Briefe aus der Schweiz - 1

Total number of words is 4511
Total number of unique words is 1557
37.8 of words are in the 2000 most common words
51.0 of words are in the 5000 most common words
56.8 of words are in the 8000 most common words
Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
Briefe aus der Schweiz--Zweite Abteilung
by Johann Wolfgang von Goethe


Münster, den 3. October.
Sonntag Abends.
Von Basel erhalten Sie ein Paket, das die Geschichte unsrer bisherigen
Reise enthält, indessen wir unsern Zug durch die Schweiz nun ernstlich
fortsetzen.
Auf dem Wege nach Biel ritten wir das schöne Birsch-Thal herauf und
kamen endlich an den engen Paß der hierher führt.
Durch den Rücken einer hohen und breiten Gebirgkette hat die Birsch,
ein mäßiger Fluß, sich einen Weg von Uralters gesucht. Das Bedürfniß
mag nachher durch ihre Schluchten ängstlich nachgeklettert sein. Die
Römer erweiterten schon den Weg, und nun ist er sehr bequem
durchgeführt. Das über Felsstücke rauschende Wasser und der Weg gehen
neben einander hin und machen an den meisten Orten die ganze Breite
des Passes, der auf beiden Seiten von Felsen beschlossen ist, die ein
gemächlich aufgehobenes Auge fassen kann. Hinterwärts heben Gebirge
sanft ihre Rücken, deren Gipfel uns vom Nebel bedeckt waren. Bald
steigen an einander hängende Wände senkrecht auf, bald streichen
gewaltige Lagen schief nach dem Fluß und dem Weg ein, breite Massen
sind auf einander gelegt, und gleich daneben stehen scharfe Klippen
abgesetzt. Große Klüfte spalten sich aufwärts, und Platten von
Mauerstärke haben sich von dem übrigen Gesteine losgetrennt. Einzelne
Felsstücke sind herunter gestürzt, andere hängen noch über und lassen
nach ihrer Lage fürchten, daß sie dereinst gleichfalls herein kommen
werden. Bald rund, bald spitz, bald bewachsen, bald nackt, sind die
Firsten der Felsen, wo oft noch oben drüber ein einzelner Kopf kahl
und kühn herüber sieht, und an Wänden und in der Tiefe schmiegen sich
ausgewitterte Klüfte hinein.
Mir machte der Zug durch diese Enge eine große ruhige Empfindung. Das
Erhabene gibt der Seele die schöne Ruhe, sie wird ganz dadurch
ausgefüllt, fühlt sich so groß als sie sein kann. Wie herrlich ist
ein solches reines Gefühl, wenn es bis gegen den Rand steigt ohne
überzulaufen. Mein Auge und meine Seele konnten die Gegenstände
fassen, und da ich rein war, diese Empfindung nirgends falsch
widerstieß, so wirkten sie was sie sollten. Vergleicht man solch ein
Gefühl mit jenem, wenn wir uns mühselig im Kleinen umtreiben, alles
aufbieten, diesem so viel als möglich zu borgen und aufzuflicken, und
unserm Geist durch seine eigne Creatur Freude und Futter zu bereiten;
so sieht man erst, wie ein armseliger Behelf es ist.
Ein junger Mann, den wir von Basel mitnahmen, sagte: es sei ihm lange
nicht wie das erstemal, und gab der Neuheit die Ehre. Ich möchte aber
sagen: wenn wir einen solchen Gegenstand zum erstenmal erblicken, so
weitet sich die ungewohnte Seele erst aus, und es macht dieß ein
schmerzlich Vergnügen, eine Überfülle, die die Seele bewegt und uns
wollüstige Thränen ablockt. Durch diese Operation wird die Seele in
sich größer, ohne es zu wissen, und ist jener ersten Empfindung nicht
mehr fähig. Der Mensch glaubt verloren zu haben, er hat aber gewonnen.
Was er an Wollust verliert, gewinnt er an innerm Wachsthum. Hätte
mich nur das Schicksal in irgend einer großen Gegend heißen wohnen,
ich wollte mit jedem Morgen Nahrung der Großheit aus ihr saugen, wie
aus einem lieblichen Thal Geduld und Stille. Am Ende der Schlucht
stieg ich ab und kehrte einen Theil allein zurück. Ich entwickelte
mir noch ein tiefes Gefühl, durch welches das Vergnügen auf einen
hohen Grad für den aufmerksamen Geist vermehrt wird. Man ahnet im
Dunkeln die Entstehung und das Leben dieser seltsamen Gestalten. Es
mag geschehen sein wie und wann es wolle, so haben sich diese Massen,
nach der Schwere und Ähnlichkeit ihrer Theile, groß und einfach
zusammen gesetzt. Was für Revolutionen sie nachher bewegt, getrennt,
gespalten haben, so sind auch diese doch nur einzelne Erschütterungen
gewesen, und selbst der Gedanke einer so ungeheuren Bewegung gibt ein
hohes Gefühl von ewiger Festigkeit. Die Zeit hat auch, gebunden an
die ewigen Gesetze, bald mehr bald weniger auf sie gewirkt.
Sie scheinen innerlich von gelblicher Farbe zu sein; allein das Wetter
und die Luft verändern die Oberfläche in Graublau, daß nur hier und da
in Streifen und in frischen Spalten die erste Farbe sichtbar ist.
Langsam verwittert der Stein selbst und rundet sich an den Ecken ab,
weichere Flecken werden weggezehrt, und so gibt's gar zierlich
ausgeschweifte Höhlen und Löcher, die, wann sie mit scharfen Kanten
und Spitzen zusammen treffen, sich seltsam zeichnen. Die Vegetation
behauptet ihr Recht; auf jedem Vorsprung, Fläche und Spalt fassen
Fichten Wurzel, Moos und Kräuter säumen die Felsen. Man fühlt tief,
hier ist nichts Willkürliches, hier wirkt ein alles langsam bewegendes
ewiges Gesetz, und nur von Menschenhand ist der bequeme Weg, über den
man durch diese seltsamen Gegenden durchschleicht.


Genf, den 27. October.
Die große Bergkette, die von Basel bis Genf Schweiz und Frankreich
scheidet, wird, wie Ihnen bekannt ist, der Jura genannt. Die größten
Höhen davon ziehen sich über Lausanne bis ungefähr über Rolle und Nyon.
Auf diesem höchsten Rücken ist ein merkwürdiges Thal von der Natur
eingegraben — ich möchte sagen eingeschwemmt, da auf allen diesen
Kalkhöhen die Wirkungen der uralten Gewässer sichtbar sind — das la
Vallée de Joux genannt wird, welcher Name, da Joux in der Landsprache
einen Felsen oder Berg bedeutet, deutsch das Bergthal hieße. Eh' ich
zur Beschreibung unsrer Reise fortgehe, will ich mit wenigem die Lage
desselben geographisch angeben. Seine Länge streicht, wie das Gebirg
selbst, ziemlich von Mittag gegen Mitternacht, und wird an jener Seite
von den Septmoncels, an dieser von der Dent de Vaulion, welche nach
der Dole der höchste Gipfel des Jura ist, begränzt und hat, nach der
Sage des Landes, neun kleine, nach unsrer ungefähren Reiserechnung
aber sechs starke Stunden. Der Berg, der es die Länge hin an der
Morgenseite begränzt und auch von dem flachen Land herauf sichtbar ist,
heißt Le noir Mont. Gegen Abend streicht der Risou hin und verliert
sich allmählich gegen die Franche-Comté.
Frankreich und Bern theilen sich ziemlich gleich in dieses Thal, so
daß jenes die obere schlechte Hälfte und dieses die untere bessere
besitzt, welche letztere eigentlich La Vallée du Lac de Joux genannt
wird. Ganz oben in dem Thal, gegen den Fuß der Septmoncels, liegt der
Lac des Rousses, der keinen sichtlichen einzelnen Ursprung hat,
sondern sich aus quelligem Boden und den überall auslaufenden Brunnen
sammelt. Aus demselben fließt die Orbe, durchstreicht das ganze
französische und einen großen Theil des Berner Gebiets, bis sie wieder
unten gegen die Dent de Vaulion sich zum Lac de Joux bildet, der
seitwärts in einen kleinen See abfällt, woraus das Wasser endlich sich
unter der Erde verlieret. Die Breite des Thals ist verschieden, oben
bei'm Lac des Rousses etwa eine halbe Stunde, alsdann verengert sich's
und läuft wieder unten aus einander, wo etwa zum bessern Verständniß
des Folgenden, wobei ich Sie einen Blick auf die Karte zu thun bitte,
ob ich sie gleich alle, was diese Gegend betrifft, unrichtig gefunden
habe.
Den 24. Oct. ritten wir, in Begleitung eines Hauptmanns und
Oberforstmeisters dieser Gegenden, erstlich Mont hinan, einen kleinen
zerstreuten Ort, der eigentlicher eine Kette von Reb- und Landhäusern
genannt werden könnte. Das Wetter war sehr hell; wir hatten, wenn wir
uns umkehrten, die Aussicht auf den Genfersee, die Savoyer und
Walliser Gebirge, konnten Lausanne erkennen und durch einen leichten
Nebel auch die Gegend von Genf. Der Montblanc, der über alle Gebirge
des Faucigni ragt, kam immer mehr hervor. Die Sonne ging klar unter,
es war so ein großer Anblick, daß ein menschlich Auge nicht dazu
hinreicht. Der fast volle Mond kam herauf und wir immer höher. Durch
Fichtenwälder stiegen wir weiter den Jura hinan, und sahen den See in
Duft und den Widerschein des Mondes darin. Es wurde immer heller.
Der Weg ist eine wohlgemachte Chaussee, nur angelegt um das Holz aus
dem Gebirg bequemer in das Land herunter zu bringen. Wir waren wohl
drei Stunden gestiegen, als es hinterwärts sachte wieder hinabzugehen
anfing. Wir glaubten unter uns einen großen See zu erblicken, indem
ein tiefer Nebel das ganze Thal, was wir übersehen konnten, ausfüllte.
Wir kamen ihm endlich näher, sahen einen weißen Bogen, den der Mond
darin bildete, und wurden bald ganz vom Nebel eingewickelt.
Die Begleitung des Hauptmanns verschaffte uns Quartier in einem Hause,
wo man sonst nicht Fremde aufzunehmen pflegt. Es unterschied sich in
der innern Bauart von gewöhnlichen Gebäuden in nichts, als daß der
große Raum mitten inne zugleich Küche, Versammlungsplatz, Vorsaal ist,
und man von da in die Zimmer gleicher Erde und auch die Treppe hinauf
geht. Auf der einen Seite war an dem Boden auf steinernen Platten das
Feuer angezündet, davon ein weiter Schornstein, mit Brettern dauerhaft
und sauber ausgeschlagen, den Rauch aufnahm. In der Ecke waren die
Thüren zu den Backöfen, der ganze Fußboden übrigens gedielet, bis auf
ein kleines Eckchen am Fenster um den Spülstein, das gepflastert war,
übrigens rings herum, auch in der Höhe über den Balken, eine Menge
Hausrath und Geräthschaften in schöner Ordnung angebracht, alles nicht
unreinlich gehalten.
Den 25. Morgens war helles kaltes Wetter, die Wiesen bereift, hier und
da zogen leichte Nebel: wir konnten den untern Theil des Thals
ziemlich übersehen, unser Haus lag am Fuß des östlichen noir Mont.
Gegen Achte ritten wir ab, und um der Sonne gleich zu genießen, an der
Abendseite hin. Der Theil des Thals, an dem wir hinritten, besteht in
abgetheilten Wiesen, die gegen den See zu etwas sumpfichter werden.
Die Orbe fließt in der Mitte durch. Die Einwohner haben sich theils
in einzelnen Häusern an der Seite angebaut, theils sind sie in Dörfern
näher zusammengerückt, die einfache Namen von ihrer Lage führen. Das
erste, wodurch wir kamen, war le Sentier. Wir sahen von weitem die
Dent de Vaulion über einem Nebel, der auf dem See stand, hervorblicken.
Das Thal ward breiter, wir kamen hinter einem Felsgrat, der uns den
See verdeckte, durch ein ander Dorf, le Lieu genannt, die Nebel
stiegen und fielen wechselsweise vor der Sonne.
Hier nahebei ist ein kleiner See, der keinen Zu- und Abfluß zu haben
scheint. Das Wetter klärte sich völlig auf und wir kamen gegen den
Fuß der Dent de Vaulion und trafen hier an's nördliche Ende des großen
Sees, der, indem er sich westwärts wendet, in den kleinen durch einen
Damm unter einer Brücke weg seinen Ausfluß hat. Das Dorf drüben heißt
le Pont. Die Lage des kleinen Sees ist wie in einem eigenen kleinen
Thal, was man niedlich sagen kann.
An dem westlichen Ende ist eine merkwürdige Mühle in einer Felskluft
angebracht, die ehemals der kleine See ausfüllte. Nunmehr ist er
abgedämmt und die Mühle in die Tiefe gebaut. Das Wasser läuft durch
Schleusen auf die Räder, es stürzt sich von da in Felsritzen, wo es
eingeschluckt wird und erst eine Stunde von da im Valorbe hervor kommt,
wo es wieder den Namen des Orbeflusses führet. Diese Abzüge
(entonnoirs) müssen rein gehalten werden, sonst würde das Wasser
steigen, die Kluft wieder ausfüllen und über die Mühle weg gehen, wie
es schon mehr geschehen ist. Sie waren stark in der Arbeit begriffen,
den morschen Kalkfelsen theils wegzuschaffen, theils zu befestigen.
Wir ritten zurück über die Brücke nach Pont, nahmen einen Wegweiser
auf la Dent.
Im Aufsteigen sahen wir nunmehr den großen See völlig hinter uns.
Ostwärts ist der noir Mont seine Gränze, hinter dem der kahle Gipfel
der Dole hervorkommt, westwärts hält ihn der Felsrücken, der gegen den
See ganz nackt ist, zusammen. Die Sonne schien heiß, es war zwischen
Eilf und Mittag. Nach und nach übersahen wir das ganze Thal, konnten
in der Ferne den Lac des Rousses erkennen, und weiter her bis zu
unsern Füßen die Gegend durch die wir gekommen waren, und den Weg der
uns rückwärts noch überblieb. Im Aufsteigen wurde von der großen
Strecke Landes und den Herrschaften, die man oben unterscheiden könnte,
gesprochen, und in solchen Gedanken betraten wir den Gipfel; allein
uns war ein ander Schauspiel zubereitet. Nur die hohen Gebirgketten
waren unter einem klaren und heitern Himmel sichtbar, alle niederen
Gegenden mit einem weißen wolkigen Nebelmeer überdeckt, das sich von
Genf bis nordwärts an den Horizont erstreckte und in der Sonne glänzte.
Daraus stieg ostwärts die ganze reine Reihe aller Schnee- und
Eisgebirge, ohne Unterschied von Namen der Völker und Fürsten, die sie
zu besitzen glauben, nur Einem großen Herrn und dem Blick der Sonne
unterworfen, der sie schön röthete.
Der Montblanc gegen uns über schien der höchste, die Eisgebirge des
Wallis und des Oberlandes folgten, zuletzt schlossen niedere Berge des
Cantons Bern. Gegen Abend war an einem Platze das Nebelmeer
unbegränzt, zur Linken in der weitsten Ferne zeigten sich sodann die
Gebirge von Solothurn, näher die von Neufchâtel, gleich vor uns einige
niedere Gipfel des Jura, unter uns lagen einige Häuser von Vaulion,
dahin die Dent gehört und daher sie den Namen hat.
Gegen Abend schließt die Franche-Comté mit flachstreichenden waldigen
Bergen den ganzen Horizont, wovon ein einziger ganz in der Ferne gegen
Nordwest sich unterschied. Grad ab war ein schöner Anblick. Hier ist
die Spitze, die diesem Gipfel den Namen eines Zahns gibt. Er geht
steil und eher etwas einwärts hinunter, in der Tiefe schließt ein
kleines Fichtenthal an mit schönen Grasplätzen, gleich drüber liegt
das Thal Valorbe genannt, wo man die Orbe aus dem Felsen kommen sieht
und rückwärts zum kleinen See ihren unterirdischen Lauf in Gedanken
verfolgen kann. Das Städtchen Valorbe liegt auch in diesem Thal.
Ungern schieden wir. Einige Stunden längeren Aufenthalts, indem der
Nebel um diese Zeit sich zu zerstreuen pflegt, hätten uns das tiefere
Land mit dem See entdecken lassen; so aber mußte, damit der Genuß
vollkommen werde, noch etwas zu wünschen übrig bleiben. Abwärts
hatten wir unser ganzes Thal in aller Klarheit vor uns, stiegen bei
Pont zu Pferde, ritten an der Ostseite den See hinauf, kamen durch
l'Abbaye de Joux, welches jetzt ein Dorf ist, ehemals aber ein Sitz
der Geistlichen war, denen das ganze Thal zugehörte. Gegen Viere
langten wir in unserm Wirthshaus an, und fanden ein Essen, wovon uns
die Wirthin versicherte, daß es um Mittag gut gewesen sei, aber auch
übergar trefflich schmeckte.
Daß ich noch einiges, wie man mir es erzählt, Canton Bern, und sind
die Gebirge umher die Holzkammer von dem Pays de Vaud. Die meisten
Hölzer sind Privatbesitzungen, werden unter Aufsicht geschlagen und so
in's Land gefahren. Auch werden hier die Dauben zu fichtenen Fässern
geschnitten, Eimer, Bottiche und allerlei hölzerne Gefäße verfertiget.
Die Leute sind gut gebildet und gesittet. Neben dem Holzverkauf
treiben sie die Viehzucht; sie haben kleines Vieh und machen gute Käse.
Sie sind geschäftig, und ein Erdschollen ist ihnen viel werth. Wir
fanden einen, der die wenige aus einem Gräbchen aufgeworfene Erde mit
Pferd und Karren in einige Vertiefungen eben der Wiese führte. Die
Steine legen sie sorgfältig zusammen und bringen sie auf kleine Haufen.
Es sind viele Steinschleifer hier, die für Genfer und andere Kaufleute
arbeiten, mit welchem Erwerb sich auch die Frauen und Kinder
beschäftigen. Die Häuser sind dauerhaft und sauber gebaut, die Form
und Einrichtung nach dem Bedürfniß der Gegend und der Bewohner; vor
jedem Hause läuft ein Brunnen, und durchaus spürt man Fleiß,
Rührigkeit und Wohlstand. Über alles aber muß man die schönen Wege
preisen, für die, in diesen entfernten Gegenden, der Stand Bern wie
durch den ganzen übrigen Canton sorgt. Es geht eine Chaussee um das
ganze Thal herum, nicht übermäßig breit, aber wohl unterhalten, so daß
die Einwohner mit der größten Bequemlichkeit ihr Gewerbe treiben, mit
kleinen Pferden und leichten Wagen fortkommen können. Die Luft ist
sehr rein und gesund.
Den 26. ward bei'm Frühstück überlegt, welchen Weg man zurück nehmen
wolle. Da wir hörten daß die Dole, der höchste Gipfel des Jura, nicht
weit von dem obern Ende des Thals liege, da das Wetter sich auf das
herrlichste anließ und wir hoffen konnten, was uns gestern noch
gefehlt, heute vom Glück alles zu erlangen; so wurde dahin zu gehen
beschlossen. Wir packten einem Boten Käse, Butter, Brot und Wein auf,
und ritten gegen Achte ab. Unser Weg ging nun durch den obern Theil
des Thals in dem Schatten des noir Mont hin. Es war sehr kalt, hatte
gereift und gefroren; wir hatten noch eine Stunde im Bernischen zu
reiten, wo sich die Chaussee, die man eben zu Ende bringt, abschneiden
wird. Durch einen kleinen Fichtenwald rückten wir in's französische
Gebiet ein. Hier verändert sich der Schauplatz sehr. Was wir zuerst
bemerkten, waren die schlechten Wege.
Der Boden ist sehr steinicht, überall liegen sehr große Haufen
zusammen gelesen; wieder ist er eines Theils sehr morastig und quellig;
die Waldungen umher sind sehr ruiniret; den Häusern und Einwohnern
sieht man ich will nicht sagen Mangel, aber doch bald ein sehr enges
Bedürfniß an. Sie gehören fast als Leibeigne an die Canonici von St.
Claude, sie sind an die Erde gebunden, viele Abgaben liegen auf ihnen
(sujets à la main morte et au droit de la suite), wovon mündlich ein
mehreres, wie auch von dem neusten Edict des Königs, wodurch das droit
de la suite aufgehoben wird, die Eigenthümer und Besitzer aber
eingeladen werden, gegen ein gewisses Geld der main morte zu entsagen.
Doch ist auch dieser Theil des Thals sehr angebaut. Sie nähren sich
mühsam und lieben doch ihr Vaterland sehr, stehlen gelegentlich den
Bernern Holz und verkaufen's wieder in's Land. Der erste Sprengel
heißt le Bois d'Amont, durch den wir in das Kirchspiel les Rousses
kamen, wo wir den kleinen Lac des Rousses und les sept Moncels, sieben
kleine, verschieden gestaltete und verbundene Hügel, die mittägige
Gränze des Thals, vor uns sahen. Wir kamen bald auf die neue Straße,
die aus dem Pays de Vaud nach Paris führt; wir folgten ihr eine Weile
abwärts, und waren nunmehr von unserm Thale geschieden; der kahle
Gipfel der Dole lag vor uns, wir stiegen ab, unsre Pferde zogen auf
der Straße voraus nach St. Sergues, und wir stiegen die Dole hinan.
Es war gegen Mittag, die Sonne schien heiß, aber es wechselte ein
kühler Mittagswind. Wenn wir, auszuruhen, uns umsahen, hatten wir les
sept Moncels hinter uns, wir sahen noch einen Theil des Lac des
Rousses und um ihn die zerstreuten Häuser des Kirchspiels, der noir
Mont deckte uns das übrige ganze Thal, höher sahen wir wieder ungefähr
die gestrige Aussicht in die Franche-Comté und näher bei uns, gegen
Mittag, die letzten Berge und Thäler des Jura. Sorgfältig hüteten wir
uns, nicht durch einen Bug der Hügel uns nach der Gegend umzusehen, um
derentwillen wir eigentlich herauf stiegen. Ich war in einiger Sorge
wegen des Nebels, doch zog ich aus der Gestalt des obern Himmels
einige gute Vorbedeutungen. Wir betraten endlich den obern Gipfel und
sahen mit größtem Vergnügen uns heute gegönnt, was uns gestern versagt
war. Das ganze Pays de Vaud und de Gex lag wie eine Flurkarte unter
uns, alle Besitzungen mit grünen Zäunen abgeschnitten, wie die Beete
eines Parterres. Wir waren so hoch, daß die Höhen und Vertiefungen
des vordern Landes gar nicht erschienen.
Dörfer, Städtchen, Landhäuser, Weinberge, und höher herauf, wo Wald
und Alpen angehen, Sennhütten, meistens weiß und hell angestrichen,
leuchteten gegen die Sonne. Vom Lemaner-See hatte sich der Nebel
schon zurück gezogen, wir sahen den nächsten Theil an der diesseitigen
Küste deutlich; den sogenannten kleinen See, wo sich der große
verenget und gegen Genf zugeht, dem wir gegenüber waren, überblickten
wir ganz, und gegenüber klärte sich das Land auf, das ihn einschließt.
Vor allem aber behauptete der Anblick über die Eis- und Schneeberge
seine Rechte. Wir setzten uns vor der kühlen Luft in Schutz hinter
Felsen, ließen uns von der Sonne bescheinen, das Essen und Trinken
schmeckte trefflich. Wir sahen dem Nebel zu, der sich nach und nach
verzog, jeder entdeckte etwas, oder glaubte etwas zu entdecken. Wir
sahen nach und nach Lausanne mit allen Gartenhäusern umher, Vevey und
das Schloß von Chillon ganz deutlich, das Gebirg das uns den Eingang
vom Wallis verdeckte, bis in den See, von da, an der Savoyer Küste,
Evian, Ripaille, Tonon, Dörfchen und Häuschen zwischen inne; Genf kam
endlich rechts auch aus dem Nebel, aber weiter gegen Mittag, gegen den
Montcrédo und Mont-vauche, wo das Fort l'Ecluse inne liegt, zog er
sich gar nicht weg. Wendeten wir uns wieder links, so lag das ganze
Land von Lausanne bis Solothurn in leichtem Duft. Die nähern Berge
und Höhen, auch alles, was weiße Häuser hatte, konnten wir erkennen;
man zeigte uns das Schloß Chanvan blinken, das vom Neuburgersee links
liegt, woraus wir seine Lage muthmaßen, ihn aber in dem blauen Duft
nicht erkennen konnten. Es sind keine Worte für die Größe und Schöne
dieses Anblicks, man ist sich im Augenblick selbst kaum bewußt, daß
man sieht, man ruft sich nur gern die Namen und alten Gestalten der
bekannten Städte und Orte zurück, und freut sich in einer taumelnden
Erkenntniß, daß das eben die weißen Puncte sind, die man vor sich hat.
Und immer wieder zog die Reihe der glänzenden Eisgebirge das Aug' und
die Seele an sich. Die Sonne wendete sich mehr gegen Abend und
erleuchtete ihre größern Flächen gegen uns zu. Schon was vom See auf
für schwarze Felsrücken, Zähne, Thürme und Mauern in vielfachen Reihen
vor ihnen aufsteigen! Wilde, ungeheure, undurchdringliche Vorhöfe
bilden! wenn sie dann erst selbst in der Reinheit und Klarheit in der
freien Luft mannichfaltig da liegen; man gibt da gern jede Prätension
an's Unendliche auf, da man nicht einmal mit dem Endlichen im
Anschauen und Gedanken fertig werden kann.
Vor uns sahen wir ein fruchtbares bewohntes Land; der Boden worauf wir
stunden, ein hohes kahles Gebirge, trägt noch Gras, Futter für Thiere,
von denen der Mensch Nutzen zieht. Das kann sich der einbildische
Herr der Welt noch zueignen; aber jene sind wie eine heilige Reihe von
Jungfrauen, die der Geist des Himmels in unzugänglichen Gegenden, vor
unsern Augen, für sich allein in ewiger Reinheit aufbewahrt. Wir
blieben und reizten einander wechselsweise, Städte, Berge und Gegenden,
bald mit bloßem Auge, bald mit dem Teleskop, zu entdecken, und gingen
nicht eher abwärts, als bis die Sonne, im Weichen, den Nebel seinen
Abendhauch über den See breiten ließ. Wir kamen mit Sonnenuntergang
auf die Ruinen des Fort de St. Sergues. Auch näher am Thal, waren
unsre Augen nur auf die Eisgebirge gegenüber gerichtet. Die letzten,
links im Oberland, schienen in einen leichten Feuerdampf
aufzuschmelzen; die nächsten standen noch mit wohl bestimmten rothen
Seiten gegen uns, nach und nach wurden jene weiß, grün, graulich. Es
sah fast ängstlich aus. Wie ein gewaltiger Körper von außen gegen das
Herz zu abstirbt, so erblaßten alle langsam gegen den Montblanc zu,
dessen weiter Busen noch immer roth herüber glänzte und auch zuletzt
uns noch einen röthlichen Schein zu behalten schien, wie man den Tod
des Geliebten nicht gleich bekennen, und den Augenblick, wo der Puls
zu schlagen aufhört, nicht abschneiden will. Auch nun gingen wir
ungern weg. Die Pferde fanden wir in St. Sergues, und daß nichts fehle,
stieg der Mond auf und leuchtete uns nach Nyon, indeß unterweges
unsere gespannten Sinnen sich wieder lieblich falten konnten, wieder
freundlich wurden, um mit frischer Lust aus den Fenstern des
Wirthshauses den breitschwimmenden Widerglanz des Mondes im ganz
reinen See genießen zu können.
Hier und da auf der ganzen Reise ward soviel von der Merkwürdigkeit
der Savoyer Eisgebirge gesprochen, und wie wir nach Genf kamen, hörten
wir, es werde immer mehr Mode dieselben zu sehen, daß der Graf eine
sonderliche Lust kriegte, unsern Weg dahin zu leiten, von Genf aus
über Cluse und Salenche in's Thal Chamouni zu gehen, die Wunder zu
betrachten, dann über Valorsine und Trient nach Martinach in's Wallis
zu fallen. Dieser Weg, den die meisten Reisenden nehmen, schien wegen
der Jahrszeit etwas bedenklich. Der Herr de Saussure wurde deßwegen
auf seinem Landgute besucht und um Rath gefragt. Er versicherte, daß
man ohne Bedenken den Weg machen könne: es liege auf den mittlern
Bergen noch kein Schnee, und wenn wir in der Folge auf's Wetter und
auf den guten Rath der Landleute achten wollten, der niemals fehl
schlage, so könnten wir mit aller Sicherheit diese Reise unternehmen.
Hier ist die Abschrift eines sehr eiligen Tageregisters.


Cluse in Savoyen den 3. November.
Heute bei'm Abscheiden von Genf theilte sich die Gesellschaft; der
Graf, mit mir und einem Jäger, zog nach Savoyen zu; Freund W. mit den
Pferden durch's Pays de Vaud in's Wallis. Wir in einem leichten
Cabriolett mit vier Rädern, fuhren erst, Hubern auf seinem Landgute zu
besuchen, den Mann, dem Geist, Imagination, Nachahmungsbegierde zu
allen Gliedern heraus will, einen der wenigen ganzen Menschen, die wir
angetroffen haben. Er setzte uns auf den Weg, und wir fuhren sodann,
die hohen Schneegebirge, an die wir wollten, vor Augen, weiter. Vom
Genfersee laufen die vordern Bergketten gegen einander, bis da, wo
Bonneville, zwischen der Mole, einem ansehnlichen Berge, und der Arve
inne liegt. Da aßen wir zu Mittag. Hinter der Stadt schließt sich
das Thal an, obgleich noch sehr breit, die Arve fließt sachte durch,
die Mittagseite ist sehr angebaut und durchaus der Boden benutzt. Wir
hatten seit früh etwas Regen, wenigstens auf die Nacht, befürchtet,
aber die Wolken verließen nach und nach die Berge und theilten sich in
Schäfchen, die uns schon mehr ein gutes Zeichen gewesen. Die Luft war
so warm, wie Anfang Septembers und die Gegend sehr schön, noch viele
Bäume grün, die meisten braungelb, wenige ganz kahl, die Saat hochgrün,
die Berge im Abendroth rosenfarb in's Violette, und diese Farben auf
großen, schönen, gefälligen Formen der Landschaft. Wir schwatzten
viel Gutes. Gegen Fünfe kamen wir nach Cluse, wo das Thal sich
schließet und nur Einen Ausgang läßt, wo die Arve aus dem Gebirge
kommt und wir morgen hineingehen. Wir stiegen auf einen Berg und
sahen unter uns die Stadt an einen Fels gegenüber mit der einen Seite
angelehnt, die andere mehr in die Fläche des Thals hingebaut, das wir
mit vergnügten Blicken durchliefen, und auf abgestürzten Granitstücken
sitzend, die Ankunft der Nacht, mit ruhigen und mannichfaltigen
Gesprächen, erwarteten. Gegen Sieben, als wir hinabstiegen, war es
noch nicht kühler, als es im Sommer um neun Uhr zu sein pflegt. In
einem schlechten Wirthshaus, bei muntern und willigen Leuten, an deren
Patois man sich erlustigt, erschlafen wir nun den morgenden Tag, vor
dessen Anbruch wir schon unsern Stab weiter setzen wollen.
Abends gegen Zehn.


Salenche den 4. Nov. Mittags.
Bis ein schlechtes Mittagessen von sehr willigen Händen wird bereitet
sein, versuche ich das Merkwürdigste von heute früh aufzuschreiben.
Mit Tages Anbruch gingen wir zu Fuße von Cluse ab, den Weg nach Balme.
Angenehm frisch war's im Thal, das letzte Mondviertel ging vor der
Sonne hell auf und erfreute uns, weil man es selten so zu sehen
gewohnt ist. Leichte, einzelne Nebel stiegen aus den Felsritzen
aufwärts, als wenn die Morgenluft junge Geister aufweckte, die Lust
fühlten, ihre Brust der Sonne entgegen zu tragen und sie an ihren
Blicken zu vergülden. Der obere Himmel war ganz rein, nur wenige
durchleuchtete Wolkenstreifen zogen quer darüber hin. Balme ist ein
elendes Dorf, unfern vom Weg, wo sich eine Felsschlucht wendet. Wir
verlangten von den Leuten, daß sie uns zur Höhle führen sollten, von
der der Ort seinen Ruf hat. Da sahen sich die Leute unter einander an
und sagten einer zum andern: Nimm du die Leiter, ich will den Strick
nehmen, kommt ihr Herrn nur mit! Diese wunderbare Einladung schreckte
uns nicht ab, ihnen zu folgen. Zuerst ging der Stieg durch
abgestürzte Kalkfelsenstücke hinauf, die durch die Zeit vor die steile
Felswand aufgestufet worden und mit Hasel- und Buchenbüschen
You have read 1 text from German literature.
Next - Briefe aus der Schweiz - 2
  • Parts
  • Briefe aus der Schweiz - 1
    Total number of words is 4511
    Total number of unique words is 1557
    37.8 of words are in the 2000 most common words
    51.0 of words are in the 5000 most common words
    56.8 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
  • Briefe aus der Schweiz - 2
    Total number of words is 4470
    Total number of unique words is 1506
    37.2 of words are in the 2000 most common words
    50.5 of words are in the 5000 most common words
    56.1 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
  • Briefe aus der Schweiz - 3
    Total number of words is 4448
    Total number of unique words is 1527
    40.2 of words are in the 2000 most common words
    54.6 of words are in the 5000 most common words
    60.0 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
  • Briefe aus der Schweiz - 4
    Total number of words is 4502
    Total number of unique words is 1543
    41.6 of words are in the 2000 most common words
    55.8 of words are in the 5000 most common words
    60.9 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
  • Briefe aus der Schweiz - 5
    Total number of words is 303
    Total number of unique words is 185
    57.7 of words are in the 2000 most common words
    66.6 of words are in the 5000 most common words
    69.7 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.