Beatrice - 1

Total number of words is 4522
Total number of unique words is 1645
41.8 of words are in the 2000 most common words
54.6 of words are in the 5000 most common words
60.6 of words are in the 8000 most common words
Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
Beatrice
Paul Heyse
(1867)



Wir hatten bis in die tiefe Nacht hinein geplaudert, unser drei, bei
einigen Flaschen Astiweins, die wir durch einen glücklichen Zufall
aufgetrieben hatten und nun im kühlen Gartenhaus auf das Wohl des eben
aus Italien heimgekehrten Freundes leerten. Er war der älteste von
uns und schon ein fertiger Mann, als wir ihn vor zwölf Jahren auf
einer Reise im Süden kennenlernten. Auf den ersten Blick hatte uns
seine männliche Gestalt, der Adel seines Wesens und eine gewisse
melancholische Anmut seines Lächelns für ihn eingenommen. Sein
Gespräch, seine ungewöhnliche Bildung und die Bescheidenheit, mit der
er sie geltend machte, gewannen uns vollends, und die drei Wochen, die
wir miteinander in Rom zubrachten, befestigten eine so warme
Freundschaft, wie sie nur je zwischen Ungleichaltrigen bestanden hat.
Dann mußte er plötzlich nach Genf, seiner Heimat, zurück, wo er an der
Spitze eines ansehnlichen Handlungshauses stand. Aber in den
folgenden Jahren hatten wir keine Gelegenheit versäumt, uns
wiederzusehen, und auch jetzt war ihm der Umweg über unsere Stadt
nicht zu weit gewesen, um uns wenigstens auf vierundzwanzig Stunden zu
begrüßen.
Wir fanden ihn in seinem Aussehen unverändert; er war noch immer ein
schöner Mann, das Haar kaum mit dem ersten Grau angesprengt, die hohe
Stirn glatt und weiß. Aber er schien uns schweigsamer als bei unserem
letzten Begegnen, manchmal so in sich versinkend, daß er unsere Fragen
überhörte, während er minutenlang unverwandt die Perlen des Weins im
Glase aufquellen sah oder ein Stück Eis langsam am Kerzenlicht
zertauen ließ. Wir dachten ihn gesprächig zu machen, wenn wir ihn
nach seiner letzten Reise ausfragten. Aber als auch dieses
Lieblingsthema nicht sonderlich einschlug, ließen wir ihn gewähren und
sprachen unter uns, froh, daß wir ihn wenigstens leiblich bei uns
hatten, und ruhig abwartend, wann er auch geistig zu uns zurückkehren
würde.
Indessen kramte ich allerlei Gedanken aus, die mich seit kurzem
lebhaft beschäftigt hatten und die, unreif und schroff, wie ich sie
hinwarf, den Widerspruch unseres Freundes, der ein scharfer
Dialektiker war, zu jeder anderen Zeit gereizt haben würden. Der
Zustand des Theaters in Italien hatte den Anstoß gegeben. Ich
behauptete, es sei durchaus nicht wunderbar, daß es die Italiener, so
pathetisch und leidenschaftlich sie sich gebärdeten, nicht zu einer
tragischen Literatur gebracht hätten, die sich neben die griechische,
englische und deutsche stellen könnte. Im Grunde sei es bei den
Spaniern und Franzosen, trotz ihrer hochberühmten dramatischen
Blüteperioden, nicht viel besser damit bestellt. Denn das Temperament
der Romanen, ihre Natur wie ihre Kultur, seien nun einmal so streng an
das Konventionelle gebunden, daß die eigentlichsten tragischen
Probleme, die alle auf der Selbstherrlichkeit des Individuums beruhten,
ihnen kaum verständlich würden; dazu komme noch, daß sie auch in der
Form sich nie zu befreien und die rücksichtslosen Naturlaute
anzuschlagen wagten, die allein den tragischen Schauder in uns erregen
könnten? Wie jedes ästhetische Gespräch, das nicht bloß an der
Schale herumtastet, führte auch dieses bald in die rätselhaften Tiefen
der Menschennatur, und während Amadeus scheinbar teilnahmslos mit
seinem silbernen Stift Figuren in den verschütteten Wein zeichnete,
nahm Otto lebhaft Partei für das, was ich als Konvention zu verdammen
schien, er aber als das strengwaltende Sittengesetz auch in der
Dichtung obenan stellte. Mein Satz schien ihm gefährlich, daß jeder
tragische Fall das Naturrecht der Ausnahme gegen das bürgerliche Recht
der Regel verherrlichen müsse, daß demnach der Begriff einer
tragischen Schuld auf das Verbrechen hinauslaufe, einen Dämon im Busen
zu haben, der den einzelnen über die engen Schranken der
Alltagssatzung hinaushöbe und ihn darin bestärke, mit nichts sich
abzufinden, nichts zu dulden, nichts zu verehren, was dem innersten
Gefühl widerstreite. Damit lösest du, sagte er, die ganze Weltordnung,
die doch wohl ihre guten Gründe hat, zu Gunsten eines unbegrenzten
Individualismus auf und scheinst nur dem wahren Wert für die Poesie
zuzuerkennen, was sich außer das Gesetz stellt.--Ich suchte ihn dabei
festzuhalten, daß es sich hier nur um die eigentlich tragischen
Kollisionsfälle handle, und daß große und starke, mit einem Wort,
heroische Seelen den Streit der Pflichten anders zu lösen pflegten als
der ängstliche, von kleinen Gewohnheiten und Rücksichten eingeengte
Mittelschlag der Philister. Geniale Naturen, sagt' ich, die auf sich
selbst beruhten, erweitern durch ihre Handlungen, indem sie das Maß
ihrer innern Kraft und Größe als ein Beispiel vorleuchten lassen,
ebensosehr die Grenzen des sittlichen Gebiets, wie geniale Künstler
die hergebrachten Schranken ihrer Kunst durchbrechen und weiter
hinausrücken. Und was an Obermaß und Übermut des Selbstgefühls in
jenen heroischen Seelen sich rühren mag, wird es nicht eben durch den
tragischen Untergang geläutert und gebüßt? Wenigstens nach der
Meinung der Philister, denen das Leben das höchste Gut ist, die also
auch schwerlich von Handlungen und Gesinnungen zu verführen sind, auf
die nach dem Weltlauf der Tod gesetzt ist. Der Dichter aber und die,
die ihn verstehn, wird sich das Recht nicht verkümmern lassen, sich
der hohen Erscheinungen zu erfreuen, für welche die üblichen
Zollstöcke der Moral nicht passen wollen. Und wer das unsittlich
schilt, was bei unseren traurig mangelhaften bürgerlichen
Einrichtungen starken und freien Menschen als eine heilige Notwehr
übrig bleibt, für den ist Schönes nie geschaffen worden, und vom Guten
kennt er nur das Nützliche.
Dieses und ähnliches hatt' ich gesagt, als auf einmal Amadeus aus
seinem Hinbrüten zu mir aufsah und mir über den Tisch hinüber die Hand
reichte. Ich danke dir, sagte er; du hast da ein gutes Wort
gesprochen, das mir wohltut. Unter uns dreien kann ja auch kein
Streit darüber sein, daß die Sitte nicht das Maß der Sittlichkeit ist,
und daß die höchsten Aufgaben der Poesie an den Grenzen der Menschheit
liegen. Aber gegen eins muß ich Einsprache erheben: daß du den Mangel
eines wahrhaft großen tragischen Poeten in Italien aus der
konventionellen Gebundenheit des Volkscharakters erklären willst. Als
ob Gemüts- und Geschmacksanlagen, Sittliches und Ästhetisches sich
notwendig Hand in Hand entwickelten, nicht oft genug eins das andere
überholte! Wenn den Italienern das große tragische Talent geboren
würde, das sie in ihrem Alfieri freilich längst zu besitzen wähnen,
--der Genius des Volkes würde ihm auf halbem Wege entgegenkommen, und
die akademischen Vorurteile des Stils hielten gegen eine echte
Naturkraft so wenig stand, wie alle anerzogene konfessionelle Sitte
gegen das Recht und die Pflicht eines freigebornen Gemüts. Nein, fuhr
er in sichtbarer Erregung fort, und seine Augen schimmerten feucht,
das hohle Pathos ihrer Trauerspiele ist nicht der Grundton, auf den
die Seele dieser edlen Nation gestimmt ist. Ich wenigstens darf dies
nicht anhören, ohne Verwahrung einzulegen. Denn wenn es je ein Wesen
gab, das in seinem Gefühl und Handeln auf sich beruhte und seinem
Dämon gehorchte, so war es mein Weib, und mein Weib war eine
Italienerin.
Er schwieg und wir saßen in der wunderbarsten Erregung ihm gegenüber,
ebenfalls stumm und atemlos vor Überraschung. So gut wir ihn und all
seine Verhältnisse zu kennen meinten, zum ersten Male hörten wir heute,
daß er verheiratet gewesen sei, mit einer Frau, die er so hoch
stellte und die er uns doch verleugnet hatte, wie man eine Verirrung
verheimlicht.
Nun stand er auf und ging in dem engen, halbdunkeln Raum eine Weile
auf und ab, und wir störten ihn weder mit Fragen noch mit Blicken.
Endlich trat er zwischen uns und sagte mit seiner tiefen, klangvollen
Stimme: Ich habe es euch nicht erzählt, weil mich die Erinnerung zu
sehr übermannt und manchmal, wenn ich es nur mir selbst so recht
gegenwärtig machte, mich ein Fieber befiel, das mich eine Woche lang
nicht wieder verließ. Und doch ist es mir wie eine Schuld gegen euch
vorgekommen, daß ich auf alle eure Neckereien, warum ich keine Frau
genommen, nur immer mit Scherzen antwortete. Ihr könnt glauben,
hauptsächlich um dies endlich zwischen uns ins klare zu bringen, habe
ich diesmal, da ich wieder von ihrem Grabe komme, den Heimweg so
eingerichtet, daß ich euch treffen mußte. Laßt mich also alles
heraussagen, wie es mir auf die Zunge kommt. Wir wollen erst noch die
Fenster nach dem Garten öffnen; es ist hier so schwül, daß man schwer
Atem holt. So!--und nun trinkt und raucht, und ich will auf und ab
gehen. Ein Vierteljahrhundert ist darüber hingegangen, und doch steht
alles wie von gestern neben mir und läßt mich nicht ruhig bleiben.
Was er dann berichtete, bis an die Morgendämmerung--denn auch nachher
konnten wir uns nicht so bald trennen--, schrieb ich am folgenden Tage
auf, soviel ich konnte mit seinen eigenen Worten. Damals dachte ich
nicht, daß es in Wahrheit sein letztes Vermächtnis sein würde. Aber
er hatte nicht zu viel gesagt. Die Nacht, in der er es uns erzählte,
trug ihm ein Fieber ein, das ihn bis nach Hause begleitete. Eine
nächtliche Aufregung beim Löschen eines Hausbrandes trat hinzu.
Wenige Wochen, nachdem wir ihn zuletzt gesehen, kam die Nachricht, daß
wir ihn verloren hatten.
Nun sind mir diese Aufzeichnungen um so wertvoller, und kaum kann ich
mich entschließen, fremde Augen hineinblicken zu lassen. Dann wieder
empfinde ich es als eine Pflicht, das wundersame Geschick dieser
beiden Menschen nicht im Dunkeln zu lassen. Sollte nicht das, was
hohe und edle Menschen erleben, Eigentum der ganzen Menschheit sein?
So will ich ihn denn erzählen lassen.
Ich war eben fünfundzwanzig Jahre alt geworden, als mein Vater starb;
seit ich seinen schmerzlichen Todeskampf mit angesehen, schien ich mir
um zehn Jahre älter. Kurz vorher hatte meine einzige Schwester, die
ich sehr liebte, einen jungen Geschäftsfreund unseres Hauses
geheiratet, einen Franzosen, dessen Familie seit lang in Genf
angesiedelt war, und der nun seinen Namen unserer Firma hinzufügte.
Wir standen uns so nah wie Brüder, und als er und meine Schwester in
mich drangen, einige Monate auf Reisen zu gehen, um meine verstörten
Lebensgeister wieder ins Gleiche zu bringen, ließ ich mich hierin wie
in allen Dingen gern von ihnen bestimmen, zumal ich wohl fühlte, daß
ich einer Hilfe von außen sehr bedürftig war.
Auch wirkte die Luftveränderung bald, wie meine Lieben gehofft hatten.
Jugend und Lebensmut kehrten mir zurück; ich hatte wieder offene
Augen für alle Schönheiten der Natur, und mein Sinn für die Künste,
der schon auf früheren Reisen in Deutschland und Frankreich geweckt
worden war, fand reiche Nahrung in Mailand und Venedig, wohin ich mich
zunächst wandte, um dann in mäßigen Tagesreisen südlicher zu gehen.
Vor allem zog es mich nach Florenz, und die Herrlichkeiten, die ich
dort zu finden hoffte, machten mich gegen manches undankbar, was mir
auf dem Wege dahin begegnete. So hatt' ich mir auch für Bologna nicht
mehr als einen einzigen Tag festgesetzt, Kirchen und Galerien hastig
durchrannt und mich am Nachmittag in einen Wagen geworfen, um nach dem
alten Klosterhügel San Michele in Bosco hinauszufahren und mit einer
Rundschau von da oben herab mein Reisegewissen über diese merkwürdige
Stadt zu beruhigen.
Es war einer der heißesten Tage jenes Hochsommers, und obwohl ich
sonst gegen jede Temperatur ziemlich unempfindlich war, lähmte mich
doch heute die Schwüle bis zur Erschöpfung. Die Straße, die von San
Michele nach der Stadt zurückführt, war völlig öde. Über die
Mauern der Gärten ragten die Bäume und Büsche dickverstaubt herüber,
die Räder des Wagens gruben sich in den handhohen glühenden Staub
schwerfällig ein, mein Kutscher nickte so schlaftrunken auf dem Bock,
daß er sich kaum im Gleichgewicht hielt, und sein müdes Tier schlich
mit gesenkten Ohren ganz am Rande der Chaussee, um den schmalen
Schatten mitzunehmen, den hie und da eine Villa oder Gartenhecke über
die Straße warf. Ich hatte mich auf dem Rücksitz bequem ausgestreckt
und mir aus meinem Regenschirm ein Zelt gemacht, unter dem ich in
einer Art Halbschlaf hindämmerte.
Plötzlich wurde ich, nicht eben sanft, aus meiner Ruhe aufgeschreckt
durch etwas, das mir gegen das Gesicht fuhr, als hätte mich im
Vorbeifahren ein herüberhangender Baum gestreift. Als ich hastig
aufsprang und mich umsah, fiel mein erster Blick auf einen blühenden
Granatzweig, der auf meinem Schoße lag und offenbar über die nahe
Mauer mir in den Wagen geworfen war. Die Bewegung, die ich machte,
schien dem Gaul ein Zeichen, daß er stillhalten sollte. Der Kutscher
schlief ruhig weiter. So hatte ich alle Muße, den Ort zu prüfen, von
woher der Wurf gekommen war, und ließ es mir um so mehr angelegen sein,
als ich hinter der hohen Gartenmauer deutlich ein verstohlenes
Kichern hörte, wie von einem übermütigen Mädchen, das heimlich über
eine gelungene Schelmerei triumphiert. Und richtig, noch hatte ich
nicht lange gewartet, aufrecht im Wagen stehend und die Mauer scharf
im Auge, als ein Lockenkopf unter einem großen Florentiner Strohhut
über dem Mauerrand auftauchte. Zwei dunkle mutwillige Augen unter
ernsthaften Augenbrauen richteten sich auf mich und schienen mich wie
ein fremdes Wundertier anzustaunen. Als ich aber den Granatzweig
erhob, die Blüten an meine Lippen drückte und sie dann gegen die junge
Wegelagerin schwenkte, übergoß das reizende Gesicht plötzlich eine
dunkle Röte, und im Nu war die Erscheinung wieder hinuntergetaucht,
daß ich, ohne den Zweig in meiner Hand, am Ende geglaubt hätte, alles
sei nur ein Traum gewesen.
Ich stieg nachdenklich aus dem Wagen und ging ein paar Schritte längs
der Mauer hin nach dem hohen Gitterportal, das den Garten verschloß.
Durch die alten Eisenstäbe von schwerer mittelalterlicher Arbeit
konnte ich ein Stück des Parks übersehen und das Haus, das mit
verschlossenen Jalousien mitten zwischen Ulmen und Akazien stand. Ich
rüttelte am Schloß, das nicht zu öffnen war, und meine Hand faßte
schon nach dem Klingelgriff, als mich eine geheime Scheu überfiel, das
Innere dieses fremden Bezirks zu betreten. Und was hätte ich für eine
Figur gemacht, wenn man mich um den Grund meines Eindringens befragt
hätte? So begnügte ich mich, ein Weilchen zu warten, ob die
Zweigwerferin sich nicht irgendwo blicken lassen würde, und
betrachtete indessen das Haus, an dem nichts Merkwürdiges war, so
genau, als ob ich es zeichnen wollte, bis die Sonne mir unerträglich
wurde und mich unter mein Schirmzelt zurücktrieb. Der Kutscher kam
darüber wieder zu sich, tat einen Ruck mit dem Zügel, und wir
schlichen unseres Weges weiter, ich immer noch den Kopf auf dem Rücken,
obwohl nichts Holdes mehr zu sehen war.
Als ich in meinen Gasthof "zu den drei Pilgern" zurückkam, brach ein
rascher Gewitterguß über diese schwüle Stadt herein, und es war die
Nacht darauf erquicklich kühl und feucht in den Straßen, so daß ich
nicht satt wurde, unter den langen Arkaden herumzuschlendern, bald
hier in einem Café Eiswasser zu trinken, bald dort ein Kirchenportal
im fahlen Laternenschein zu studieren. Aber sosehr ich mich mit
Stehen und Gehen abmüdete, ich konnte bis an den frühen Morgen nicht
zum Schlafen kommen. Daß es das junge Gesicht von der Gartenmauer
sein könnte, was mich wach hielt, glaubte ich selber nicht, obwohl ich
es beständig vor Augen hatte. Ich hatte es immer für eine Fabel
gehalten, daß der Funken eines Blickes genüge, ein Herz in Brand zu
stecken. Und so schob ich meine Unruhe auf die überreizten Nerven.
Nur am anderen Morgen, als man mir die schon abends bestellte Rechnung
brachte und ich nun mit der Abreise Ernst machen sollte und doch
merkte, es lasse mich nicht fort, wurde ich nachdenklich. Ich
erinnerte mich, daß ich einen Geschäftsfreund unseres Hauses hier in
Bologna aufzusuchen hatte. Mein Gewissen in diesem Punkt war sonst
nicht übermäßig zart. Jetzt aber schien es mir durchaus nötig, diese
Pflicht der Höflichkeit zu erfüllen. Auch machte ich mir Vorwürfe,
Raffaels heilige Cäcilien nur so flüchtig betrachtet zu haben, anderer
Unterlassungssünden zu geschweigen. Bologna kam mir auf einmal sehr
viel sehenswürdiger vor, und Florenz blieb mir ja aufgehoben.
Ich bildete mir zuletzt wirklich ein, die Zweigwerferin habe den
geringsten Anteil an meinem veränderten Entschluß. Seltsam, daß mir
die Umrisse des Gesichts, je mehr ich mich zurückbesann, immer mehr
entschwanden, und nur die Augen allgegenwärtig mir vorschwebten. Ich
merkte auch über Tag, während ich meinen Touristenpflichten nachging,
keine besondere Aufregung in mir. Doch als ich, da die größte Hitze
vorüber war, den Weg nach dem Landhause einschlug, als ob es sich von
selbst verstünde, war eine wunderliche Bangigkeit in mir, und ich weiß
noch genau, welche Lieder ich sang, um mir Mut zu machen.
Nun kam ich hinaus und fand alles wie gestern, das Haus im Garten nur
weniger öde, da die Jalousien geöffnet waren und auf dem Balkon ein
Hündchen stand, das, wie ich von dem Gitterportal nicht weichen wollte,
mich heftig anbellte. Auch jetzt noch faßte ich mir nicht das Herz,
anzuläuten. Es war, als warnte mich etwas, und fast wünschte ich
selbst, das Gesicht nicht wiederzusehen, um dann morgen leichten
Herzens abreisen zu können. Dennoch umging ich erst einmal die ganze
Mauer, die sich ziemlich weit herumzog und drüben im Feld an niedrige
Bauernhütten und Maisfelder grenzte. Auch dort war alles einsam. Als
ich an die Stelle kam, wo ein niedriger Heckenzaun an die Mauer stieß,
so daß ich bequem hinaufklettern und in den Garten sehen konnte, wagte
ich es ohne Bedenken, da kein Mensch in der Nähe war. Eine große
Steineiche ragte gerade dort von innen über die Mauer. Da stieg ich
hastig hinauf und ergriff den niedrigen Ast, mich in der Schwebe zu
halten.
Ich hätte es mir nicht besser aussuchen können; denn kaum hundert
Schritte von mir entfernt sah ich auf einem verbrannten Rasenplatz,
der aber jetzt im Schatten lag, zwei junge Mädchen, die Federball
spielten und nicht ahnten, daß sie belauscht wurden. Die eine trug
ein weißes Kleid und den großen Strohhut, den ich gestern schon
gesehen hatte. Sie war nicht groß, nicht klein, schlank aufgewachsen
wie ein Mandelbäumchen, dabei von einer raschen Anmut wie ein junger
Vogel, daß ich ähnliches nie gesehen zu haben meinte. Die schwarzen
Haare fielen ihr während des lebhaften Spiels frei um die Schultern,
das Gesichtchen war blaß, nur Zähne und Augen leuchteten, und dann und
wann lachte sie hell auf, wenn ein ungeschickter Wurf geschehen war;
dann klopfte mir jedesmal heftig das Herz, und die Hecke unter meinen
Füßen zitterte. Ihre Gespielin war fast gleich gekleidet, nur minder
zierlich, und schien von geringerem Stande. Ich sah sie kaum, da ich
genug zu tun hatte, allen Bewegungen der reizenden Gestalt zu folgen.
Wie sie den Arm hob, um den Ball zu schlagen, wie sie mit
scharfgespannten Augen fest in die Höhe sah, um den niedersausenden zu
erwarten, ihr Jubel, wenn ihr ein Wurf hoch im Bogen geglückt war, ihr
Kopfschütteln bei einem Fehlschlag--jede Gebärde ein Bild der
reizendsten Jugendkraft und Lebensfülle! Ich fühlte deutlich, daß es
um mich geschehen war, und gab mich, zum ersten Male in meinem Leben,
einem Gefühle hin, das mich ganz und gar überstürzte und verschlang.
Mitten in dieser Hingerissenheit überlegte ich eben, wie ich es
anfangen sollte, mich ihr zu nähern, ohne sie zu erschrecken, als mir
der Zufall--nein, mein guter Stern zu Hilfe kam. Der Federball, den
sie hoch in die Luft geschlagen, überflog den Wipfel der alten
Steineiche, unter dem ich verborgen stand, und fuhr noch weit ins
benachbarte Feld hinüber. Sie sah ihm ängstlich nach--ich weiß nicht,
ob sie mich sogleich erblickte. Als ich aber eilig herabgesprungen
und mit dem glücklich geretteten wieder über die Mauer aufgetaucht war,
sah ich ihre schwarzen Augen erstaunt, aber nicht unwillig, nach der
Stelle gerichtet, wo ich Posto gefaßt hatte. Die andere tat einen
leichten Schrei, lief zu ihr hin und sprach hastig allerlei, was ich
nicht hören konnte. Aber an ihren Gebärden merkte ich, daß sie ihr
zur Flucht ins Haus zuredete. Das schöne Wesen schien nicht auf sie
zu hören, sondern ruhig abzuwarten, wann es dem Fremden belieben würde,
den Fund zurückzuerstatten. Als ich zögerte, immer im Anschauen
versunken, nahmen ihre Augen einen vornehm trotzigen Ausdruck an, sie
warf die Locken zurück und wollte sich eben mit einer kalten Miene von
mir abwenden, als ich den Federball in die Höhe hob und sie mit einer
raschen Gebärde noch zu warten bat. Dann nahm ich ein goldenes
Medaillon in Herzform, das Haare meiner Schwester enthielt, mit dem
Samtband, an dem ich es trug, vom Hals, befestigte es sorgfältig an
das buntbefiederte Bällchen und warf es so glücklich hinüber, daß es
unweit von ihren Füßen auf den hellen Kies des Gartens niederfiel.
Sie tat, mit der stolzesten Haltung von der Welt, einige Schritte mir
entgegen, hob den Federball auf und warf mir, als sie das Medaillon
bemerkte, einen raschen leuchtenden Blick zu, der mir bis ins Mark
drang. Ihre Gespielin kam herzu und schien sie etwas zu fragen. Aber
sie antwortete nicht, schob den Federball samt dem goldenen Anhängsel
in die Tasche und bewegte darin, mit einer unnachahmlichen Hoheit, die
Rakette, die sie in der Hand hatte, gegen mich, wie sich eine Fürstin
für eine Huldigung bedankt. Dann wandte sie sich und ging mit
langsamen Schritten, ohne noch einmal nach mir umzublicken, dem Hause
zu.
Ich hatte nun freilich da oben nichts mehr zu suchen, und heute noch
einen Versuch zu wagen, schien mir zu kühn. Was konnt' ich auch für
jetzt mehr gewinnen? Sie hatte mich offenbar wiedererkannt. Mein
neues Auftauchen mußte ihr sagen, wie ich es meinte; mein Herz hatte
ich ihr zu Füßen geworfen, sie hatte es aufgehoben und es ruhte jetzt
in ihrer Hand. Sollte ich ihr nicht Zeit lassen, sich zu besinnen?
Ich war auch in einem Fieberzustand, daß ich irre geredet hätte, wenn
ich ihr jetzt begegnet wäre.
Auch diese Nacht schlief ich wenig, aber ich habe nie in größeren
Freuden aufgesessen und die Stunden schlagen hören. Als es dann
wieder Tag geworden war, ging ich, sobald nur geöffnet wurde, in die
Galerie und setzte mich der heiligen Cäcilia gegenüber, wohl zwei
Stunden lang. Da prüfte ich mein Inneres wie vor einem reinen Spiegel.
Ich empfand, daß mich kein Spuk der Sinne verwirrte, daß der Funken,
der mir ins Herz gefallen war, wirklich vom himmlischen Feuer stammte.
Dieser Morgen war wundervoll. Alles noch Ahnung und Vorgefühl, und
doch ein überschwengliches Entzücken, als säße sie dicht neben mir und
ich fühlte ihr Herz an meinem schlagen. Die Heilige mit ihrem stillen
Emporblicken konnte den Himmel nicht offener sehen.
Wieder ließ ich die Zeit der Siesta vergehen, ehe ich meine Wanderung
nach der Villa antrat. Aber diesmal begnügte ich mich nicht, durchs
Gitter zu sehen; ich zog herzhaft an der Glocke und erschrak nicht
einmal, als sie einen endlosen Lärm machte. Das Hündchen kam zornig
auf den Balkon gelaufen, unten im Hause öffnete sich ein
Seitenpförtchen neben der hohen Glastüre, und ein kleiner Mann, dessen
gutmütiges Gesicht durch einen mächtigen grauen Knebelbart einen
lächerlich martialischen Anstrich bekam, schritt in sichtbarer
Verwunderung über den unerwarteten Besuch auf das Gitter zu. Ich
sagte das Sprüchlein, das ich mir eingeübt, ohne Stocken, daß ich ein
Fremder sei, ein Reisebuch über Italien im Werk habe und auch die
Landhäuser um Bologna mit aufzunehmen denke. Es sei mir darum sehr
wichtig, die Erlaubnis zu erhalten, auch hier nur einen raschen
Umblick zu tun, da dieses Haus im alten Stil erbaut und in vieler
Hinsicht merkwürdig sei.
Der Graubart schien von alledem nicht viel zu verstehen. Es tut mir
leid, sagte er, aber ich darf den Herrn durchaus nicht einlassen. Die
Villa gehört dem General Alessandro P., unter dem ich selbst gedient
habe, und die Schweiz, wo der Herr herstammt, kenne ich wohl, denn da
bin ich selbst durchgekommen unter dem Bonaparte. Hernach, wie alles
zu Ende war und ich mit meinen Wunden zu schaffen hatte, kommandierte
mich mein General auf diesen Ruheposten, und da er noch einmal
heiratete, gab er mir seine Tochter hier aufzuheben, denn der Herr
weiß wohl, wie es geht, wenn die junge Tochter schöner ist als die
junge Mutter. Nun, da leben wir hier ganz friedlich, und der
Signorina fehlt es auch an nichts, denn der Papa schickt ihr fast jede
Woche irgend was Hübsches, und Lehrer im Singen und in den Sprachen
hat sie auch die besten und an meiner eigenen Tochter eine
Gesellschaft, wie sie sie nur wünschen kann. Nur in die Stadt kommt
sie nicht, und die Mutter fragt nichts nach ihr, und das macht ihr
auch weiter keinen Kummer, da der Vater doch alle Monat einmal sie
besuchen darf. Aber jedesmal, wenn er kommt, schärft er mir wieder
ein, daß ich das Kind hüten soll wie meinen Augapfel, und sonntags,
wenn sie in die Messe geht, gehn Nina und ich selbst mit ihr und
lassen kein Auge von ihr. Was wollt Ihr auch in dem alten Hause sehn?
Ich versichere Euch, es ist wie hundert andere, und auch im Garten
wächst nichts Besonderes. Das fehlte noch, daß Ihr in einem Buch von
uns erzähltet; da würde es Händel setzen mit meinem Herrn, und am Ende
jagte er mich, so alt ich bin, aus dem Dienst.
Ich suchte ihn nach Möglichkeit zu beruhigen, aber mehr als alle guten
Worte wirkte ein Goldstück, das ich ihm durchs Gitter in die Hand
drückte.--Ich sehe, Ihr seid ein honetter junger Mann, sagte er, und
werdet einen alten Soldaten nicht unglücklich machen. Wenn Ihr so
hitzig darauf besteht, so kommt und ich führe Euch herum, daß Ihr Eure
Neugier büßt. Auch kann ich es um so eher, da die Signorina gerade
Singstunde hat; so wird sie also gar nichts davon erfahren, daß ich
einen Fremden eingelassen habe.
Er schloß mir mit einem schweren Schlüssel die Gittertür auf und
führte mich ins Haus. Im Erdgeschoß war ein großer kühler Saal, mit
Jalousien und schweren Vorhängen gegen die Sonne verwahrt. Ich bat,
meiner Rolle getreu, ein Fenster zu öffnen, um die Bilder betrachten
zu können, die an den Wänden hingen. Es waren Familienporträts von
geringem Wert, nur eins, über dem Kamin, fesselte mich länger. Das
ist die Mutter unserer Signorina, sagte der Alte; ich meine die rechte,
die nun schon fünfzehn Jahr tot ist. Sie war eine schöne Frau, man
nannte sie die schöne Heilige; die Tochter gleicht ihr sehr, nur daß
sie lustiger ist und wie ein Vogel im Bauer beständig auf und ab
springt.
Sie hat auch eine Vogelkehle, warf ich scheinbar gleichgültig hin.
Ist sie das nicht, die da über uns singt?
Jawohl, sagte der Alte. Der Kapellmeister von unserem Theater kommt
zweimal die Woche. Wenn darin der Papa (il babbo, sagte er) seinen
Besuchstag hat--er bleibt dann immer viele Stunden--, singt sie ihm
ihre neuen Arien, und dann ist der arme Herr wie im Paradiese. Er hat
sonst auch wenig Freude, und ohne das Kind wäre ihm wohl besser in
einer anderen Welt.
Was ist mit ihm? fragte ich. Ist er krank?
Wie man's nimmt, lieber Herr, sagte der Alte mit Achselzucken. Ich
wenigstens wäre lieber tot, als so lebendig. Wer ihn gekannt hat, als
er noch bei der Armee war--der Riese des Giovanni da Bologna auf dem
Markt sieht nicht vornehmer und ritterlicher in die Welt, als mein
General tat. Und jetzt--es ist herzbrechend. Den ganzen Tag sitzt er
im Lehnstuhl am Fenster, schneidet Bilderbogen aus oder spielt Domino,
und es ist, als hörte und sähe er nichts, und wenn seine Frau ihm
etwas sagt, schielt er sie ganz schüchtern an und nickt ja zu allem.
Nur was die Signorina angeht, da ist er noch ganz der alte, da darf
ihn niemand hinters Licht führen wollen, oder er erfährt, daß der alte
Löwe Tatzen hat, wenn ihm auch die Klauen beschnitten sind.
Und wie ist er in diesen Zustand gekommen?
Niemand weiß es, Herr. Es sind Dinge in dem Hause vorgefallen, von
denen man nur gemunkelt hat. Ich meine immer, es muß ihm einmal von
dem Weibe, will sagen Ihrer Exzellenz der jungen Frau Generalin, ein
You have read 1 text from German literature.
Next - Beatrice - 2
  • Parts
  • Beatrice - 1
    Total number of words is 4522
    Total number of unique words is 1645
    41.8 of words are in the 2000 most common words
    54.6 of words are in the 5000 most common words
    60.6 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
  • Beatrice - 2
    Total number of words is 4611
    Total number of unique words is 1524
    44.4 of words are in the 2000 most common words
    57.0 of words are in the 5000 most common words
    63.1 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
  • Beatrice - 3
    Total number of words is 4650
    Total number of unique words is 1489
    44.9 of words are in the 2000 most common words
    56.2 of words are in the 5000 most common words
    62.9 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
  • Beatrice - 4
    Total number of words is 4717
    Total number of unique words is 1485
    43.3 of words are in the 2000 most common words
    57.1 of words are in the 5000 most common words
    62.3 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.
  • Beatrice - 5
    Total number of words is 1558
    Total number of unique words is 700
    53.4 of words are in the 2000 most common words
    64.8 of words are in the 5000 most common words
    69.9 of words are in the 8000 most common words
    Each bar represents the percentage of words per 1000 most common words.