Auf dem Staatshof - 2

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Sie war infolge derartiger Äußerungen schon mehrfach zur Strafe gezogen;
und jetzt schien sie, nach dem beiderseitigen Betragen zu urteilen, fest
entschlossen, auch der alten Dienerin der van der Rodenschen Familie diese
verblaßte Geschichte vorzutragen.
Die Streitenden rührten sich bei unsrer Ankunft in ihrem Eifer nicht von
der Stelle, und da wir nach dem Flur zwischen beiden hindurch mußten, so
nahm Anne Lene ihr Kleid zusammen, um nicht an das der Bettlerin zu
streifen.
Aber diese vertrat ihr den Weg. "Ei, schöne Mamsell", sagte sie, indem sie
einen tiefen Knicks vor ihr machte und mit einer abscheulichen Koketterie
ihre durchlöcherten Röcke schwenkte, "haben Sie keine Angst, meine Lumpen
sind alle gewaschen! Freilich die seidenen Bändchen sind längst davon,
und die Strümpfe, die hat dein Großvater selig mir ausgezogen; aber wenn
dir die Schuhe noch gefällig sind?"
Und bei diesen Worten zog sie die Schlumpen von den nackten Füßen und
schlug sie aneinander, daß es klatschte. "Greif zu, Goldkind", rief sie,
"greif zu! Es sind Bettelmannsschuhe, du kannst sie bald gebrauchen."
Anne Lene stand ihr völlig regungslos gegenüber; Wieb aber, deren Augen
mit großer Ängstlichkeit an ihrer jungen Herrin hingen, griff in die
Tasche und drückte der Bettlerin eine Münze in die Hand. "Geh nun, Trin",
sagte sie, "du kannst zur Nacht wiederkommen; was hast du noch hier zu
suchen?"
Allein diese ließ sich nicht abweisen. Sie richtete sich hoch auf, indem
sie mit einem Ausdruck überlegenen Hohnes auf die Alte herabsah. "Zu
suchen?" rief sie und verzog ihren Mund, daß das blendende Gebiß zwischen
den Lippen hervortrat. "Mein Muttergut such ich, womit ihr die Löcher in
eurem alten Dache zugestopft habt."
Wieb machte Miene, Anne Lene ins Haus zu ziehen.
"Bleib Sie nur, Mamsell", sagte das Weib und ließ die empfangene Münze in
die Tasche gleiten, "ich gehe schon; es ist hier doch nichts mehr zu
finden. Aber", fuhr sie fort, mit einer geheimnisvollen Gebärde sich
gegen die Alte neigend, "auf deinem Heuboden schlafe ich nicht wieder. Es
geht war um in eurem Hause, das pflückt des Nachts den Mörtel aus den
Fugen. Wenn nur das alte hoffärtige Weibe noch daruntersäße, damit ihr
alle auf einmal euren Lohn bekämet!"
Auf Anne Lenes Antlitz drückte sich ein Erstaunen aus, als sei sie durch
diese Worte wie von etwas völlig Unmöglichem betroffen worden. "Wieb",
rief sie, "was sagt sie? Wen meint sie, Wieb?"
Mich übermannte bei dem Anblick meiner jungen hilflosen Freundin der Zorn;
und ehe das Weib zu einer Antwort Zeit gewann, packte ich sie am Arm und
zerrte sie den Hof hinunter bis hinaus auf den Weg. Aber noch als ich das
Gittertor hinter mir zugeworfen hatte und wieder auf die Werfte hinaufging,
hörte ich sie ihre leidenschaftlichen Verwünschungen ausstoßen. "Geh
nach Haus, Junge", schrie sie mir nach, "dein Vater ist ein ehrlicher Mann;
was läufst du mit der Dirne in der Welt umher!"
Drinnen im Gesindezimmer fand ich Anne Lene vor ihrer alten Wärterin auf
den Knien liegen, den Kopf in ihren Schoß gedrückt. "Wieb", sprach sie
leise, "sag mir die Wahrheit, Wieb!"
Die Alte schien um Worte verlegen. Sie schalt auf die Bettlerin und
redete dies und das von allgemeinen Dingen, indem sie ihre rauhe Hand
liebkosend über das Haar ihres Lieblings hingleiten ließ. "Was wird es
sein", sagte sie, "dein Großvater und dein Urgroßvater waren große Leute;
die Armen sind immer den Reichen heimlich feind!"
Anne Lene, die bis dahin ruhig zugehört hatte, erhob den Kopf und sah sie
zweifelnd an. "Es mag doch wohl anders gewesen sein, Wieb", sagte sie
traurig, "du mußt mich nicht belügen!"
Was weiter zwischen den beiden gesprochen worden, weiß ich nicht; denn ich
verließ nach diesen Worten das Zimmer, da ich glaubte, die Alte werde das
Gemüt des Mädchens leichter zur Ruhe sprechen, wenn sie allein sich
gegenüber wären.--Aber nach einigen Tagen war das Diamantkreuz von Anne
Lenes Hals verschwunden, und ich habe dieses Zeichen alten Glanzes niemals
wieder von ihr tragen sehen.

Ich mochte etwa ein Jahr lang in der Universitätsstadt gewesen sein, als
ich durch einen Brief meines Vaters die Nachricht von Anne Lenes Verlobung
mit einem jungen Edelmann erhielt. Er teilte mir die Sache mit, ohne ein
Wort der Billigung oder Mißbilligung von seiner Seite hinzuzufügen.--Der
Bräutigam war mir wohlbekannt; seine Familie stammte aus unsrer Stadt, und
er selbst hatte sich kurz vor meiner Abreise wegen einer
Erbschaftsangelegenheit dort aufgehalten. Da er sich meines Vaters als
Geschäftsbeistandes bediente und keine weiteren Bekanntschaften in der
Stadt hatte, so war er in unserm Hause ein oft gesehener Gast geworden.
--Mir waren die blanken braunen Augen dieses Menschen vom ersten
Augenblick an zuwider gewesen; und auch jetzt noch schienen sie mir nichts
Gutes zu versprechen. Doch sagte ich mir selbst, da diese Meinung keine
unparteiische sei. Ich war von dem Herrn Kammerjunker als ein junger
bürgerlicher Mensch von vornherein mit einer mir sehr empfindlichen
Oberflächlichkeit behandelt worden; er hatte in meiner Gegenwart in der
Regel getan, als ob ich gar nicht vorhanden sei; was aber das schlimmste
war, ich hatte zu bemerken geglaubt, daß er meiner jungen Freundin nicht
in gleichem Grade wie mir mißfallen hatte.
Obgleich die seit meiner Knabenzeit in mir keimende Neigung für Anne Lene,
da sie keine Erwiderung gefunden, niemals zur Entfaltung gekommen war, so
wurde ich doch jetzt durch die Nachricht von ihrer Verbindung mit einem
mir so verhaßten Manne auf das heftigste erschüttert und, ich darf wohl
sagen, beunruhigt. Meine Phantasie ließ nicht nach, mir die kleinsten
Züge seines Wesens wieder und wieder vor Augen zu führen; und besonders
mußte ich mich eines übrigens geringfügigen Vorfalls erinnern, der mich
gegen die Natur dieses Menschen in völligem Widerspruch setzte.
Es war im Spätsommer; unsre Familie saß in der Ligusterlaube beim
Nachmittagskaffee, wozu außer dem alten Syndikus auch der Kammerjunker
sich eingefunden hatte. Die Herren mochten, ehe ich hinzukam,
geschäftliche Sachen erörtert haben; denn das alte Porzellanschreibzeug
meines Vaters stand neben dem übrigen Geschirr auf dem Tische. Anne Lene
ging in stiller Geschäftigkeit ab und zu; bald um im Hause die Bunzlauer
Kanne aufs neue zu füllen, bald um die Wachskerze für die Tonpfeife des
Syndikus anzuzünden, die über dem Plaudern immer wieder ausging. Das
Gespräch der beiden älteren Herren hatte sich mittlerweile auf städtische
Angelegenheiten gewandt, welche für den Fremden wenig Interessen boten.
Er hatte die Arme vor sich auf den Tisch gestreckt und schien seinen
eignen Gedanken nachzugehen; nur wenn draußen zwischen den sonnigen Beeten
das Kleid des jungen Mädchens sichtbar wurde, hob er die Augenlider und
sah nach ihr hinüber. Es war in diesem lässigen Anschauen etwas, das mich
in einen ohnmächtigen Zorn versetzte; zumal als ich sah, wie Anne Lene die
Augen niederschlug und sich, wie um Schutz zu suchen, an meiner Mutter
Seite auf das äußerste Ende der Bank setzte. Der Kammerjunker, ohne sie
weiter zu beachten, haschte eine Mücke, die eben an ihm vorüberflog. Ich
sah, wie er sie an den Flügeln sorgsam zwischen seinen Fingern hielt, wie
er den Kopf herabneigte und die hilflosen Bewegungen des Geschöpfes mit
Aufmerksamkeit zu betrachten schien. Nach einer Weile nahm er die neben
ihm liegende Schreibfeder, tauchte sie in das Tintenfaß und begann nun
nacheinander Kopf und Brustschild seines kleinen Opfers in langsamen Zügen
damit zu bestreichen. Bald aber änderte er sein Verfahren; er zog die
Feder zurück und führte sie wie zum Stoß wiederholt gegen die Brust der
Kreatur, welche mit den feinen Füßen die auf sie eindringende Spitze
vergebens abzuwehren strebte. Seine blanken Augen waren ganz in dies
Geschäft vertieft. Endlich aber schien er dessen überdrüssig zu werden;
er durchstach das Tier und ließ es vor sich auf den Tisch fallen, indem er
zugleich eine Frage meines Vaters beantwortete, die seine Aufmerksamkeit
erregt haben mochte.--Ich hatte wie gebannt diesem Vorgange zugesehen, und
Anne Lene schien es ebenso ergangen; denn ich hörte sie aufatmen, wie
jemand, der von einem auf ihm lastenden Druck mit einem Male befreit wird.
Einige Tage darauf vermißten wir Anne Lene bei der Mittagstafel, was sonst
niemals zu geschehen pflegte.--Als ich, um sie zu suchen, in den Garten
trat, begegnete mir der Kammerjunker, der wie gewöhnlich mit einem halben
Kopfnicken an mir vorbeipassierte. Da ich Anne Lene nicht gewahrte, so
ging ich in den untern Teil des Gartens, in welchem mein Vater eine kleine
Baumschule angelegt hatte. Hier stand sie mit dem Rücken an einen jungen
Apfelbaum gelehnt. Sie schien ganz einem innern Erlebnis zugewendet; denn
ihre Augen starrten unbeweglich vor sich hin, und ihre kleinen Hände lagen
fest geschlossen auf der Brust. Ich fragte sie: "Was ist denn dir
begegnet, Anne Lene?" Aber sie sah nicht auf; sie ließ die Arme sinken und
sagte: "Nichts, Marx; was sollte mir begegnet sein?" Zufällig aber hatte
ich bemerkt, daß die Krone des kleinen Baumes wie von einem Pulsschlage in
gleichmäßigen Pausen erschüttert wurde, und es überkam mich eine Ahnung
dessen, was hier geschehen sein könne; zugleich ein Reiz, Anne Lene fühlen
zu lassen, daß sie mich nicht zu täuschen vermöge. Ich zeigte mit dem
Finger in den Baum und sagte: "Sieh nur, wie dir das Herz klopft!"
Diese Vorfälle, welche damals bei der kurz danach erfolgten Abreise des
Kammerjunkers bald von mir vergessen waren, ließen nun nicht ab, mich zu
beunruhigen, bis sie endlich von den Leiden und Freuden des
Studentenlebens aufs neue in den Hintergrund gedrängt wurden.

Ich habe nicht von mir zu reden.
Etwa zwei Jahre später um Ostern kehrte ich als junger Doctor promotus in
die Heimat zurück. Schon vorher hatte man mir geschrieben, daß das
fortdauernder Sinken der Landpreise den Verkauf des Staatshofes nötig
machen werde, und daß Anne Lene aus einem immerhin noch reichen Erbin
wahrscheinlich ein armes Mädchen geworden sei. Nun erfuhr ich noch dazu,
daß auch ihre Verlobung sich aufzulösen scheine. Die Briefe des
Bräutigams waren allmählich seltener geworden und seit einiger Zeit ganz
ausgeblieben. Anne Lene hatte das ohne Klage ertragen; aber ihre
Gesundheit hatte gelitten, und sie befand sich gegenwärtig schon seit
einigen Wochen zu ihrer Erholung draußen auf dem Staatshof, wo man eins
der kleineren Zimmer in dem oberen Stockwerk für sie instand gesetzt hatte.
Obwohl ich seit ihrem Brautstande nicht an sie geschrieben, so konnte ich
doch nicht unterlassen, noch am Tage meiner Ankunft zu ihr hinauszugehen.
--Es war schon spätnachmittags, als ich den Staatshof erreichte. Die alte
Wieb fand ich draußen auf dem Wege an einem Heck stehend, von wo ein
Fußsteig über die Fennen nach dem Deiche zu führte. Sie hatte mich nicht
kommen sehen, da sie den Rücken gegen den Weg kehrte, und als ich
unvermerkt ihre harte Hand erfaßte, vermochte sie mich erst nicht zu
erkennen. Bald aber trat ein Ausdruck der Freude in das alte Gesicht, und
sie sagte: "Gott sei Dank, daß du da bist, Marx! So eine treue Seele tut
uns gerade not!"
"Wo ist Anne Lene?" fragte ich. Die Alte zeigte mit der Hand ins Land
hinaus und sagte bekümmert: "Da geht sie wieder in der Abendluft!"
Etwa auf dem halben Wege nach dem Haffdeiche, der hier nördlich von dem
Hofe die Landschaft gegen das Meer hin abschließt, sah ich eine weibliche
Gestalt über die Fennen gehen. "Setz nur den Kessel ans Feuer, Wieb",
sagte ich, "ich will sie holen, wir kommen bald zurück."--Nach einer Weile
hatte ich Anne Lene erreicht. Als ich ihren Namen rief, stand sie still
und wandte den Kopf nach mir zurück. Ich fühlte plötzlich, wieviel von
ihrem Bilde in meiner Erinnerung erloschen sei. So lieblich hatte ich sie
mir nicht gedacht; und doch war sie dieselbe noch; nur ihre Augen schienen
dunkler geworden, und die Linien des zarten Profils waren ein wenig
schärfer gezogen als vor Jahren. Ich faßte ihre beiden Hände. "Liebe
Anne Lene", sagte ich, "ich bin eben angekommen; ich wollte dich noch
heute sehen!"
"Ich danke dir, Marx", erwiderte sie, "ich wußte, daß du dieser Tage
kommen würdest."--Aber ihre Gedanken schienen nicht bei diesem Willkommen
zu sein; denn sie wandte die Augen sogleich wieder von mir ab und begann
auf dem Fußsteige weiterzugehen. "Begleite mich noch ein wenig", fuhr sie
fort, "wir gehen dann zusammen nach dem Hof zurück."
"Aber es wird kalt, Anne Lene!"
"Oh, es ist nicht so kalt", sagte sie, indem sie das große Schaltuch
fester um die Schultern zog.--So gingen wir denn weiter. Ich suchte
allerlei Gespräch, aber keines wollte gelingen. Es wurde schon abendlich;
ein feuchter Nordwest wehte vom Meere über die Landschaft, und vor uns auf
dem Haffdeich sah man gegen den braunen Abendhimmel einzelne Fuhrwerke wie
Schattenspiel vorbeipassieren. Nach einer Weile bemerkte ich einen Mann
an der Seite des Deiches herabsteigen und uns auf dem Fußwege
entgegengehen. Es war der Postbote, der zweimal in der Woche für die
Hofbesitzer die Briefe aus der Stadt holte. Ich fühlte, wie Anne Lene
ihren Schritt beeilte, da er in unsre Nähe kam. "Hast du etwas für mich,
Carsten?" fragte sie und suchte dabei in ihrer Stimme vergebens eine
innere Unruhe zu verbergen.
Der Bote blätterte in seiner Ledertasche zwischen den Briefen umher. "Für
dieses Mal nicht, liebe Mamsell!" sagte er endlich mit einer verlegenen
Freundlichkeit, indem er die aufgehobene Klappe wieder über seine Tasche
fallen ließ. Er mochte ihr diese Antwort schon oft gegeben haben. Anne
Lene schwieg einen Augenblick. "Es ist gut, Carsten", sagte sie dann, "du
kannst erst mit uns gehen und Abendbrot essen."--Sie schien das Ziel ihrer
Wanderung erreicht zu haben; denn sie kehrte bei diesen Worten um, und wir
gingen mit dem Boten nach dem Hofe zurück. Die Dämmerung war schon stark
hereingebrochen. Von dem Ackerstück, an welchem wir vorüberkamen, vernahm
man die kurzen Laute der Brachvögel, die unsichtbar in den Furchen lagen;
mitunter flog ein Kiebitz schreiend vor uns auf, und auf den Weiden stand
das Vieh in dunkeln, unkenntlichen Massen beisammen.--Wir hatten auf dem
Rückwege, als geschehe es im Einverständnis, kein Wort miteinander
gewechselt; als wir schon fast im Dunkeln auf der Werfte angelangt waren,
ergriff Anne Lene meine Hand. "Gute Nacht, Marx", sagte sie, "verzeih mir;
ich bin müde, ich muß schlafen; nicht wahr, du kommst recht bald einmal
wieder zu uns heraus!" Mit diesen Worten trat sie in die Haustür, und bald
hörte ich, wie sie die Treppe nach ihrem Zimmer hinaufging.
Ich begab mich zu den alten Hofleuten, die in Gesellschaft des Boten am
warmen Ofen bei ihrem Abendtee saßen. Wieb entfernte sich für einen
Augenblick, um Anne Lene ein Licht hinaufzubringen; dann nötigte sie mich,
an ihrer Mahlzeit teilzunehmen, und ich mußte erzählen und erzählen lassen.
Darüber war es spät geworden, so daß ich nicht mehr zur Stadt
zurückkehren mochte. Ich bat meine alte Freundin, mir eine Streu in ihrer
Stube aufzuschütten, und schlenderte, während dies geschah, in den Garten
hinaus. Da ich in das Boskett an der nördlichen Seite kam, bemerkte ich,
daß Anne Lene noch Licht in ihrem Zimmer habe. Ich lehnte mich an einen
Baum und blickte hinauf. Es schien alles still darinnen. Plötzlich aber
entstand hinter den Fenstern eine starke Helligkeit, die eine Zeitlang in
die kahlen Büsche des Gartens hinausleuchtete und dann allmählich wieder
verschwand. Mich überkam, während ich so im Dunkeln stand, eine
unbestimmte Besorgnis, und ohne mich lange zu bedenken, ging ich durch die
Hintertür ins Haus und die Treppe nach Anne Lenes Zimmer hinauf.
Die Tür war nur angelehnt. Anne Lene saß an einem Tischchen mit den Füßen
gegen den Ofen, in welchem ein helles Feuer brannte. Unter der Schnur
eines Päckchens, das auf ihrem Schoße lag, zog sie einen Brief hervor; sie
entfaltete ihn und schien aufmerksam darin zu lesen. Nach einer Weile
bewegte sie die Hand ein wenig, so daß das Papier von der Flamme des neben
ihr auf dem Tische stehenden Lichtes ergriffen wurde. Ihr Gesicht trug
dabei einen solchen Ausdruck von Trostlosigkeit, daß ich unwillkürlich
ausrief: "Anne Lene, was treibst du da?"
Sie blieb ruhig sitzen, ohne sich nach mir umzuwenden, und ließ den Brief
in ihrer Hand verbrennen.
"Sie sind kalt", sagte sie, "sie sollen heiß werden!"
Ich war mittlerweile ins Zimmer getreten und hatte mich neben ihren Stuhl
gestellt. Plötzlich, wie von einem raschen Entschluß getrieben, stand sie
auf und legte beide Hände fest um meinen Hals; sie wollte zu mir sprechen,
aber ihre Tränen brachen unaufhaltsam hervor, und so drückte sie den Kopf
gegen meine Brust und weinte eine lange Zeit, in welcher ich nichts tun
konnte, als sie still in meinen Armen halten. "Nein, Marx", sagte sie
endlich und mühte sich, ihrer Stimme einen festeren Klang zu geben, "ich
verspreche es dir, ich will nicht länger auf ihn warten."
"Hast du ihn denn so geliebt, Anne Lene?"
Sie richtete sich auf und sah mich an, als müsse sie erst nachsinnen über
diese Frage. Dann sagte sie langsam: "Ich weiß es nicht--das ist auch
einerlei."
Ich blieb noch eine Weile bei ihr, und allmählich wurde sie ruhiger. Sie
versprach mir, Mut zu fassen, mir und unsrer Mutter zuliebe; sie wollte
arbeiten, sie wollte in der kleinen Wirtschaft der alten Wieb die Anfänge
des Landhaushaltes lernen, damit sie einmal als Wirtschafterin ihr Brot
verdienen könne. Sie sah dabei fast mitleidig auf ihre kleinen Hände,
deren Schönheit sie der Not des Lebens opfern wollte. Nur zur Rückkehr
nach der Stadt vermochte ich sie nicht zu bewegen. "Nein, nicht unter
Menschen!" sagte sie und sah mich bittend an. "Laß mich hier, Marx,
solange es mir noch gestattet ist; aber komm oft einmal heraus zu uns."
So verließ ich sie an diesem Abend; aber ich ging von nun an häufig den
Weg über die Fennen nach dem Staatshof.--Anne Lene schien ihr Versprechen
halten zu wollen; ich fand sie mehrere Male beim Sahnen in der Milchkammer
oder am Butterfasse, wo sie abwechselnd mit der alten Wieb den Stempel
führte; ja, sie ließ es sich nicht nehmen, die Butter zum Kneten in die
Mulde zu tun, ganz wie sie es von ihrer alten Wärterin gesehen hatte; sie
schien es auch nicht zu merken, daß diese hinterher ganz im geheim die
letzte Hand an ihre Arbeit legte. Allein man fühlte leicht, daß die
Teilnahme an diesen Dingen nur eine äußerliche war; eine Anstrengung, von
der sie bald in der Einsamkeit ausruhen mußte.

Es war schon in der heißen Sommerzeit, als einige junge Leute aus unsrer
Stadt mit ihren Schwestern und Bekannten eine Landpartie nach dem
Staatshofe hinaus zu machen wünschten. Man bat mich um eine Vermittlung
bei Anne Lene; und mit einiger Mühe erhielt ich ihre Einwilligung.--So
waren denn eines Sonntagnachmittags die verwilderten Gänge des Gartens
wieder einmal von geputzten Leuten belebt, und man sah zwischen den
Büschen die weißen Kleider und die bunten Schärpen der Mädchen. Die alte
Wieb mußte den großen Kaffeekessel hervorsuchen; dann wurden die
mitgebrachten Körbe ausgepackt und alles vor der Haustür dem Garten
gegenüber serviert. Als der Kaffee vorüber war, stiegen die besten
Kletterer unter uns in den Gipfel der beiden alten Linden, die zu den
Seiten des Hoftores standen, indem jeder das Ende eines ungeheueren Taues
mit sich hinaufnahm. Bald war zwischen den höchsten Ästen eine Schaukel
festgeknüpft, und die Mädchen wurden eingeladen, sich hineinzusetzen.
"Komm, Anne Lene", rief ein junger, robust aussehender Mensch, indem er
fast mitleidig auf ihre feine Gestalt hinabsah, "setz dich hinein; ich
will dir einmal eine ordentliche Motion machen!"
Anne Lene bedankte sich, aber ein munteres schwarzäugiges Mädchen ließ
sich williger finden; und bald schwenkte Claus Peters die Schaukel, bis
die kleine Juliane wie ein Vogel zwischen den Zweigen saß und endlich
flehentlich um Gnade schrie.--Claus Peters war der Sohn eines reichen
Brauers, und es hieß, sein Vater werde ihm den Staatshof kaufen, sobald er
zum Aufstrich komme, und ihm eine glänzende Wirtschaft einrichten. Auch
schien er in seinen Gedanken sich schon als den künftigen Besitzer zu
betrachten; denn als wir später in Begleitung des Hofmanns zwischen den
Baulichkeiten herumgingen, fand er überall etwas zu tadeln und sprach von
Verbesserungen, die hier vorgenommen werden müßten, während der alte
Marten mit einem mißvergnügten Brummen nebenherging.
Es war allmählich spät geworden. Als wir von unsrer Umschau zurückkehrten,
fanden wir die Mädchen vor der Haustür versammelt und Anne Lene unter
ihnen.
Zwei derselben hatten ihre Hände gefaßt, als könnte sie nur mit zärtlicher
Gewalt hier zurückgehalten werden. "Ja, wenn wir Musik hätten!" sagte die
eine.--"Musik!" rief Peters, indem er an den dicken Goldberlocken seine
Uhr aus der Tasche zog. "Ihr sollt bald Musik haben; in einer halben
Stunde bin ich wieder da!"
Er war zu Pferde herausgekommen und rief nun ins Haus nach dem Hofmann.
"Bring mir den Braunen, Marten; aber brauch deine Beine!" Der Alte knurrte
etwas vor sich hin, aber er tat doch, wie ihm geheißen, und bald ritt
Peters im Galopp zum Tore hinaus. Wir andern gingen ins Haus und
besichtigten oben den Tanzsaal. Es kam uns eine dumpfe Luft entgegen, als
wir die Tür des alten Prunkgemaches geöffnet hatten.
Die goldgeblümten Tapeten waren von der Feuchtigkeit gelöst und hingen
teilweise zerrissen an den Wänden; überall stachen noch die Stellen hervor,
wo vorzeiten die Familienporträte gehangen hatten. Wir gingen wieder
hinab und trugen einen Tisch und einige Gartenbänke in das leere Zimmer;
dann öffneten wir die Fenster, durch welche es von den draußen stehenden
Bäumen schon hereinzudunkeln begann, und die Mädchen umfaßten sich und
tanzten miteinander. "Wartet!" rief ich, "wir wollen einen Kronleuchter
machen!" Denn oben an der Zimmerdecke gewahrte ich noch die Krampe, an der
einst die Kristallkrone über der Festtafel des Hauses gehangen hatte.
Bald waren zwei Holzleisten aufgefunden und kreuzweis übereinandergenagelt.
Anne Lene ging mit den Mädchen in den Garten hinab; und aus dem Fenster
sah ich, wie sie die Blumen von den Jasminbüschen und von den rot
blühenden Himbeersträuchen brachen. "Pflückt nur", sagte Anne Lene, als
eins der Mädchen fragend zu ihr umschaute, "es blüht hier doch für sich
allein." Aber sie selber stand dabei; sie pflückte nichts.--Nach einer
Weile kamen alle wieder herauf und machten sich daran, meinen Kronleuchter
eins ums andre mit weißen und roten Blüten zu bewinden; dann, nachdem an
jedem Ende eine Kerze befestigt und angezündet war, wurde das Kunstwerk
aufgehangen. Die wenigen Lichter konnten den weiten Raum nicht erhellen;
aber draußen war schon der Mond aufgegangen und schien durch die Fenster,
und es war anmutig, wie die Blumenleuchte mitten in dem öden Zimmer
schwebte und wie der Duft erregt wurde, wenn die Mädchen unten durch
tanzten. Plötzlich hörten wir ein Pferd auftraben und einen lauten
Peitschenknall.
"Da kommt die Musik!" hieß es; und alle drängten an die Fenster.--Draußen
unter den Bäumen hielt Peters; eine kleine dürre Gestalt klebte hinter ihm
auf dem Pferde, Geige und Bogen in der Hand.
Bei näherem Hinschauen erkannte ich wohl, daß es der alte Drees-Schneider
war, ein vielgewandtes Männchen, das bald mit der Nadel, bald mit dem
Fiedelbogen für seinen Unterhalt sorgte, und den die harte Zeit gelehrt
hatte, sich manchen derben Spaß gefallen zu lassen.--"Nun, Drees, spiel
eins auf!" rief Peters. "Mach dein Kompliment vor den Damen!" Aber sowie
der Alte die Hand vom Sattel ließ und seine Geige unters Kinn stützte,
rührte Peters das Pferd mit den Sporen, daß es ausschlug; und der Alte
schwankte und griff wieder hastig nach dem Sattel. Anne Lene stand vor
mir; ich sah in der schwachen Beleuchtung, wie die Röte ihr in die Schläfe
hinaufstieg.
"Drees", rief ich, "komm herab, Drees!"--Der Alte machte Anstalt
hinabzuklimmen; aber der Reiter lachte und gab seinem Pferde die Sporen.
"Marten", sagte Anne Lene zu dem Hofmann, "halte das Pferd, Marten!"--"Oho,
Anne Lene!" rief Peters; allein er machte doch keinen Versuch, seine
Späße fortzusetzen, und ließ es geschehen, daß Marten dem alten Drees
herunterhalf.
Gleich darauf waren alle oben im Saal, und nachdem Peters dem alten
Musikanten seine Angst durch einige Gläser Wein vergütet hatte, setzte
dieser sich auf ein kleines Faß und begann seine Stücke aufzustreichen.
Die Paare traten an, und bald wurde unsre Blumenleuchte vom Wirbel der
Tanzenden hin und her bewegt. Ich suchte Anne Lene, aber sie mußte
unbemerkt hinausgegangen sein, und da für mich keine Tänzerin
übriggeblieben war, so verließ ich ebenfalls den Saal, in der Meinung, sie
unten bei den alten Hofleuten anzutreffen.
Als ich in das Gesindezimmer trat, sah ich indessen nur die alte Wieb,
welche eifrig an ihrem Strickstrumpf arbeitete. Sie zog eine Nadel aus
dem Brustlatz und störte damit in der Lampe, die den ziemlich großen Raum
nur spärlich erhellte. Dann sah sie zu mir auf und sagte: "Ihr seid ja
gewaltig lustig, Marx! Claus Peters spielt wohl schon den Herrn im
Staatshof?"
"Er wird es bald genug sein", antwortete ich, "das ist nicht mehr zu
ändern!"
Die Alte schwieg eine Weile, und ihre Gedanken schienen sich von dem alten
Besitztum der Familie zu dem letzten Nachkommen derselben hinzuwenden.
"Marx", sagte sie, indem sie den Strickstrumpf auf den Tisch legte, "warum
bist du auch so lange fort gewesen"
"Was hätte ich denn ändern können, Wieb?"
"Und die zwei langen Jahre!--Wenn nur der Unglücksmensch nicht gekommen
wäre!" fuhr sie fort, wie zu sich selber redend. "Sie war dazumal noch
die reiche Erbtochter; heißt das, sie war so in der Leute Mäuler; aber
schon als die alte Frau in die Ewigkeit ging, ist nichts übrig gewesen als
die schweren Hypotheken. Gott besser's! Nun soll gar der Hof verkauft
werden.--Nicht meinetwegen, Marx, nicht meinetwegen; Marten und ich helfen
uns schon durch die übrigen paar Jahre."
"Es ist wohl so am besten, Wieb", sagte ich; "vielleicht bleibt noch ein
Restchen übrig für Anne Lene, so daß sie nicht ganz verarmt ist."
Die alte Frau wischte sich mit der Schürze über die Augen. "Es ist
grausam", sagte sie kopfschüttelnd, "so eine Familie!"
Von oben schallte das Scharren der Tanzenden; im anstoßenden Stalle hörte
ich, wie täglich um diese Zeit, den Hofmann den Karren und die übrigen
Geräte für die Nacht an ihren Platz bringen.
Als ich aufsah, stand Anne Lene in der Tür. Sie war blaß, aber sie nickte
freundlich nach uns hin und sagte: "Willst du nicht tanzen, Marx? Ich bin
oben gewesen; die kleine Juliane sucht dich mit ihren braunen Augen schon
in allen Ecken!"
"Du scherzest, Anne Lene; was geht mich Juliane an?"
"Nein, nein, Marx! Nimm dich in acht; Claus Peters tanzt schon den
zweiten Tanz mit ihr."
"Aber, Anne Lene!"--Ich trat zu ihr. "Willst du mit mir tanzen?"
"Weshalb denn nicht?"
"Aber ein Menuett, Anne Lene!"
"Ein Menuett, Marx!--Und", fügte sie lächelnd hinzu, "nicht wahr, Freund
Simon darf dabeisein?"
Als wir gehen wollten, faßte die Alte Anne Lenes Hand. "Kind", sagte sie
besorgt, "der Doktor hat's dir ja verboten!"
Aber Anne Lene erwiderte: "Oh, gute Wieb, es schadet nicht; ich weiß das
besser als der Doktor!" Und mein Verlangen, mit ihr zu tanzen, war so groß,
daß ich mir diese Versicherung gefallen ließ.
Als wir oben in den Saal getreten waren, ging ich in die Ecke zu dem
kleinen Drees und bestellte ein Menuett. Er blätterte in seinen Büchern
umher; aber er hatte den alten Tanz nicht mehr darin; wir mußten uns mit
einem Walzer begnügen. Claus Peters trat an den Tisch, schenkte ihm das
Glas voll und stieß mit ihm an. "Aufgespielt, Drees!" rief er, "aber
kratze nicht so, es kommen feine Leute an den Tanz."
Der Alte setzte sein Glas an den Mund. "Nun, Herr Peters", sagte er,
indem er den jungen Menschen mit seinen kleinen scharfen Augen ansah, "auf
daß es uns wohlgehe auf unsern alten Tagen!"
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