Auf dem Staatshof - 3

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"Weshalb soll es uns nicht wohlgehen, Drees?" erwiderte Peters, indem er
der kleinen Juliane die Hand bot und sich mit ihr an die Spitze der
Tanzkolonne stellte.
Ich trat mit Anne Lene in die Reihe. Der Alte begann seine Geige zu
streichen und nickte uns freundlich zu, als wir im Tanz an ihm
vorüberkamen.--Ich glaube noch jetzt, daß er damals vortrefflich spielte;
denn er war nicht ungeschickt in seiner Kunst, und eingedenk mancher
kleinen Freundlichkeit, die er von uns empfangen, mochte er nun sein
Bestes versuchen.
Wir hatten lange nicht zusammen getanzt, Anne Lene und ich. Aber es war
nicht vergessen; ich fühlte bald, sie tanzte noch wie sonst. Es ging so
leicht zwischen den übrigen Paaren hin; ihre Augen glänzten; sie lächelte,
und ihr Mund war geöffnet, so daß die weißen Zähne hinter den feinen roten
Lippen sichtbar wurden; ich glaubte es zu fühlen, wie die Lebenswärme
durch ihre jungen Glieder strömte. Bald sah ich nichts mehr von allem,
was sich um uns her bewegte; ich war allein mit ihr; diese festen
klingenden Geigenstriche hatten uns von der Welt geschieden; sie lag
verschollen, unerreichbar weit dahinter.
Dann pausierten wir. An dem offenen Fenster, wo wir standen, floß das
Mondlicht mit dem dürftigen Kerzenschein zu einer unbestimmten Dämmerung
zusammen. Anne Lene stand atmend neben mir, sie schien mir ungewöhnlich
blaß. "Wollen wir uns aufhalten?" fragte ich sie.
"Weshalb, Marx? Es tanzt sich heut so schön!"
"Aber du verträgst es nicht!"
"O doch!--Was liegt daran!"
Wir tanzten schon wieder, als sie die letzten Worte sprach. Wir tanzten
noch lange. Als aber Anne Lene mit der Hand nach dem Herzen griff und
zitternd mit dem Atem rang, da bat ich sie, mit mir in den Garten
hinabzugehen. Sie nickte freundlich, und wir gingen aus dem Saal nach
ihrem Zimmer, um ein Umschlagtuch für sie zu holen.--Ich fühlte wohl
damals schon, daß sie Sorge um Anne Lenes Gesundheit mich nicht allein zu
jener Bitte veranlaßt hatte; denn als wir die Treppe zu dem dunkeln Flur
hinabstiegen, war mir, als wenn ich mit einem glücklich geraubten Schatz
ins Freie flüchtete.
Mir ist aus jenen Stunden noch jeder kleine Umstand gegenwärtig; ich
glaube noch durch die Fensterscheibe der altmodischen Haustür das
Mondlicht zu sehen, das draußen wie Schnee auf den Steinfliesen vor dem
Hause lag; im Heraustreten hörten wir drinnen in der Gesindestube die alte
Wieb den Schrank verschließen, in welchem sie das Brautlinnen ihres
Lieblingskindes aufgespeichert hatte.--Es war eine laue Nacht; über unsern
Köpfen surrten die Nachtschmetterlinge, die den erleuchteten Fenstern des
oberen Stockwerks zuflogen; die Luft war ganz von jenem süßen Duft
durchwürzt, den in der warmen Sommerzeit die wolligen Blütenkapseln der
roten Himbeere auszuströmen pflegten. Anne Lene knüpfte ihr Schnupftuch
um den Kopf; dann gingen wir, wie wir es oft getan, um die Ecke des Hauses
und über die Werfte nach dem Baumgarten zu. Wir sprachen nicht; ich
wollte Anne Lene bitten, ihre Augen wieder nach der Welt zurückzuwenden
und nicht mehr in den Schatten der Vergangenheit zu leben; aber das
beunruhigende Bewußtsein einer eigennützigeren Bitte, die ich für
günstigere Zeiten im Grunde meines Herzens zurückbehielt, raubte mir den
Atem und ließ kein Wort über meine Lippen kommen. Das Herz klopfte mir so
laut, daß ich immer fürchtete, es werde auch ohne Worte meine innersten
Gedanken kundmachen. Wir gingen durch die kleine Pforte in den Baumgarten
hinein, zwischen die schimmernden Stämme der ungeheuren Silberpappeln,
deren Laubkronen keinen Lichtstrahl durchließen. Die dürren Zweige,
welche überall den Boden bedeckten, knickten unter unsern Füßen; und über
uns, von dem Geräusch aufgestört, flogen die Raben von ihren Nestern und
rauschten mit den Flügeln in den Blättern. Anne Lene ging schweigend und
in sich verschlossen neben mir; ihre Gedanken mochten dort sein, von wo
ich sie so sehnlich zurückzurufen wünschte.--So waren wir bis zur Graft
hinabgekommen, welche auch hier die Grenze des eigentlichen Hofes bildete.
Zwischen den Bäumen, welche jenseits des Wassers standen, sah man wie
durch einen dunkeln Rahmen in die weite mondhelle Landschaft hinaus, in
welcher hie und da die einzelnen Gehöfte wie Nebelflecken aus der Ebene
ragten. Es war so still, daß man nichts hörte als das Säuseln des Schilfs,
das in den Gräben stand. "Sieh, Anne Lene", sagte ich, "die Erde
schläft--wie schön sie ist!"
"Ja, Marx", erwiderte sie leise, "und du bist noch so jung!"
"Bist du denn das nicht mehr?"
Sie schüttelte langsam den Kopf. "Komm", sagte sie, "es ist hier feucht.
"--Und wir gingen weiter durch eine verfallene Umzäunung in den seitwärts
vom Hause liegenden Gemüsegarten und unten an dem Wasser entlang nach den
Boskettpartien, die vor dem Hause lagen. Hier waren wir auf unserm alten
Spielplatz; es waren noch dieselben Büsche, zwischen denen wir einst als
Kinder in die Irre gegangen waren; nur hingen ihre Zweige noch tiefer in
den Weg als damals. Wir gingen auf dem breiten Steige neben der Graft,
die sich im Schatten der Bäume breit und schwarz an unsrer Seite hinzog.
Man hörte das leise Rupfen des Viehes, welches jenseits auf der Fenne im
Mondschein graste, und drüben von der Rohrpflanzung her scholl das
Zwitschern des Rohrsperlings, des kleinen wachen Nachtgesellen. Bald aber
horchte ich nur dem Geräusch der kleinen Füße, die in einiger Entfernung
so leicht vor mir dahinschritten.
In diese heimlichen Laute der Nacht drang plötzlich von der Gegend des
Deiches her der gellende Ruf eines Seevogels, der hoch durch die Luft
dahinfuhr. Da mein Ohr einmal geweckt war, so vernahm ich nun auch aus
der Ferne das Branden der Wellen, die in der hellen Nacht sich draußen
über der wüsten geheimnisvollen Tiefe wälzten und von der kommenden Flut
dem Strande zugeworfen wurden. Ein Gefühl der Öde und Verlorenheit
überfiel mich; fast ohne es zu wissen, stieß ich Anne Lenes Namen hervor
und streckte beide Arme nach ihr aus.
"Marx, was ist dir?" rief sie und wandte sich nach mir um. "Hier bin ich
ja!"
"Nichts, Anne Lene", sagte ich, "aber gib mir deine Hand; ich hatte das
Meer vergessen, da hörte ich es plötzlich!"
Wir standen auf einem freien Platze vor dem alten Gartenpavillon, dessen
Türen offen in den zerbrochenen Angeln hingen. Der Mond schien auf Anne
Lenes kleine Hand, die ruhig in der meinen lag. Ich hatte nie das
Mondlicht auf einer Mädchenhand gesehen, und mich überschlich jener
Schauer, der aus dem Verlangen nach Erdenlust und dem schmerzlichen Gefühl
der Vergänglichkeit so wunderbar gemischt ist. Unwillkürlich schloß ich
die Hand des Mädchens heftig in die meine; doch mit der Scheu, die der
Jugend eigen, sah ich in demselben Augenblick zu Boden. Als aber Anne
Lene ihre Hand schweigend in der meinen ließ, wagte ich es endlich, zu ihr
emporzusehen. Sie hatte ihr Gesicht zu mir gewandt und sah mich traurig
an; mitleidig, ich weiß noch jetzt nicht, ob mit mir oder mit sich selbst.
Dann entzog sie sich mir sanft und trat auf die Schwelle des Pavillons.
Ich sah durch die Lücken des Fußbodens das vom Mond beleuchtete Wasser
glitzern und faßte Anne Lenes Kleid, um sie zurückzuhalten. "Sorge nicht,
Marx", sagte sie, indem sie hineintrat und ihre leichte Gestalt auf den
losen Brettern wiegte. "Holz und Stein bricht nicht mit mir zusammen.
"--Sie ging an das gegenüberliegende Fenster und sah eine Weile in die
helle Nacht hinaus, dann hob sie mit der Hand ein Stück der alten Tapete
empor, das neben ihr an der Wand herabhing, und betrachtete im Mondlicht
die halb erloschenen Bilder. "Es hat ausgedient", sagte sie, "die schönen
Schäferpaare wollen sich auch empfehlen. Es mag ihnen doch allmählich
aufgefallen sein, daß die sauberen, weiß toupierten Herren und Damen so
eines nach dem andern ausgeblieben sind, mit denen sie einst zur
Sommerzeit so muntere Gesellschaft hielten.--Einmal", und sie ließ die
Stimme sinken, als rede sie im Traume, "einmal bin ich auch noch mit dabei
gewesen; aber ich war noch ein kleines Kind, Wieb hat es mir oft nachher
erzählt.--Nun fällt alles zusammen! Ich kann es nicht halten, Marx; sie
haben mich ja ganz allein gelassen."
Mir war, als dürfe sie so nicht weiterreden. "Laß uns ins Haus gehen",
sagte ich, "die andern werden bald zur Stadt zurück wollen."
Sie hörte nicht auf mich; sie ließ die Arme an ihrem Kleid herabsinken und
sagte langsam: "Er hat so unrecht nicht gehabt; wer holt sich die Tochter
aus einem solchen Hause!"
Ich fühlte, wie mir die Tränen in die Augen schossen. "O Anne Lene", rief
ich und trat auf die Stufen, die zu dem Pavillon führten, "ich--ich hole
sie! Gib mir die Hand, ich weiß den Weg zur Welt zurück!"
Aber Anne Lene beugte den Leib vor und machte mit den Armen eine hastige
abwehrende Bewegung nach mir hin. "Nein", rief sie, und es war eine
Todesangst in ihrer Stimme, "du nicht, Marx; bleibt! Es trägt uns beide
nicht."
Noch auf einen Augenblick sah ich die zarten Umrisse ihres lieben
Antlitzes vor einem Strahl des milden Lichtes beleuchtet; dann aber
geschah etwas und ging so schnell vorüber, daß mein Gedächtnis es nicht zu
bewahren vermocht hat. Ein Brett des Fußbodens schlug in die Höhe; ich
sah den Schein des weißen Gewandes, dann hörte ich es unter mir im Wasser
rauschen. Ich riß die Augen auf; der Mond schien durch den leeren Raum.
Ich wollte Anne Lene sehen, aber ich sah sie nicht. Mir war, als renne in
meinem Kopfe etwas davon, das ich um jeden Preis wieder einholen müßte,
wenn ich nicht wahnsinnig werden wollte. Aber während meine Gedanken
diesem Unding nachjagten, hörte ich plötzlich vom Hause her die Tanzmusik.
Das brachte mich zur Besinnung; ich stieß einen gellenden Schrei aus und
sprang neben dem Pavillon hinab ins Wasser. Die Graft war tief; aber ich
war kein ungeübter Schwimmer; ich tauchte unter, und meine Hände griffen
zwischen dem schlüpfrigen Kraut umher, das auf dem Grunde wucherte. Ich
öffnete die Augen und versuchte zu sehen; aber ich fühlte nur wie über mir
ein trübes Leuchten. Meine Kleider, deren ich keines abgeworfen, zwangen
mich, auf die Oberfläche zurückzukehren. Hier suchte ich wieder Atem zu
gewinnen und wiederholte dann noch einmal meinen Versuch.--Es war
vergebens. Bald stand ich wieder auf dem abschüssigen Uferrande und
blickte ratlos über die Graft entlang. Da fühlte ich eine Hand sich
schwer auf meine Schulter legen, und eine Stimme rief: "Marx, Marx, was
macht ihr da? Wo ist das Kind?" Ich erkannte, daß es Wieb war. "Dort,
dort!" schrie ich und streckte die Hände nach dem Graben zu. Die Alte
faßte mich unter den Arm und zog mich gewaltsam an den Rand der Graft
hinunter. Endlich brachte ich es heraus; und wir liefen an dem Wasser
entlang, bis an die Laube in der Gartenecke, wo die alten Erlen ihre
Zweige in die Flut hinabhängen lassen. Wir haben sie dann endlich auch
gefunden; die Augen waren zu, und die kleine Hand war fest geschlossen.
Ich gab der alten Wieb einige Anordnungen zu dem, was jetzt geschehen
mußte, dann zog ich den Braunen aus dem Stall und jagte nach der Stadt, um
einen Arzt zu holen, denn ich traute meiner jungen Kunst in diesem Falle
nicht. Wir waren bald zurück; aber die Schatten der Vergänglichkeit, die
schon so früh in dieses junge Leben gefallen waren, ließen sie nun nicht
mehr los.
Als wir einige Stunden später zur Stadt zurückkehrten, war die Marsch so
feierlich und schweigend, und die Rufe der Vögel, die des Nachts am Meere
fliegen, klangen aus so unermeßlicher Ferne, daß mein unerfahrenes Herz
verzweifelte, jemals die Spur derjenigen wiederzufinden, die sich nun auch
in diesen ungeheuren Raum verloren hatte.

Der jetzige Besitzer des Staatshofes ist Claus Peters. Er hat die alte
Heuberg niederreißen lassen und ein modernes Wohnhaus an die Stelle
gesetzt. Die Wirtschaftsgebäude liegen getrennt daneben.--Er hat recht
gehabt, es geht wohl; er liefert die größten Mastochsen zum Transport nach
England, und in seinen Zimmern stehen die kostbarsten Möbel, und er und
seine Juliane glänzen von Gesundheit und Wohlbehagen. Ich aber bin
niemals wieder dort gewesen.

Ende dieses Projekt Gutenberg Etextes Auf dem Staatshof, von Theodor Storm.
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