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Briefe an Ludwig Tieck (2/4) - 12

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   Vergeblich war das Suchen nach einem Blättchen von Heinrich
   Kleist’s Handschrift. Damit der theure _Name_, für dessen
   lebendigen und vollen Nachklang unser Tieck so viel gethan, in
   diesem Buche wenigstens nicht fehle, geben wir ein Briefchen seiner
   Anverwandten, welches der Schreiberin nicht weniger zur Ehre
   gereicht wie dem Empfänger.
   Auch zwei andere, auf Heinrich Kleist’s Person und Werke bezüglich,
   hielten wir für die Mittheilung sehr geeignet.
   Von dem unglücklichsten aller _großen deutschen Dichter_ kann
   nie zuviel geredet, sein Gedächtniß kann nicht oft genug gefeiert
   werden.
  
   I.
   ? den 3ten März 1817.
  Ganz wunderbar ist mir zu Muthe, indem ich heute die Feder ergreife,
  um an Tieck zu schreiben, an Tieck mit dem ich seit so vielen Jahren
  gelebt und geliebt. Mit einem mahle stehen mir eine ganze Reihe von
  Gefühlen und Genüssen im Geiste und im Herzen -- ich weiß nicht mit
  welchen Worten ich einen so lieben alten Bekannten begrüßen soll?
  Ohnmöglich kann ich Ihnen wie einem Fremden schreiben. Sie sind ja
  mein alter Freund Tieck, mit dem ich ganz intim bin, mit dem ich froh,
  traurig, fromm, heilig war. Daß eine solche Intimität stattfinden kann,
  so ganz von einer Seite, ohne daß der Andere sie ahnet ist wunderbar.
  Noch wunderbarer, daß ein Buch den Menschen lebendiger ergreift,
  als alle Sterbliche die ihn umringen; mehr _zu_ seinem Innern,
  _aus_ seinem Innern spricht, als Alle die er genau kennt, und
  die ihn genau kennen; daß manches Buch den Menschen, der es lieset,
  deutlicher ausspricht, als er sich selbst auszusprechen vermag!
  Ach, wenn dem armen einsamen Sterblichen Dieses begegnet, soll er
  sich gleich aufmachen, Pferde bestellen, und mit Extrapost den
  Schriftsteller aufsuchen, um durch seinen Anblick die Fäden, die sie
  so unbewußt an einander binden, fester und fester zu verweben. Solche
  Reise zu Ihnen hätte ich schon lange unternehmen müssen! Außerdem sind
  Sie noch der Geistes-Verwandte meines Vetters Heinrich Kleist, den er
  oft selbst für seiner Nächsten Einen erklärte. Jetzt wollen Sie noch
  seine Werke herausgeben: wie viele Fäden zu einem Seelenbündniß! --
  Werde ich Sie denn einmal sehen? sprechen? -- -- --
  Über die Details der Herausgabe habe ich mit Schützen geredet;
  ohnmöglich kann ich diese Sachen gegen Sie berühren. Das wäre mir eine
  unleidliche Störung. Auch abschreiben kann ich diesen Brief nicht;
  auch das würde mich Ihnen entfremden. Ach, und leider fühle ich mich
  so fremd, daß es mir recht wohl thut, mich Ihnen ganz unzierlich und
  bequem darzustellen. Ich drücke Ihnen recht herzlich die Hand.
   _Maria Kleist_.
  
   II.
   L., den 26. Nov. 1816.
   _Ew. Wohlgeboren_
  bin ich von meiner Mutter beauftragt, Alles zu senden, was ich noch aus
  dem poetischen Nachlaß Heinrich von Kleist’s besize. Leider besteht
  mein ganzer Reichthum in einer Abschrift seiner Penthesilea, die ich
  Ihnen hierbey mit Vergnügen überschicke, da als sie geschrieben wurde,
  nur einige wenige Abschriften in den Händen vertrauter Freunde davon
  existirten und ich, schon seit acht Jahren aus jedem litterarischen
  Kreis herausgerückt nicht weiß, ob sie schon einmal gedruckt worden
  ist. Ich will sie daher lieber Ew. Wohlgeboren _umsonst_
  schicken, als mir den Vorwurf machen, die Gelegenheit versäumt zu
  haben, zur Verherrlichung eines der edelsten Menschen und genialsten
  Dichter unsrer Zeit etwas beyzutragen, der in beiden Eigenschaften
  so vielvältig verkannt worden, mir aber in beiden ein Hauptlehrer
  gewesen ist, zu der Zeit, als ich in dem interessanten Kreise aufwuchs,
  dessen Hauptzierde er mit war. Leider vermuthet meine Mutter auch
  „die Geschichte seiner Seele“ bey mir; bey unsrer Trennung behielt
  _sie_ aber dieselbe und macht mir durch ihre Nachfrage sehr
  bange um die Wiederauffindung dieses unschäzbaren Werkes, welches
  wahrscheinlich in dem Getümmel der letzten Zeit verloren gegangen ist,
  ohne welches aber Kleists ganze Schriften nur ein Fragment bleiben
  dürften, wenigstens für die, welche ihn gern _ganz_ kennen und
  würdigen, vorzüglich seinen lezten Schritt gern entschuldigen möchten.
  Warum sparte er doch die unglückliche Kugel nicht mindestens so lange
  noch auf, um sie, wie Körner aus dem Gewehr des Feindes zu empfangen
  und wie ein ächt deutscher Sänger unter den Tönen einer vaterländischen
  Siegeshymne zu fallen! -- -- Sollte sich „die Geschichte seiner Seele,“
  noch finden lassen, so wäre sie wohl am sichersten bey Herrn Obrist
  Rühle von Lilienstern zu suchen, für den sie ursprünglich geschrieben
  war. Noch hatte meine Mutter mehrere Hefte von seiner eignen Hand
  „Fragmente“ überschrieben. Es waren wirklich nur solche; ausser der
  Novelle Josephe und Jeronimo und der Erzählung vom Roßkamm -- (den
  Namen habe ich vergessen) enthielten sie nur einzelne hingeworfene
  Ideen und Bemerkungen, die aber gröstentheils voll tiefen Sinns waren
  und die gleichfalls mehr zur Anschauung „seiner Seele“ dienen, als
  seine eigentlichen Dichtungen. Auch von diesen weiß ich nicht, wo sie
  hingekommen, noch ob sie im Druck erschienen sind, daher _nenne_
  ich sie Ihnen wenigstens. Hat Ihnen meine Mutter, ein Gedicht „an die
  Kamille“ und das „an den König“ geschickt, das für seinen im Frühjahr
  1809 in Berlin erwarteten Einzug bestimmt war? Beides waren nur
  Gelegenheitsgedichte, aber wie alles von ihm doch von Bedeutung; er
  dichtete das erste für meine Mutter, die sich einst über die Dichter
  beklagte, welche alle Blumen nur die Kamille nicht besängen, die doch
  denen so heilsam sey die, wie sie, an Krämpfen litten. Ihr und meiner
  kleinen Person zu Ehren, wurden sie denn nebst den Vergißmeinnicht und
  Veilchen im Traum des Käthchen erwähnt. Das Gedicht an den König wäre
  _jezt_ als erfüllte Prophezeihung doppelt interessant. Die Sünde
  die er an seinem herrlichen Robert Guiscard begangen hat, möge ihm Gott
  wie die an sich selbst begangene verzeihn! Wohl dem jüngern Dichter,
  dem ein alter Meistersänger ein Denkmal sezt, wie Sie ihm! Möge Ihnen
  Ihr eignes Bewußtsein lohnen und der inniggefühlte Dank Derer, die sich
  gern an dem Schönen erfreuen, sey es auch wie hier der Fall, oft nur
  ein schönes Streben und die Ihnen, da Sie selbst jezt so karg sind,
  doppelt danken, daß Sie uns mit etwas Fremden die Lücke ausfüllen, die
  der Verlust älterer Meister und der Mangel würdiger Schüler uns in der
  Litteratur unsers Vaterlandes zu machen drohen. Wann werden sich doch
  die guten frommen Jünger endlich überzeugen, daß eine Genoveva und
  ein Sternbald nur _einmal_ geschrieben werden kann und daß alle
  Nachahmungen davon nur Schattenbilder sein können? -- -- Haben Sie
  die Güte unter die, welche Ihnen ganz vorzüglich Kleists Werke danken
  werden, auch zu rechnen
   Ew. Wohlgeboren
   ergebenste
   _Johanna v. H._
  
   III.
   _Chemnitz_, d. 12. April 1832.
   _Hochgeehrtester Herr Hofrath!_
  Das große Interesse, welches ich stets an den classischen Erzeugnissen
  Ihrer Muse, andern Theils aber auch an den Werken der Autoren, durch
  deren erneuerte Herausgabe Sie Sich ein bleibendes Verdienst erwarben,
  insbesondere an denen Heinrich’s von Kleist, genommen habe, so wie
  vornämlich die Hoffnung, daß Ihnen ein kleiner Beitrag zur Biographie
  des ebengenannten Dichters nicht unwillkommen sein wird, mögen mich und
  meine Dreistigkeit, Ew. Wohlgeboren mit einer Zuschrift zu behelligen,
  entschuldigen.
  Im Anfuge finden Sie die Copie zweier Originalbriefe von Kleist, welche
  ich behufs der Einsendung an Ew. Wohlgeboren habe nehmen lassen und die
  ich Ihnen sonach zuständig mache.
  Ich glaube annehmen zu dürfen, daß Ihnen Reliquien eines
  Schriftstellers, wie Kleist, und besonders eines Mannes, der in so
  naher literarischer Beziehung zu Ihnen stand, nicht ganz unangenehm,
  vielleicht sogar interessant sein dürften, zumal da die angefügten
  brieflichen Mittheilungen in eine Periode fallen, welche, indem der
  Dichter seinen Stand änderte und die Gelehrten-Laufbahn betrat,
  vielleicht die Folie zu Kleist’s späterem lit. Ruhme war, --
  Mittheilungen, welche einen tiefen Blick in die Fühl- und Denkweise des
  Dichters gewähren und die Ihnen wenigstens als eine Privat-Ergänzung
  zu den biographischen Umrissen, welche Sie den Schriften Kleist’s
  vorangeschickt haben, dienen können.
  Die Mittheilung dieser Briefe, (deren Originalia mir vor Kurzem,
  beim Durchsehen unterschiedlicher Manuscripte, wieder aufstießen
  und bei welcher Gelegenheit mir der Gedanke einkam, Ihnen Abschrift
  davon einzusenden) verdanke ich einem Preußischen Geistlichen
  (jetzt Consistorial-Rath), der drei Jahre lang auch mein Erzieher
  war. Derselbe hatte in der letzten Hälfte der 80er Jahre vorigen
  Jahrhunderts in Frankfurt a. O. studirt, war der Familie Kleist’s
  befreundet und wurde, nach beendeten Studien (er erhielt eine
  interimistische Anstellung alldort), von derselben zum Hauslehrer
  Heinrich’s und eines Vetters desselben, eines von P., bestimmt.
  Der Lehrer genoß der Liebe und des Vertrauens seiner Zöglinge in hohem
  Grade, die ihm auch von Seiten Kleist’s, wie aus beifolgenden Briefen
  erhellet, für spätere Zeit verblieben.
  Da Sie Kleist nahe befreundet waren und mit den früheren Verhältnissen
  desselben eben so wohl, wie mit den späteren, gewißlich genau bekannt
  sind und genauer, als ich nach den -- obgleich sehr ausführlichen --
  mündlichen Mittheilungen des vorgedachten Geistlichen: so enthalte
  ich mich zwar des Weitern, bitte Sie jedoch bescheidentlichst,
  nachfolgender Notiz -- welche ich einfließen lasse, da Ihnen deren
  Inhalt vielleicht nicht bekannt sein dürfte -- einige Aufmerksamkeit zu
  schenken.
  Jener Geistliche versicherte mich, daß ihm nichts interessanter gewesen
  wäre, als seinen Scholaren, Kleist und P. Unterricht zu ertheilen
  und sie zu beaufsichten, indem sie einander ganz entgegengesetzte
  Charactere waren: K. ein nicht zu dämpfender Feuergeist, der Exaltation
  selbst bei Geringfügigkeiten anheimfallend, unstät, aber nur dann, wenn
  es auf Bereicherung seines Schatzes von Kenntnissen ankam, mit einer
  bewundernswerthen Auffassung-Gabe ausgerüstet, von Liebe und warmem
  Eifer für das Lernen beseelt; kurz der offenste und fleißigste Kopf
  von der Welt, dabei aber auch anspruchslos. -- P. war ein stiller,
  gemüthlicher Mensch, sehr zum Tiefsinn geneigt. Er stand zwar dem
  genialen Vetter Heinrich an Lust und Liebe zum Lernen, an ausdauerndem
  Fleiße nicht im Geringsten nach; aber ihn hatte die Natur in geistiger
  Hinsicht stiefmütterlich behandelt; er vermochte, so sehr er sich auch
  Mühe gab, nur schwer zu fassen, während K. spielend lernte und zur
  Fortstellung der Gegenstände beim Unterrichte eifrigst trieb.
  Daß der Stand des Lehrers, bei der großen Verschiedenheit der geistigen
  Anlagen seiner Zöglinge, deren verschiedenen Temperamenten, ein fast
  mißlicher war, läßt sich denken. -- Was K. in einer Lection loskriegte
  (um mich eines acad., aber passenden Ausdrucks zu bedienen), dazu
  bedurfte P. deren mehre, weshalb sich auch der Lehrer des letztern um
  so mehr annehmen und den Eifer des erstern zu zügeln suchen mußte.
  Er enthielt sich daher auch jeder Austheilung von noch so verdienten
  Lobsprüchen zu K.’s. Gunsten und zwar auf eine Weise, welche der
  Eitelkeit desselben nicht zu nahe trat und dessen Lernbegierde nicht
  schwächte, und ließ dem wackern Streben P.’s (wenn gleich nicht mit dem
  von beiden Seiten gewünschten Erfolge nur einigermaßen gekrönt) stets
  gerechte Anerkennung widerfahren und lobte P. in K.’s Gegenwart, statt
  daß es eigentlich der umgekehrte Fall hätte sein sollen. -- Doch gaben
  die ungewöhnlichen Fortschritte, welche K. machte, die tagtäglichen
  Beweise seiner ausgezeichneten Geistesfähigkeiten, der Schwermuth des
  sich überaus unglücklich fühlenden und mit sich schon fast zerfallenden
  P.’s Nahrung. -- Nach beendeter Lection und auch außerdem warf sich P.
  oft, bitterlich weinend, an die Brust des Lehrers und schluchzte: Ach,
  warum hat mich gerade, der ich es mir so angelegen sein lasse, etwas zu
  lernen, die Natur so stiefmütterlich behandelt? Warum wird mir Alles so
  schwer, während dem Vetter Heinrich das Schwierigste so leicht? -- und
  so klagte er fortwährend. -- Der Lehrer that alles Mögliche, den Unmuth
  des geliebten Zöglings zu scheuchen und ließ es an Zuspruch, Rath und
  Anerkennung der äußerst-möglichen Anstrengungen P.’s nicht fehlen.
  Die Schwermuth hat P. indeß nie verlassen, sondern schlug noch fester
  Wurzel und durch sie fand er auch später einen freiwilligen Tod. Das
  Glück ist ihm auch späterhin, als Zögling der Milit. Acad. und als
  Officier, nie hold gewesen.
  Irre ich nicht, so hörte ich auch, daß K. und P. in der Folge
  auch einmal schriftlich (persönlich sind Beide nie wieder
  zusammengetroffen) die Verabredung getroffen hatten, beide eines
  freiwilligen Todes zu sterben. Verbürgen läßt sich dieß freilich nicht.
  In dem ersten der beiliegenden Briefe wendet sich K. (er that es
  späterhin, schriftlich und mündlich wiederholentlich und führte einen
  langen Briefwechsel darüber) an seinen ehemaligen Lehrer, um dessen
  Meinung über eine Standesänderung, unter obwaltenden Umständen,
  einzuholen. -- Der Geistliche, an den sich K. dabei inniger schloß,
  als an seine Verwandten und Freunde, that natürlich sein Möglichstes
  (gleich diesen), um den exaltirten Jüngling von seinem Vorhaben
  abzubringen.
  K. hatte weiterhin, unter des Conrector’s Bauer in Potsdam Leitung,
  die Maturität zur Univ. erlangt und war, nach mannichfachem Mühsal, so
  glücklich gewesen, den so ersehnten Abschied zu erhalten. --
  Das Concert in Frankfurt a|O. war zu Ende, der mehrberegte Geistliche,
  der es auch besucht hatte, schickte sich an, zu gehen, als er plötzlich
  hinterrücks einen traulichen Schlag auf die Schulter erhielt. Er
  erschrickt, sieht sich um und gewahrt Kleist, der in einen großen
  Reitermantel gehüllt ist. Dieser ist in großer Aufregung und theilt ihm
  (dem Geistl.) Holter di polter mit, daß er nun endlich seinen Abschied
  erhalten habe und in Frankf. studiren wolle.
  K. war, seinen Abschied in der Tasche, wie im Fluge von Berlin
  geritten, hatte den ehemal. Lehrer in dessen Behausung aufgesucht, aber
  gehört, daß derselbe im Concert sei, und war nun ~stante pede~,
  wie er war, in dasselbe geeilt, um den Freund sofort von dem Gelingen
  des Plans in Kenntniß zu setzen. Der Referent verschwand eben so
  hastig, wie er gekommen. --
  So weit meine Mittheilungen. Ob die Schwester und bekannte
  Reisegefährtin Kleist’s, Ulrike, die früherhin Directrice eines
  Erziehung-Instituts für adelige Fräulein in Frankf. a.|O. war, noch
  lebt, ist mir nicht bewußt.
   * * * * *
  Wenn ich mir nun schmeicheln darf, Ew. Wohlgeboren eben so wenig durch
  die Einsendung der Beilagen, als durch vorstehende Mittheilungen,
  lästig gefallen zu sein: so glaube ich mich wol zugleich nicht der
  Bemerkung enthalten zu dürfen, daß es mir höchst schmeichelhaft sein
  würde, wenn Ew. Wohlgeboren Veranlassung nähmen, mich durch einige
  gelegentliche Antwortzeilen zu erfreuen.
  Mit ausgezeichneter Hochschätzung hat die Ehre zu beharren
   Ew. Wohlgeboren
   ganz ergebenster
   _C. Eduard Albanus_.
  
  
  Koberstein, A.
  
   Professor am alt-ehrwürdigen Gymnasium zu Schulpforta,
   hochbegabter, geistreicher und gründlicher Gelehrter. Sein
   Hauptwerk: „Grundriß der deutschen National-Litteratur“
   gilt bei allen Kennern für eines der umfassendsten und
   wissenschaftlich-bedeutendsten in diesem Fache. Was er als
   _Lehrer_ thut, verkünden seine dankbaren Schüler mit lautem
   Munde aller Orten. Wir haben aus mehreren Briefen von seiner
   Hand gerade diesen ausgewählt, weil er den ganzen Charakter des
   vortrefflichen Mannes so schön und vollständig zur Anschauung
   bringt.
   Seiner Notiz, die Erwähnung des _Cabanis_ von W. Alexis in
   einem Zeitungs-Artikel betreffend, möchten wir unsererseits die
   Anmerkung beifügen, daß von einer _solchen_ Zusammenstellung
   jenes Buches mit dem „Phantasus“ Niemand schmerzlicher betroffen
   gewesen sein kann, als Wil. Alexis, Tiecks anhänglicher Schüler und
   Verehrer.
  
   _Pforta_, d. 14. Novbr. 1839
   _Höchstverehrter Herr Hofrath!_
  Mehr als ein Vierteljahr ist seit meiner Abreise von Dresden vergangen,
  und noch immer haben Sie kein Wort des Dankes von mir für die überaus
  große Güte und Freundlichkeit vernommen, die ich wieder bei Ihnen
  gefunden. Schreiben Sie dieß nicht einem Mangel an gutem Willen zu.
  Gott weiß, wie mein Herz an Ihnen hängt, und wie kein Tag vergeht,
  an dem ich Ihrer nicht in innigster Verehrung und, warum soll ich es
  nicht sagen, in kindlicher Liebe gedenke, sei es für mich allein, sei
  es im Gespräch mit meiner Frau. Und da hat es mich denn oft gedrängt,
  mich gegen Sie auszusprechen und Ihnen für die unvergeßlichen Stunden
  zu danken, die Sie gütig genug waren, mir, wie früher so auch diesen
  Sommer wieder zu bieten. Allein wie oft müssen wir uns das versagen,
  wozu das Herz uns zieht! In den ersten Wochen nach meiner Rückkehr
  wartete ich auf das Buch, welches mir mein Freund v. Mühlenfels zur
  Übersendung an Sie einzuhändigen versprochen hatte und das er erst
  aus England mußte kommen lassen. Dann brach eine solche Fluth von
  Amtsgeschäften und Störungen aller Art auf mich ein, daß ich bis vor
  wenigen Tagen nur selten Herr einer Stunde gewesen bin. Jetzt aber,
  wo ich wenigstens auf eine kurze Zeit freier athmen kann, will ich
  auch nicht länger säumen, mich einmal wieder in Gedanken ganz zu Ihnen
  zu versetzen und zu thun, als säße ich Ihnen gegenüber und hätte die
  Erlaubniß, mich frei gegen Sie auszusprechen. Ich weiß wohl, wie
  unendlich gering der Gehalt dessen immer gewesen ist, womit ich Ihre
  goldenen Worte einzutauschen gesucht habe; aber ich müßte Sie gar
  nicht kennen, wenn ich nicht glauben sollte, daß es Ihnen doch auch
  etwas gilt, wenn Sie in ein volles Herz schauen können, das Ihnen so
  aufrichtig ergeben ist und das aus Ihren Worten, aus Ihren Schriften
  die schönste Nahrung zu ziehen sich nun schon so lange gewöhnt hat.
  Gegen keinen Mann, so viele ich deren auch kennen gelernt habe, ist
  mein Vertrauen aber je so groß gewesen, gegen keinen habe ich mich so
  ganz rückhaltslos über die tiefsten und heiligsten Bedürfnisse meines
  Innern, über das, was mich freudig und schmerzlich bewegt, aussprechen
  mögen, wie gegen Sie. Leider hat mir die Sprache nie in dem Maße zu
  Gebote gestanden, daß ich Ihnen Alles hätte sagen können, was in mir
  vorging, wenn ich mich in Ihrer Nähe befand; doch Sie werden es schon
  herausgefühlt haben, was ich empfand und sagen wollte.
  Den letzten Abend in Dresden brachte ich im Theater zu. Man gab die
  Geschwister von Raupach, wie es mir schien viel besser, als es das
  unsittliche Stück verdiente. Ich glaubte Sie öfter durch die Gitter
  einer kleinen Loge neben dem Theater zu erkennen; nach der Vorstellung
  sah ich beim Heraustreten aus dem Hause eine Sänfte dem Schlosse
  zu tragen; ich vermuthete Sie darin, eilte nach, um Ihnen nochmals
  Lebewohl zu sagen, aber die Träger waren zu schnell, und ich mußte mit
  meinem kleinen Begleiter betrübt in den Gasthof wandern. Am nächsten
  Morgen kam ich bei Zeiten in Leipzig an; von da ging es langsam mit
  einem Lohnkutscher nach Naumburg. Aber noch ehe ich es erreichte,
  gleich diesseits Weißenfels, erfaßte uns ein Gewitter und Regen, wie
  ich beides noch nie erlebt. Rechts und links sahen wir die Blitze
  einschlagen, der Sturm brach die Bäume an der Straße wie kleine Gerten
  und das Wasser schoß, wo der Weg sich aus der Tiefe in die Höhe zog,
  in Strömen entgegen. Dabei konnte ich mir nicht verbergen, daß die
  allergrößte Gewalt des Unwetters über unser Thal eingebrochen sein
  müßte: die Sorge um die Meinigen war groß, und Sie können sich denken,
  daß der Augenblick des Wiedersehns, der erst spät Abends eintrat, um
  so beglückender für mich war, als Frau und Kinder den Nachmittag in
  Kösen zugebracht hatten, wo ganz in ihrer Nähe der Blitz ein Haus, in
  welchem sich die Badegäste zu versammeln pflegen und worin die Meinigen
  leicht hätten sein können, in Brand gesetzt hatte. Zum Glück für meine
  Frau hatte sie mich den Tag noch nicht erwartet, sonst würde sie in
  Todesangst um mich gewesen sein.
  Seitdem hat sich das Leben denn so in gewohnter Weise abgesponnen. Nur
  Zweierlei Bedeutendes ist mir in diesen letzten Monaten begegnet. Das
  erste war der Besuch des Geh. Rath Heß aus Darmstadt, der über Naumburg
  nach Dresden ging, wo er Sie aufgesucht haben wird, die schönsten Grüße
  von uns mitbringend, wenn er sein Wort gehalten hat. Er war leider nur
  ungefähr eine Stunde in Pforta, aber ich habe hier nicht leicht eine
  genußreichere verlebt, so klug, so verständig sprach er und so wurde
  es einem ums Herz, als er auf unsre öffentlichen und literarischen
  Zustände die Rede lenkte. Es sollte mich recht betrüben, wenn ich
  mich in ihm geirrt hätte: in der kurzen Zeit, die er in meinem Hause
  verweilte, schien er mir ein Mann zu sein, dessen Gleichen man jetzt
  nicht auf allen Wegen findet. Das andre war der Feier zum Andenken der
  vor hundert Jahren erfolgten Aufnahme Klopstocks in unsere Schule,
  die wir gestern vor acht Tagen begangen haben. Sie erinnern sich, wie
  viel ich Ihnen über die Schlaffheit unsrer Jugend, über den gänzlichen
  Mangel an Enthusiasmus und Schwung in ihr vorgeklagt habe. Ich glaubte,
  daß sich hier eine Gelegenheit darböte, ihr wieder einmal ans Herz zu
  klopfen und brachte diese Feier in Anregung, die in der Weise statt
  fand, wie Sie es in dem der Mühlenfelsschen Schrift von mir beigegebnen
  Programm lesen können. Es war wirklich etwas Erhebendes in dem Ganzen.
  Die Primaner hatten sich fast alle in deutschen und lateinischen
  Gedichten versucht, wovon die besten zum Vortrage auserlesen wurden,
  wobei sich denn wunderlich genug ereignete, daß alle deutschen, zum
  Theil recht guten Gedichte, in Formen gekleidet waren, die der selige
  Herr sehr verabscheut haben würde: Terzinen, Octaven, assonierende
  Trochäen, Sonette &c. Ich hatte das Mögliche aufgeboten, in meiner Rede
  Klopstock in seiner Einwirkung auf die Poesie unsers Volkes in der Zeit
  von 1748 bis 1773 zu lebendiger Anschauung zu bringen. Sie wissen,
  daß ich eben keinen hohen Begriff von seinem absoluten poetischen
  Werthe habe; aber ich glaube, daß Sie es beifällig aufnehmen werden,
  wenn ich meine Überzeugung dahin ausspreche: er habe zu seiner Zeit
  nächst Lessing doch das Meiste gethan, unsre Poesie aus dem Sande
  und Schlamm herauszuheben, in welchem sie lange Zeit ein klägliches
  Dasein gefristet hatte. Ich habe in dieser Rede wirklich mit Liebe
  gearbeitet. Klopstocks Größe erschien mir wahrhaft Ehrfurcht gebietend,
  wenn ich den Blick von ihm auf die Geister lenkte, die heutiges Tages
  die Meister spielen und den Markt beherrschen. Es schien auch, als
  hätte ich nicht ganz umsonst gesprochen. Mittags hatten wir Lehrer
  und Beamten der Schule mit einer Anzahl geladener Gäste aus Naumburg
  uns zu einem Festmahle vereinigt, bei dem es so froh zuging und ein
  so frisches Leben herrschte, wie ich es hier nie erlebt habe. Unter
  den vielen Toasts wurde von Mühlenfels, der mir darin zuvorkam, unter
  lautem Jubel der Ihrige als des ersten und größten Meisters der
  Gegenwart ausgebracht. Ich gedachte dann in wenigen Worten unsers
  großen Lessing, gegen den ich, je mehr ich mich mit ihm vertraut mache,
  mit um so größerer Ehrfurcht erfüllt werde. Doch genug von diesem
  Feste; eine länger ausgesponnene Beschreibung dürfte Sie nur langweilen.
  Wir haben vor Kurzem einen uns sehr nahe gehenden Verlust erlitten.
  Ein Assessor beim O. L. Gericht in Naumburg, Gottheimer, ein
  geistvoller Mann und ausgezeichneter Jurist ist als Rath an’s
  Kammergericht versetzt und hat uns vor vierzehn Tagen verlassen; seine
  liebenswürdige, für alles Schöne höchst empfängliche Frau folgt ihm
  binnen Kurzem. Dieß waren die letzten Jahre hier unsere liebsten und
  nächsten Bekannten. Mit ihnen gehen die beiden einzigen Menschen aus
  Naumburg fort, die sich frei von den abscheulichen und wüsten Ansichten
  zu erhalten suchten, die jetzt immer mehr über Kunst, Litteratur, Leben
  und alles, was diesem einen höhern Gehalt verleiht, zur Herrschaft
  gelangen. Es ist doch recht traurig, daß man sich immer vereinsamter
  fühlen lernt. Was muß ich hier in der sogenannt besten Gesellschaft
  alles hören! Ich komme immer mehr zu dem Glauben, daß dem Menschen
  nicht fünf, sondern sechs Organe von Gott gegeben sind: das sechste
  befähigt uns die Schönheit zu empfinden und in unser Bewußtsein
  aufzunehmen. Dieses Organ ist aber bei den meisten Menschen durch
  mancherlei künstliche Mittel in unsrer jetzigen Zeit entweder ganz
  zerstört oder bis zur Unempfindlichkeit abgestumpft worden, und daher
  erkläre ich mir, daß sonst ganz verständige und einsichtsvolle Menschen
  von dem wahrhaft Schönen nichts wissen wollen, und für das Unschöne,
  Gemeine, Niedrige oder Fratzenhafte schwärmen können. Wenn ich mitunter
  Urtheile über unsere Dichter, über Shakspeare, Cervantes und andere
  Heroen der Dichtkunst hören muß, die mich zur Verzweiflung an der
  ganzen Zeit und an unserm ganzen Volk treiben wollen, so bleibt mir nur
  ein Trost und das ist das Bewußtsein, daß Sie uns noch angehören und
  nach Gottes gnädiger Fügung uns noch lange angehören sollen. Ich fühle
  dann immer das Weh gelindert, das mein Herz zusammenpreßt, und kann
  wieder mit unbefangenem Sinne die großen Dichter lesen, an denen ich
  bei dieser babylonischen Verwirrung irre werden könnte, fände ich nicht
  in Ihren Schriften, Ihren mir unvergeßlichen Worten die Zuversicht, daß
  ich mich jenen Meistern unbedingt hingeben darf.
  Gestern habe ich eine recht herzliche Freude gehabt, als ich auf einige
  Augenblicke den vierten Band von Immermanns Münchhausen in die Hand
  bekam. Ich konnte nur ganz flüchtig die Zueignung an Sie durchlaufen,
  aber ich fühlte mich durch diese Worte erquickt, da sie Zeugniß von
  einem Geiste ablegten, der Sie erkannt hat. Ich werde erst in einigen
  Tagen diesen und den dritten Theil des Buchs erhalten, worauf ich
  mich nach dem, was mir die ersten geboten und was mir Frau Gottheimer
  von diesen beiden letzten gesagt hat, recht herzlich freue. Ich hatte
  gehofft, Immermanns Bekanntschaft vor einigen Wochen zu machen, da ihn
  einer meiner Collegen, sein alter Bekannter, auf seiner Rückreise nach
  Düsseldorf erwartete; aber er ist an uns vorübergereist.
  Mit recht großer Sehnsucht sehen wir dem Erscheinen Ihrer neuen,
  bereits angekündigten Novellen entgegen. Es ist immer ein Fest in
  unserm Hause, wenn der Buchhändler etwas schickt, das von Ihnen kommt.
  Sie mögen einsichtsvollere, tiefsinnigere Verehrer Ihrer Schriften
  haben, als uns; wärmere und treuere gewiß nicht. Ich werde den schönen
  Sommertag nie vergessen, an dem ich 1819 zu Berlin zum ersten Male Ihre
  Genoveva las. Es war das erste Buch von Ihnen, das ich kennen lernte,
  und die Wirkung, die es in mir hervorbrachte war unbeschreiblich und
  entscheidend für mein ganzes inneres Leben. Kurz vorher hatte ich die
  Nibelungen auch zum ersten Male gelesen. In ihnen athmete ich eine
  neue Welt, die wahre deutsche Natur, insofern sie durch das Gedicht
  uns offenbar wird; Ihre Genoveva riß wie einen Schleier von meiner
  Seele fort, ich fing an zu begreifen, was mir die Nibelungen, was mir
  die deutsche Poesie, sofern sie in unsrer Vorzeit wurzelt, aus ihr
  erwachsen ist und in neuerer Zeit wieder Blüthe getrieben hat, werden
  könnte und warf mich nun mit dem vollen Feuer der Jugend unserem
  dichterischen Alterthum in die Arme. Und das ist mir immer als das
  Höchste und Herrlichste an Ihnen, verehrter Mann, erschienen, daß
  Sie so durchaus nur _deutscher_ Dichter haben sein wollen und
  sind, und daß Sie, was unserm Göthe leider nicht nachgerühmt werden
  kann, das Vaterland so warm im Herzen getragen haben. Darum glaube ich
  auch fest und inniglich, daß wenn die Stunde unsers Volks noch nicht
  geschlagen hat, was Gott verhüte, und wenn es sich der gegenwärtigen
  Trübsal und Wirrniß wieder entwindet, in Deutschland die Überzeugung
  immer tiefere und breitere Wurzeln schlagen und treiben wird, daß Göthe
  und _Sie_ die beiden Gipfel unserer neueren Poesie sind und nicht
  
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