbe herabsandte. Darum
lebten sie in einer friedsamen Ehe, und liebten sich pflichtgetreu von
Herzen, und standen einander in Noth und Kummer bei. Der Knabe kannte
daher nie den giftigen Mehlthau für Kinderherzen, Hader und Zank, außer,
wenn ein stößiger Bock [57] Irrsal stiftete, [58] den er aber immer mit
tüchtigen Püffen seiner Faust zu Paaren trieb, [59] was das böseste Thier
von ihm, und nur von ihm allein gutwillig litt, weil es wohl wußte, daß er
sein Beschützer und zuversichtlicher Kamerade sei. Der Vater liebte seinen
Sohn wohl auch, und gewiß nicht minder als die Mutter, aber nach der
Verschämtheit gemeiner Stände, zeigte er diese Liebe nie, am wenigsten dem
Sohne--dennoch konnte man sie recht gut erkennen an der Unruhe, mit der er
aus- und einging, und an den Blicken, die er häufig gegen den Roßberg
that, wenn der Knabe einmal zufällig später von der Haide heim kam, als
gewöhnlich--und der Bube wußte und kannte diese Liebe sehr wohl, wenn sie
sich auch nicht äußerte.
Von solchen Eltern hatte er keinen Widerstand zu erfahren, als er den
Entschluß aussprach, in die Welt zu gehen, weil er durch aus nicht mehr zu
Hause zu bleiben vermöge. Ja, der Vater hatte schon seit langem
wahrgenommen, wie der Knabe sich in Einbildungen und Dingen abquäle, die
ihm selber von Kindheit an nie gekommen waren; er hielt sie deßhalb für
Geburten der Haideeinsamkeit, und sann auf deren Abhilfe. Die Mutter hatte
zwar nichts Seltsames an ihrem Sohne bemerkt, weil eigentlich ohnehin ihr
Herz in dem seinen schlug; allein sie willigte doch in seine Abreise aus
einem dunklen Instinkte, daß er da ausführe, was ihm Noth thue.
Noch e i n e Person mußte gefragt werden, nicht von den Eltern, sondern
von ihm: die G r o ß m u t t e r. Er liebte sie zwar nicht so wie die
Mutter, sondern ehrte und scheute sie vielmehr; aber sie war es auch
gewesen, aus der er die Anfänge jener Fäden zog, aus welchen er vorerst
seine Haidefreuden webte, dann sein Herz und sein ganzes zukünftiges
Schicksal. Weit über die Grenze des menschlichen Lebens schon
hinausgeschritten saß sie, wie ein Schemen hinten am Hause im Garten an
der Sonne, ewig einsam und ewig allein in der Gesellschaft ihrer Todten,
und zurückspinnend an ihrer innern ewig langen Geschichte. Aber so wie sie
dasaß, war sie nicht das gewöhnliche Bild unheimlichen Hochalters, sondern
wenn sie oft plötzlich ein oder das andere ihrer innern Geschöpfe
anredete, als ein lebendes und vor ihr wandelndes; oder, wenn sie sanft
lächelte, oder betete, oder mit sich selbst redete, wundersam spielend in
Blödsinn und Dichtung, in Unverstand und Geistesfülle: so zeigte sie
gleichsam, wie eine mächtige Ruine, rückwärts auf ein denkwürdiges Dasein.
Ja, der Menschenkenner, wenn hier je einer hergekommen wäre, würde aus den
wenigen Blitzen, die noch gelegentlich auffuhren, leicht erkannt haben,
daß hier eine Dichtungsfülle ganz ungewöhnlicher Art vorübergelebt worden
war, ungekannt von der Umgebung, ungekannt von der Besitzerin,
vorübergelebt in dem schlechten Gefäße eines Haidebauerweibes. Ihre
gemüthreiche Tochter, die Mutter des Knaben, war nur ein schwaches Abbild
derselben. Das alte Weib hatte in ihrem ganzen Leben voll harter Arbeiten
nur ein einziges Buch gelesen, die Bibel; aber in diesem Buche las und
dichtete sie siebenzig Jahre. Jetzt that sie es zwar nicht mehr, verlangte
auch nicht mehr, daß man ihr vorlese; aber ganze Prophetenstellen sagte
sie oft laut her, und in ihrem Wesen war Art und Weise jenes Buches
ausgeprägt, so daß selbst zuletzt ihre gewöhnliche Redeweise etwas Fremdes
und gleichsam Morgenländisches zeigte. Dem Knaben erzählte sie die
heiligen Geschichten. Da saß er nun oft an Sonntagnachmittagen gekauert
[60] an dem Hollunderstrauch--und wenn die Wunder, und die Helden kamen,
und die fürchterlichen Schlachten, und die Gottesgerichte--und wenn sich
dann die Großmutter in die Begeisterung geredet, [61] und der alte Geist
die Ohnmacht seines Körpers überwunden hatte--und wenn sie nun anfing,
zurückgesunken in die Tage ihrer Jugend, mit dem welken Munde zärtlich und
schwärmerisch zu reden, mit einem Wesen, das er nicht sah, und in Worten,
die er nicht verstand, aber tief ergriffen instinktmäßig nachfühlte, und
wenn sie um sich alle Helden der Erzählung versammelte, und ihre eigenen
Verstorbenen einmischte, und nun alles durcheinander reden ließ: da
grauete er sich innerlich entsetzlich ab, [62] und um so mehr, wenn er sie
gar nicht mehr verstand--allein er schloß alle Thore seiner Seele weit
auf, und ließ den fantastischen Zug [63] eingehen, und nahm des andern
Tages das ganze Getümmel mit auf die Haide, wo er Alles wieder
nachspielte.
Dieser Großmutter nun wollte er sein Vorhaben deuten, damit sie ihn nicht
eines Tages zufällig vermisse, und sich innerlich kränke, als sei er
gestorben.
Und so--an einem frühen Morgen stand er neben den Eltern reisefertig vor
der Thür, sein dürftig Linnenkleid an, den breiten Hut auf dem Haupte, den
Wacholderstab in der Hand, umgehängt den Haidesack, in welchem zwei Hemden
waren und Käse und Brot. Eingenäht in die Brusttasche hatte er das wenige
Geld, welches das Haus vermochte.
Die Großmutter, immer die erste wach, knieete bereits nach ihrer Sitte
inmitten der Wiese an ihrem Holzschemel, den sie dahin getragen, und
betete. Der Knabe warf einen Blick auf den Haiderand, welcher schwarz den
lichten Himmel schnitt--dann trat er zu der Großmutter und sagte: "Liebe
Mutter, ich gehe jetzt, lebet wohl und betet für mich!"
"Kind, du mußt der Schafe achten, der Thau ist zu früh, und zu kühl!"
"Nicht auf die Haide gehe ich, Großmutter, sondern weit fort in das Land,
um zu lernen und tüchtig zu werden, wie ich es Euch ja gestern Alles
gesagt habe."
"Ja, Du sagtest es," erwiederte sie, "Du sagtest es, mein Kind--ich habe
Dich mit Schmerzen geboren, aber Dir auch Gaben gegeben, zu werden, wie
einer der Propheten und Seher--ziehe mit Gott, aber komme wieder,
Jacobus!"
Jacobus hatte ihr Sohn geheißen, der auch einmal fortgegangen, vor mehr
als sechzig Jahren, aber nie wieder zurückgekehrt war.
"Mutter," sagte er noch einmal, "gebt mir Eure Hand."
Sie gab sie ihm; er schüttelte sie und sagte: "Lebt wohl, lebt wohl."
"Amen, Amen," sagte sie, als hörte sie zu beten auf.
Dann wandte sich der Knabe gegen die Eltern; das Herz war ihm so sehr
emporgeschwollen--er sagte nichts, sondern mit eins hing er am Halse der
Mutter, und sie, heiß weinend, küßte ihn auf beide Wangen, und schob ihm
noch ein Geldstück zu, das sie einst als Pathengeschenk empfangen, und
immer aufgehoben hatte, allein er nahm es nicht. Dem Vater reichte er bloß
die Hand, weil er sich nicht getraute, ihn zu umarmen. Dieser machte ihm
ein Kreuz auf die Stirne, auf den Mund und die Brust, und als hierbei
seine rauhe Hand zitterte, und um den harten Mund ein heftiges Zucken
ging, da hielt sich der Knabe nicht mehr. Mit einem Thränengusse warf er
sich an die Brust des Vaters, und dessen linker Arm umkrampfte [64] ihn
eine Sekunde, dann ließ er ihn los, und schob ihn wortlos gegen die Haide.
Die Mutter aber rief ihn noch einmal, und sagte, er möge doch auch das
kleine Schwesterchen gesegnen, [65] die man in ihrem Bettlein ganz
vergessen habe. Drei Kreuze machte er über den schlafenden Engel, dann
schritt er schnell hinaus, und ging trotzig vorwärts gegen die Haide.
So ziehe mit Gott, du unschuldiger Mensch, und bringe nur das Kleinod
wieder, was du so leichtsinnig fortträgst!
Als er an den Roßberg gekommen, ging die Sonne auf, und schaute in zwei
treuherzige, zuversichtliche, aber rothgeweinte Augen. Am Haidehause
spiegelte sie sich in den Fenstern, und an der Sense des Vaters, der mähen
ging.


III.

Das Haidedorf.

Des ersten Abends war es öde und verlassen, und den beiden Eltern that das
Herz weh, als sie in der Dämmerung des Sommers zu Bette gingen, und auf
seine leere Schlafstelle sahen. Um denselben Menschen, der vielleicht eben
jetzt noch auf dürrer Heerstraße wanderte, und von Keinem beachtet, ja von
den Meisten v e r a c h t e t wurde, brachen fast zwei naturrohe Herzen im
entlegenen Haidehause, daß sie ihn von nun an, vielleicht auf immer
entbehren sollten; aber sie drückten den Schmerz in sich, und jedes trug
ihn einsam, weil es zu schamhaft und unbeholfen war, sich zu äußern.
Aber es kam ein zweiter Tag, und ein dritter, und ein vierter, ein jeder
spannte denselben glänzenden Himmelsbogen über die Haide, und funkelte
nieder auf die Fenster und das altergraue Dach des Hauses eben so
freundlich und lieblich, wie als er noch dagewesen war.
Und dann kamen wieder Tage und wieder.
Die Arbeit und Freude des Landmanns, durch Jahrtausende einförmig, und
durch Jahrtausende noch unerschöpft, zog auch hier geräuschlos und magisch
ein Stück ihrer uralten Kette durch die Hütte, und an jedem ihrer Glieder
hing ein Tröpflein Vergessenheit.
Die Großmutter trug nach wie vor ihren Holzschemel auf die Wiese, und
betete daran, und sie und klein Marthe fragten täglich, wann denn Felix
komme. Der Vater mähete Roggen und Gerste--die Mutter machte Käse und band
Garben--und der fremde Ziegenbube trieb täglich auf die Haide. Von Felix
wußte man nichts.
Die Sonne ging auf, und ging unter, die Haide wurde weiß, und wurde grün,
der Hollunderbaum und der Apfelbaum blüheten vielmal--klein Marthe war
groß geworden, und ging mit, um zu heuen [66] und zu ernten, aber sie
fragte nicht mehr,--und die Großmutter, ewig und unbegreiflich hinaus
lebend, wie ein vom Tode vergessener Mensch, fragte auch nicht mehr, weil
er ihr entfallen war, oder sich zu ihren heimlichen Fantasiegestalten
gesellt hatte.
Die Felder des Haidebauers besserten sich nachgerade, als ob der Himmel
seine Einsamkeit segnen und ihm vergelten wollte, und es wurde ihm so gut,
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