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Briefe an Ludwig Tieck (4/4) - 15

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  Neulich hat der Vater von meinem Herrn Vetter geschrieben. Ich kann
  es ihm nicht verdenken, daß er es etwas übel genommen hat, wenn ich
  mich von seiner Gesellschaft so entfernt hielt auf der Reise. Doch,
  einerley. Sein Sohn wird in Erlangen, vermuthlich mit seinem Vetter,
  der schon da ist, zusammenziehn. An diesen werde ich schreiben, um mir
  Quartiere für uns, in Einem Hause zu bestellen. Mich dünkt, Du hast mir
  auch sonst gesagt, lieber in andern Häusern als in Professorhäusern. --
  Ich wünsche von ganzer Seele, daß Du mich nicht allzu fade wiederfinden
  mögest. Ich bin sonst jetzt in der schönsten Schule, es zu werden. Aber
  noch ein Wort über den Umgang mit meiner täglichen Gesellschaft. Ich
  kann mich noch immer nicht überzeugen, und werde es auch schwerlich,
  daß man bey dergleichen Leuten seinen Charakter so ganz offen zeigen,
  und bey jeder Gelegenheit, wenn auch nicht seine ungewöhnlichern
  Meynungen mit Indiscretion aufdringen, doch sie ganz rund heraussagen
  müsse, wenn man dazu veranlaßt würde. Meine Meynung ist: sag’ ich
  so einem Menschen Einen Satz aus meinem System, äußere ich ihm Eine
  Behauptung aus meinem eigenthümlichen Vorrath von Grundsätzen, so
  weiß er das ganze System, sieht gleich, daß ich in die Klasse der
  Sonderlinge gehöre, und ich komme immer in Kollision mit ihm. Sage ich
  ihm z. B. der oder jener scheint mir fade, so kommt den Augenblick eine
  Gelegenheit, wo er mit diesem einerley Meynung ist, mit ihm gleich
  dumm gesprochen hat. Oder man sieht mich immer als einen Menschen an,
  der alles besser wissen will (wenn ich auch mit aller Bescheidenheit
  Paradoxa vortrüge, -- und ein Paradoxon ists ja selbst, daß -- die
  Hagestolzen schöner sind als Don Juan); man nimmt wohl zuweilen zu
  meinem Richter-Ausspruch als zu einem Orakel, seine Zuflucht, aber man
  hält sich auch hinter dem Rücken über mich auf. Ueberdies traue ich mir
  nicht zu, diese Rolle beständig und ununterbrochen zu spielen: und
  eine _Rolle_ ist wirklich mein eigener Charakter bey Leuten wie
  jene; -- ich bin zuweilen auch menschliche, sinnlicher, lustiger,
  gewöhnlicher; was kann mehr auffallen als diese Ungleichheit? Man wird
  sich ruhig zurückziehn und kalt gegen mich seyn, auch wenn ich mich
  recht herzlich über das schöne Wetter freue, oder über eine lustige
  Anekdote vertraulich mitlachen will. Mich dünkt (wenn meine Worte
  meine Gedanken jetzt im Augenblick auch nicht passend und glücklich
  genug ausgedrückt haben), Du kannst mir in dieser Sache den traurigen
  Ruhm mehrerer Erfahrung wohl zugestehn! -- Wenn ich Dir nur noch
  Beyspiele geben könnte. -- Aber mir wollen keine beyfallen. Genug,
  ich kann meinen wahren Charakter nicht ganz zur Schau stellen; ich
  würde ihn selbst dadurch vielleicht verderben und ihm eine falsche
  Richtung geben. Ich überdecke also seine vielleicht anstößigen Stellen.
  Nun aber glaube ja nicht, ums Himmelswillen nicht, daß ich mich so
  erniedrige, meine Hauptgrundsätze zu verläugnen. Nichts in der Welt
  ist mir gehässiger und würde mich selbst mehr mit Schaamröthe beziehn,
  als wenn ich’s auf ähnliche Weise wie ein Musiker in Berlin machte,
  der, um nicht anzustoßen, in jeder Gesellschaft, wenn man ihn nach
  Alessandri’s Musik fragte, vortrefflich, vortrefflich antwortete,
  ohne ihn je innerlich leiden zu können. Meine Universalmedicin, mein
  Arkanum, was ich schon so unendlich oft in so unendlich mannigfaltigen
  Fällen mit Vortheil angewandt habe, ist -- das Schweigen, oder auch,
  was fast eben so viel ist, eine ganz allgemeine, ganz unbestimmte,
  ganz unbefriedigende Erklärung, die eigentlich die Antwort mehr
  von sich ablehnt, als wirklich antwortet. Auch hinter spitzfindige
  Zweydeutigkeiten versteck’ ich mich nicht gern. Folgt’ ich nicht
  diesen meinen Regeln, so würde ich (Du kannst wirklich das nicht so
  ganz einsehen als ich) jeden Moment anstoßen. Langeweile, schlechte
  Gesellschaft, Geschmacklosigkeit, und wer zählt alle die Gegenstände
  die bey solchen Herren im Gespräch anzüglich seyn können? Du sagst
  sehr richtig, daß ich mich vor ihnen nicht zu zwingen und zu geniren
  brauche. Aber was hilfts mir, Streit und mißvergnügte Stunden zu haben?
  _Ich_ sehe kein ander Mittel, als mich ihnen (hoffentlich weißt Du
  nun in welcher Hinsicht) etwas zu nähern. -- Freilich kann ich nicht
  läugnen, daß ich mich zuweilen wohl etwas zu weit erniedrige, nur um
  durch einen Einfall _sie_ zu amusiren und _mich_ vor der
  Langeweile zu bewahren; allein welche Uebereilung, welche Schwachheit
  wäre in einer mühseligen Prüfungszeit von 365 Tagen und noch halb 365
  Tagen, nicht verzeihlich? Und versichern kann ich auch, daß ich wohl
  öfter noch, auf der andern Seite, etwas zu sehr in die mir natürliche
  Hitze komme, wenn ich sehe, daß man _gar_ zu albern spricht und
  urtheilt. Doch schweig’ ich bald, so gern, so sehr gern ich auch oft
  meine Leidenschaft ausließe (Du kennst mich). Beide Extreme mußt Dir
  aber nicht _zu_ übertrieben vorstellen. (Doch, abermals: Du kennst
  mich; -- ich habe ganz aufrichtig geschrieben, wenn auch nicht immer
  mit den passendsten Worten.) Was meynst Du nun?
  Rambach, der mir heut wieder eine _vortreffliche_ Stelle aus
  seinen Syrakusern (Ist: Hiero und seine Familie genannt) vorgelesen hat
  (Bernhardi, mit mir, haltens für sein vollendetstes Werk), fragte mich
  heut auch, ob ich nichts für mich schriebe? Ich habe keine lebendige
  Aufmunterung; die Hälfte meiner Seele ist von mir gerissen! Und meine
  Zeit wird von oft nicht würdigen Dingen und Zerstreuungen besetzt.
  Ach! die Jurisprudenz! Wann werde ich mich überwinden können, nur
  mein Gedächtniß mit der Terminologie, Definition, Distinktion u. s.
  w. zu bemühen! Was ist das Römische Recht für ein seltsam Gewebe von
  Worten und Worten und Worten, womit die einfachsten Sachen umsponnen
  sind! Und was führt ein Richter für ein Amt! Eine Begebenheit, die
  Herzen zersprengen und Köpfe wahnsinnig machen kann, eine Sache der
  Leidenschaft, der menschlichen Seele, wie sieht er sie an? Er sucht
  unter den verschiedenen barbarischen Namen, welche die Römer den Klagen
  gegeben haben, den aus, der für den Fall paßt; und nun wird das Uhrwerk
  aufgezogen; es geht seinen Gang und läuft ab. Es ist grade so, als
  wenn der Knabe, der rechnen lernt, auf seinem schematisch aufgesetzten
  Einmal Eins oben 4 an der Seite 5 aufsucht, und mit beyden Fingern
  zusammenfährt, bis er auf 20 trifft. Ehe diese Sache zu Ende ist, sind
  schon 100 neue eingelaufen: das Räderwerk geht immer und ewig, -- jene
  Menschen trotzen aller menschlichen Empfindung, nähren sich von Blut
  und Thränen; -- o man kann sich das Bild sehr schrecklich machen! --
  Aber freilich sprech ich wohl etwas einseitig. Ich selbst indeß mag nie
  Richter, nie ein großer Jurist seyn. -- --
  Du bist von mir immer das aufrichtigste Urtheil gewohnt gewesen. Dies
  und nichts mehr mag die Einleitung dazu seyn, daß ich Dir gestehe, in
  Deinem Adalbert und Emma, das ich heut Abend durchgelesen habe, wenig
  Vortreffliches gefunden zu haben. Das meiste ist (ich spreche immer
  von Dir, und in Vergleichung mit dem was Du vermagst) sehr gewöhnlich,
  und trägt die deutlichsten Spuren der Flüchtigkeit an sich. Warum
  müssen doch Leute wie Du, so schnell schreiben! Die Züge, die Du an
  10 verschiedenen Orten unter 100 weniger schönen hinwirfst, könnten,
  zusammengestellt, Meisterstücke geben! Wenn doch mehr vollkommene,
  wenigstens mehr ausgearbeitete Werke erschienen. -- Doch dies paßt
  hier nicht. -- Im Ganzen bleib’ ich hartnäckig bey meinen Gedanken,
  daß das Charakteristische des Ritterkostums im ganzen Geiste nicht so
  recht dargestellt ist. Aber darüber ein andermal. Dann kommts mir so
  vor, als wenn nicht die einzelnen Umstände unter Deiner Hand sich
  Dir dargeboten und sich zu Deinem Zwecke hingeneigt hätten, sondern,
  als wenn Du sie immer selbst hättest zusammenholen und zum Ziele
  bringen müssen. Ich meyne, man sieht zu sehr immer das Bedürfniß des
  Verfassers; es ist alles zu schwach. Auch sind Deine Schilderungen Dir
  zu häufig entfahren. Ich könnte Dir viel Belege und Beyspiele zeigen,
  aber das ist zu weitläuftig. Die Schilderung, wie Emma ihren Adalbert
  nach und nach vergißt, und Friedrich hingegen das Gegentheil, ist
  _sehr gut_. Aber dadurch daß Emma nachher gleich zwischen Wilhelm,
  den sie zum erstenmale sieht, und Adalbert, einen ehemaligen wahren
  Geliebten, dessen Gedächtniß in ihrer Seele _schlummert_, gleich
  eine so grelle Vergleichung anstellt, ist _höchst widrig_. Die
  einzige ächt genievolle Stelle, die mir sich aufgedrungen hat, ist die
  Schilderung von Adalbert’s Hinreiten zur Friedens-Burg, am Ende: diese
  ist sehr erschütternd. Die Idee in den letzten Versen am Ende ist sehr
  artig. Die Stelle: Als er am Morgen aufwachte, war Adalbert und sein
  Versprechen, sein Erster Gedanke: ist ganz aus der menschlichen Seele
  geschöpft.
  _Sonnabend_. Gestern Abend hab’ ich Deiner Schwester den
  neuen Theil des Stücks ganz vorgelesen und mich über ihre Urtheile
  _sehr_ gefreut. Sie stimmten fast _durchaus mit den meinigen
  überein_. Sie sagte sehr richtig bey jener widrigen Stelle: Eine
  neue heftige Leidenschaft _verlischt gänzlich die Erinnerung der
  alten_. In Löwenaus Entschuldigung vor sich selbst sind auch viel
  wahre und schöne Stellen, nur zerstreut.
  Meinen herzlichen Gruß an Deinen Burgsdorf. Wißmann läßt Dich grüßen.
  Ich freue mich unendlich auf Ostern und auf die Zeit nach Ostern! Ich
  bestelle Dir noch eine Stube und eine Kammer? -- Schreib mir bald,
  mein liebster, einziger Tieck und bleib’ gesund.
   _W. H. Wackenroder_.
  
  XI.
   Dienstag.
   _Mein lieber, bester Tieck!_
  Unsre Briefe haben sich begegnet, und mit ihnen unsre Seelen. Sollte
  mein etwas dickleibiges Schreiben ja das Unglück gehabt haben geöffnet
  zu werden? Nun, was thuts! Was wird man gelacht haben über meine
  gereimte Verzweiflung, die ich Dir geschickt habe!
  Es trägt sehr viel zu meinem Vergnügen, ja zu meinem Leben bey, daß
  ich Dich in Göttingen so glücklich weiß. Möchte sich das nie ändern,
  so lange Du dort bist, und möchtest du eine eben so schöne Zukunft
  erwarten und finden, wenn ich Dich in meine Arme wieder aufnehmen
  werde. Ich freue mich schon darauf, wie Du mir in Erlangen den
  Shakespeare erklären wirst. Da ich wenig geistvollen Umgang habe,
  so thue ich itzt auch, so viel ich auf gute Weise kann. Du hast
  vielleicht schon aus meiner neulichen Anführung aus einem altdeutschen
  Gedichte, ersehen, womit ich mich jetzt beschäftige. Ich höre beym
  Prediger Koch, der in der That ein äußerst gelehrter, kenntnißreicher
  und eifrig thätiger Mann ist, ein Kollegium über die allgemeine
  Literatur-Geschichte, vornehmlich über die schönen Wissenschaften unter
  den Deutschen. Da hab’ ich denn manche sehr interessante Bekanntschaft
  mit altdeutschen Dichtern gemacht und gesehn, daß dies Studium, mit
  einigem Geist betrieben, sehr viel Anziehendes hat. Ich habe mir auch
  einige Stücke abgeschrieben und schmeichle mir jetzt öfters mit der
  (wenn auch kindischen, doch ergötzenden) Hoffnung, einmal in dem
  Winkel mancher Bibliothek, Entdeckungen in diesem Fach zu machen, oder
  wenigstens es durch kleine Aufklärungen zu erweitern. Schon Sprache,
  Etymologie und Wortverwandschaften (besonders auch das Wohlklingende
  der alten Ostfränkischen Sprache) machen das Lesen jener alten
  Ueberbleibsel interessant. Aber auch davon abstrahirt, findet man viel
  Genie und poetischen Geist darin. Du wunderst Dich vielleicht, wie ich
  auf diese Sachen falle; allein Beschäftigung ist jetzt das Beßte für
  mich, und zu gelehrt werd’ ich wahrlich nicht werden.
  Nächst diesem aber hab’ ich noch ein anderes Lieblingsstudium, was ich,
  wär’ ich an dem Orte wo Du bist, mit ganzer Seele umfassen würde, und
  das ist die Archäologie. Ich beneide Dich: wie wollte ich die Göttinger
  Bibliothek nutzen! Besiehst Du etwa auch dies oder jenes große Werk
  darin über alte Kunst, so gieb mir doch Nachricht davon. -- In Erlangen
  hoff’ ich meinen Lieblingsneigungen aber mit wahrerer Muße nachhängen
  zu können, als hier.
  Ein paar Neuigkeiten. Im 2ten Stück des 110ten Bandes der Allgemeinen
  deutschen Bibliothek hab’ ich ganz vor Kurzem Rambachs Theseus auf Kr.
  recensirt gelesen. Man hat ihm nur etwa 1½ Seite gegönnt, und darauf
  stand weiter nichts, als: daß der Plan schlecht sey, daß man lange
  nicht so holprige, unmusikalische Verse gesehn, und daß die Schreibart
  in Prosa höchst affektirt sey. Die beyden letzten Punkte waren mit
  einigen Beispielen belegt. Wieder eine Bestätigung meines Urtheils. --
  -- Moritz hatte neulich geheirathet. Siede (der abscheuliche Mensch)
  ist mit Moritz’s Frau davongegangen? aber man hat sie eingeholt, und
  Siede sitzt im Arrest. -- Bey Moritz fällt mir noch eins ein. Sage mir,
  erkläre mir, wie kommt es, daß er, allem Anschein nach, jetzt einen
  so sonderbaren Charakter annimmt: schon seit einiger Zeit hab’ ich
  von _glaubwürdigen_ Leuten gehört, daß er sich gegen den Grafen
  Herzb. auf der Akademie mit der _kriechendsten Schmeicheley_
  bezeigen soll. Das ist mir doch noch ein wenig unerklärbarer, als
  daß er Grammatiken schreiben konnte. Erkläre mir, wenn Du kannst,
  ich bitte Dich recht sehr, diese räthselhafte Erscheinung an Deinem
  Zwillingsbruder. Das Faktum darfst Du in der That nicht bezweifeln.
  Ueber Adalbert und Emma hast Du mein Urtheil. Natürlich wars nur ein
  flüchtiger Aufsatz, wie Du nun auch sagst. Daß Emma verächtlich wird,
  scheint Dir also doch auch so fehlerhaft? Nun wir sind ja immer einig.
  Deine Schwester wußte mir, als ich’s ihr vorlas, zu meinem Vergnügen
  viele Parallelstellen aus Deinen älteren Gedichten anzuführen. -- Ueber
  Burgsdorfs Stück hab’ ich Deinen Auftrag bestellt. Warum wirft er’s
  um? -- Und warum verläßt Du Deine arme Anna B. im Tode? frag’ ich Dich
  sehr ernstlich. Es sollte mir sehr leid thun, wenn der Gegenstand das
  Interesse für Dich verlohren hätte!
  Was urtheilst Du von meinen neulichen Bruchstücken einer Theorie des
  Umgangs? Es liegt mir etwas daran, es zu wissen. Ich könnte noch manche
  Nachträge dazu machen, weil in der Eil mir nicht alles beygefallen ist,
  meine Meynung ganz auseinanderzusetzen und sie gegen mehr als Eine
  Seite für Einwürfe zu sichern. Z. B. daß mein Vorschlag freilich nur
  das letzte Refugium ist und es auch sein Widriges hat, wenn man sich
  etwas dumm oder vielmehr zurückhaltend stellt; daß in Gesellschaft
  mehrerer Menschen von ganz verschiednem Werth man freilich nicht so
  ganz offen seine Liebe und Neigung dem einen Theil bezeugen kann, wenn
  man seine Rolle gegen den andern nicht verpfuschen, und das Reizende
  eines stundenlangen interessanten Umgangs, durch die unangenehmen
  Folgen erkaufen will, die bey dem nachher immer fortgesetzten Umgang
  mit jenen andern die Umwandelung des Charakters und das Bloßgeben
  seiner wahren Gesinnungen nach sich ziehn. Mir fällt noch ein Beyspiel
  ein. Wenn ich einmal von Erziehung spreche und mit allem Eifer das
  Abgeschmackte der gewöhnlichen Erziehung bestreite, behaupte, daß es
  ein Gift für Kinder ist, wenn man sie im 4ten Jahre schon mit Strenge
  zur Schule treibt, sie mit Kenntnissen aller Art vollpfropft, und
  zu Hause will, daß sie die Zeit so vernünftig eintheilen, und mit
  ihren Sachen so ökonomisch umgehen sollen wie, -- ein vielleicht bald
  70jähriger Herr Arnoldi bey uns; -- wenn ich mich in dergleichen
  Diskurse mit Lebhaftigkeit (und ohnedem kann ichs nicht) einlasse, --
  so erzählt mir den Augenblick darauf mein Herr V. daß er auch seit dem
  4ten Jahre in die Schule gegangen ist, mit der größten Trockenheit
  (denn irgend etwas, was er weiß oder denkt, doch _wissen_ ist
  das rechte Wort, das würde ihm unmöglich, -- was sag’ ich! ich glaube
  er würde krank, wenn er es bey sich behielte --), genug ich bin dann,
  zumal wenn meine Aeltern dabey sind, aufs Maul geschlagen. Ists nun hier
  nicht hundertmal besser, wenn ich sage: „Ich halte eine gute Erziehung
  für äußerst schwer und weiß nicht, wie ich sie am Besten einrichten
  sollte.“ Und was vergebe ich denn da meinen eigenthümlichen Meynungen?
  Was schiebe ich mir denn aus Höflichkeit oder Gefälligkeit für
  Grundsätze unter, deren ich mich zu schämen hätte? -- Ich weiß durchaus
  keine andre Methode als die meinige. Daß sie die bequemste ist und ich
  sie deswegen schätze, darfst Du wahrlich nicht glauben; denn es würde
  mir oft weit leichter seyn, mich der drückenden Last meiner Gedanken
  und Empfindungen zu entladen, als sie in mir zu unterdrücken. -- Doch
  ich will erst Deine Einwürfe gegen das was ich schon gesagt habe,
  hören, ehe ich mehr sage. Du wirst verzeihen, daß ich so weitläuftig
  in dieser Sache bin: ich wünschte, daß wir uns auch über diesen Punkt
  einmal einverständigten, unsre gegenseitigen Meynungen mit einander
  mischten und in Eine Masse kneteten, die künftig alsdann ein Eigenthum
  von uns beyden würde, wie wir es schon öfters bey andrer Gelegenheit
  gemacht haben.
  Die übertriebene Reizbarkeit meiner Nerven, für die ich keinen Namen
  habe, und auf die ich in der That nicht stolz seyn darf, ist mir bey
  jenem Umgange auch sehr zur Last. Jedem andern würde ich Räthsel
  sprechen, aber _Du_ wirst in meine Seele eindringen, wenn ich Dir
  sage, daß der bloße Anblick eines Menschen wie -- mir im eigentlichen
  Verstande _wehe_ thut, mir Schmerzen macht. Blos ihn ansehen,
  macht meine Brust so beklemmt, daß ich nicht frey Athem hohlen kann. Ja
  was mehr ist, ich kann ihn kaum ansehen, ohne in mir die unbehaglichste
  Empfindung des Widerwillens und der Abneigung zu fühlen; eine
  Empfindung, die gewiß, öfter wiederholt, einen nachtheiligen Einfluß
  hat, den Kopf abstumpft und -- das Herz verdirbt. Jede Fröhlichkeit,
  jede Liebe, jede Zuneigung veredelt uns, ist selber Tugend; jedes
  Gefühl, wovon Haß die Wurzel ist, verschlechtert und erniedrigt uns.
  Dies sind Grundsätze, von denen ich itzt vollkommen überzeugt bin. Auch
  verstehe ich itzt ungleich mehr, als sonst, was Du mir einst sagtest:
  daß der Anblick eines schönen und ausdrucksvollen Gemähldes, ja der
  Genuß des Schönen in allen schönen Künsten, _ganz unmittelbar_ das
  Herz veredelt und die Seele erhebt. Ich fühl’ es so deutlich, wenn ich
  nur Dein Gesicht ansehe, so bin ich gut, aber _sein_ Gesicht, das
  verstimmt ganz und gar die harmonischen Saiten meiner Seele.
  Noch eine Probe meiner Reizbarkeit mußte ich neulich erfahren.
  Des Abends ward bey Tische aus einer neuen Seereise, die rührende
  Geschichte eines Schiffskapitäns erzählt, der von seinen rebellirenden
  Leuten auf ein Boot ausgesetzt, und mit der größten Lebensgefahr und
  unter allaugenblicklicher Furcht vor Hunger zu sterben mit wenigen
  seiner treuen Gefährten von Otaheiti nach England zurückgekommen war.
  Dies machte mich so mißmüthig, daß ich gleich zu Bette gieng. Ich hatte
  eine Empfindung, als wenn mir vor mir selber ekelte, daß ich hier so
  ruhig und glücklich säße; es war mir, als hätt’ ich Unglück mit Gold
  erkaufen können, und meinen Körper geißeln und kasteien. Dabey kam ich
  aber nachher auf die Idee, diese Empfindung in eine Ode zu bringen,
  und überhaupt, eine ganz eigne Art von Oden einzuführen: Eine Art, die
  ich lyrische Gedichte κατ’ ἐξοχην nennen würde, und die immer meine
  Lieblingsgattung gewesen sind. Es sollen treue Gemählde der Empfindung
  und Leidenschaft seyn, ganz individuell und ganz nach der Natur gemalt.
  Sie sollen den ächten, wahren Ausbruch der Leidenschaft darstellen,
  ihren Keim, ihre Quelle andeuten, auf ihre Folgen führen und so dazu
  dienen, Menschen Menschenherzen kennen zu lehren, Menschen Menschen zu
  erklären und zu entdecken, und Menschen vor Menschen zu vertheidigen.
  Sie sollen zeigen, wie der Glückliche und Unglückliche durch das
  Uebermaaß seiner Empfindung zu Verbrechen geleitet werden kann; sie
  sollen den kältesten Hörer erwärmen und mit sich fortreißen, daß er am
  Ende selbst erschrickt, wohin er sich gestürzt sieht, aber eben dadurch
  aufs Fühlbarste lerne, wie er von empfindenden Menschen urtheilen soll.
  Einige Oden von Stollberg sind ganz in diesem Charakter. Schillers Oden
  sind die unerreichbaren Muster dieser Gattung. Sieh dagegen Ramlersche
  Oden an, und -- horazische! Der Leser ist immer außerhalb der Welt
  des Dichters, und kann nur Kritik des Plans anwenden. Wie anders
  ist das dort? Man mag nachher freilich auch den Dichter als Dichter
  betrachten und bewundern, man mag seinen Plan analysiren: allein,
  was ist dies auch für ein Plan? Kein Plan! es ist der feurige Strom
  der Leidenschaft, der wie die Lava vom Aetna ströhmt, wo nicht die
  Frage ist, warum diese Welle auf jene folgt, warum jene größere alle
  kleineren vor sich verschlingt! wo in der Natur, im Original alles
  Beweisen der Vollkommenheit des Stücks liegt! Hier muß man ganz zur
  Person der Ode werden, ganz selbst empfinden, selbst Dichter seyn. Bey
  Ramler hingegen muß man seinen Scharfsinn anstrengen, um die künstliche
  und ausstudierte Kombination seiner Ideen und klugen Gedanken zu fassen
  und zu schätzen. Ich hoffe, Du wirst mich ganz so verstehen, wie ich
  mich selbst verstehe. -- Die Ode, die ich Dir neulich schickte, sollte
  ein kleiner Versuch in dieser Art seyn. In der, wovon ich Dir vorher
  sagte, wollte ich die Empfindung eines Menschen schildern, der von
  dem tausendfachen Elend der Menschheit bey eigener Zufriedenheit so
  niedergedrückt wird, daß er sich in einsame Wüsten stürzt, und in
  wahnsinniger Schwärmerey auf die Idee kommt, sich allerley Pönitenzen
  aufzulegen. Sollte eine solche Ode nicht ein helles Licht auf jene
  schwärmerischen Eremiten des Mittelalters werfen, und den Weg,
  wenigstens Einen Weg zeigen, auf welchem die Menschen zu Handlungen
  kommen, die den meisten so widersinnig und abgeschmackt scheinen, daß
  sie jene für ganz vernunftlose, fast nicht zur Menschheit gehörende
  Wesen halten? nicht zeigen, daß es grade das Gefühl ihrer Menschheit
  war, die sie zu ihren paradoxen Ideen leitete? Ich habe schon mehr
  dergleichen Entwürfe im Kopf, aber bis itzt, bey tausend Hindernissen
  und Störungen noch ganz unmöglich Zeit gehabt, einen auszuführen. --
  Was meine kleinen lyrischen Gedichte überhaupt betrifft, so sind sie
  alle mehr empfindungs- als gedankenvoll, weil sie mir weit mehr lyrisch
  auf jene Art, als auf diese scheinen, und diejenigen, (welche die
  meisten sind,) die ein Ausbruch meiner eigenen individuellen Empfindung
  waren, werden einen Beitrag zur Geschichte meines Geistes ausmachen.
  Als Juristen, wenn ich je einer werden sollte, wird meine
  Empfindsamkeit mir auch eine wahre Bürde seyn. Ein paar Abende
  hat mir mein Vater Akten eines kleinen Prozesses gezeigt und sie
  mich ganz durchlesen lassen. Es ist wahr, zur rechten Darstellung
  der Hauptumstände des Faktums, zur Beurtheilung desselben, und
  zur Anwendung der Gesetze darauf, gehört eine gewisse Kritik, die
  allerdings den Verstand beschäftigt und schärft, wenigstens bey etwas
  schwierigen Sachen. Und alle Kritik ist, wie ich jetzt ganz wohl
  einsehe, eine schätzbare und liebenswürdige Thätigkeit des Geistes.
  Aber abgerechnet, daß sie in der Jurisprudenz oft höchst unsicher ist,
  daß ihre Freiheit durch positive Gesetze, Gewohnheiten und tausend
  Kleinigkeiten eingeschränkt wird, und daß es kein sehr tröstlicher
  Gedanke seyn kann, sich mit seinem guten Gewissen allein zu beruhigen,
  und gänzlich ungewiß zu seyn, ob man, weil der Mensch nicht allwissend
  ist, und Prozesse doch ein Ende haben müssen, wirklich nach der
  Gerechtigkeit entschieden, oder, getäuscht, wer weiß wie viel Menschen
  unglücklich gemacht habe: -- das alles abgerechnet, ist es schon
  eine mir äußerst widrige Aussicht: daß ich meinen kalten Verstand
  brauchen soll, wo Herzen gegeneinander stoßen; daß ich das Feuer der
  Leidenschaft mit Wasser ersticken, -- den Knoten des mannigfaltig
  verschlungenen Interesses so vieler zerhauen, -- einen Vorfall, über
  den ich, wenn ich ihn auf der Bühne dargestellt sähe, von dem innigsten
  Mitleid durchdrungen, in Thränen zerflöße, einen solchen Vorfall -- wie
  eine Variante einer gemeinen Leseart ansehen, und überlegen, ausrechnen
  soll, ob er in den Zusammenhang paßt oder nicht. Freilich ist eine
  Jurisprudenz im Staate nöthig; freilich ist es nöthig, daß der Richter,
  (ich kann nicht anders sprechen, weil ich durchaus nicht sehe, wie das
  Gegentheil seyn könnte), daß er menschliche Empfindung verläugnen, und
  sich zu einem kalt die Handlungen der Menschen abwägenden Wesen über
  die Menschheit erhöhen muß; freilich! -- Nur _ich_! -- Und, um
  wider auf Kritik zurückzukommen, so gestehst Du mir gewiß leicht ein,
  daß _sie_ nicht das edelste Bestreben, und das höchste Verdienst
  des Menschen seyn kann. Sie besteht immer nur in Vergleichung,
  Zusammensetzung und Trennung dessen, was schon da ist, im Verwandeln
  des schon existirenden. Nur _Schaffen_ bringt uns der Gottheit
  näher; und der Künstler, der Dichter, _ist_ Schöpfer. Es lebe
  die Kunst! Sie allein erhebt uns über die Erde, und macht uns unsers
  Himmels würdig. --
  Mein Freund Schuderoff hat uns _wieder_ geschrieben. Die Freude
  über eine Braut, die ein äußerst liebenswürdiges Mädchen seyn muß, hat
  ihn in einen ausgelassenen Taumel von Freude versetzt. Er schreibt mit
  der muthwilligsten Laune. Er will uns mit offenen Armen erwarten, und
  gar nicht einmal mit 14 Tagen zufrieden seyn. Wir werden göttlich bey
  ihm leben.
  Schreib mir, wenn Du kannst, litterarische und archäologische
  Neuigkeiten und Alterthümer, -- von den Göttinger Gelehrten Etwas u. s.
  w. Forkels Geschmack thut mir leid. -- Bleib gesund. Keinen Augenblick
  länger Zeit! Grüß Burgsdorf! Schreibe bald.
   _W. H. Wackenroder_.
  
  XII.
   Im Januar 1793.
   _Lieber, bester Tieck_.
  Eben komm’ ich vom Hofjäger zurück, wo ich mit Bernhardi den ganzen
  Nachmittag im Saal gesessen habe, um beym Kaffee, ich meinen herrlichen
  Brief von Dir, Er den seinigen und einen Theil des kleinen Trauerspiels
  zu studieren. Er hat mir eben aufgetragen, Dir zu danken, daß Du ihm
  heut einen so _sehr_ angenehmen Nachmittag gemacht hast. Auf dem
  Rückwege war er sehr heiter und laut, und hat mir lauter Stellen aus
  Axur vorgesungen, die sich ihm unauslöschlich eingeprägt haben, und
  die ihn außerordentlich entzücken. Ich danke Dir, daß Du ihm die
  Freude gemacht, mir einen so kolossalen Brief zu bringen; denn, da
  _ich_ heut Mittag keinen erhielt, kam er mir ganz unerwartet.
  Es ist sonderbar, daß ich erst heute durch Deine Antworten auf unsre
  Briefe erfahren habe, daß er wieder hypochondrisch ist; gegen mich hat
  er sich nichts merken lassen, und ich bin so glücklich gewesen, auch
  nichts an ihm zu merken, wie ich mich denn bey dergleichen Vorfällen
  oft leicht täuschen kann. Ich sollte nicht denken, daß er zu viel
  arbeitete, und Bewegung macht er sich auch gewiß hinlänglich, denn
  er geht itzt alle Nachmittage zum Hofjäger und trinkt dort Kaffee.
  Zerstreuungen hat er doch auch sonst genug, sollt’ ich meynen. Er
  ist nicht mit sich selbst zufrieden, er fühlt Mißbehagen in seiner
  Lage, wie er mir heut gestand. Unglückseliger Zustand! Welches Mittel
  vermag etwas gegen dieses Uebel, zumal wenn man es so sorgfältig in
  seinem Busen verschließt und da veralten läßt, wenn man sich mit der
  heitern Aussenseite verstellter, erzwungner Fröhlichkeit gegen jede
  Arzeney, gegen alle zuvorkommende Hülfsleistung waffnet. Aber ich
  denke, Bernhardi wird bald besser. Deine melancholische Träumerey,
  mit der Du Dich wohl schon ein Jahr getragen hast, daß Du ihn nicht
  wiedersehen werdest, ist eine Grille, von der ich durchaus keinen
  Grund sehe, und wobey Dein Ahndungsgeist ganz zuverläßig Dich betrügt.
  Ich begreife gar nicht, wie Du Dir solche aus der Luft gegriffene
  Ideen in den Kopf setzen kannst. -- Es freut mich, daß Du Bernhardi
  so liebst, denn er verdients und liebt Dich außerordentlich. Ja wohl
  ist er itzt hier mein bester, mein einziger Freund. Wen hab’ ich
  denn auch sonst? Wen hab’ ich? -- O wie glücklich preise ich Dich in
  Deinem gelehrten Cirkel! Ich kann es Dir bey diesen Umständen kaum
  verdenken, daß Du mir mit lächelnder Miene schreibst: ich behandelte
  die Materie über meinen hiesigen Umgang und mein Verhalten dabey
  wohl zu ernsthaft; daß Du Dich weiter gar nicht über meine, aus
  den Wunden eines kranken Herzens fliessende Klagen auslässest;
  und mich mit einem Paar allgemeiner Sätze abfertigest, die eine so
  unbestimmte Mittelstraße angeben, als nur irgend ein Gemeinplatz eines
  pflegmatischen Moralisten thun kann. Das ewige: Nicht zu viel und nicht
  zu wenig! Die allgemeinsten Ausdrücke, die sich erdenken lassen! Die
  
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