Abhandlungen über die Fabel - 4

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konnte ihm die aphthonianische mangelhafte Einteilung der Fabel nicht
anders als willkommen sein, indem es durch sie stillschweigend
gleichsam zur Regel gemacht wird, daß die Gottheiten und allegorischen
Wesen gar nicht in die aesopische Fabel gehören. Und diese Regel eben
möchte Batteux gar zu gern festsetzen, ob er sich gleich nicht
getrauet, mit ausdrücklichen Worten darauf zu dringen. Sein System
von der Fabel kann auch nicht wohl ohne sie bestehen. "Die aesopische
Fabel, sagt er, ist, eigentlich zu reden, das Schauspiel der Kinder;
sie unterscheidet sich von den übrigen nur durch die Geringfügigkeit
und Naivität ihrer spielenden Personen. Man sieht auf diesem Theater
keinen Cäsar, keinen Alexander: aber wohl die Fliege und die Ameise
etc."--Freilich, diese Geringfügigkeit der spielenden Personen
vorausgesetzt, konnte Batteux mit den höhern poetischen Wesen des de
La Motte unmöglich zufrieden sein. Er verwarf sie also, ob er schon
einen guten Teil der besten Fabeln des Altertums zugleich mit
verwerfen mußte, und zog sich, um den kritischen Anfällen deswegen
weniger ausgesetzt zu sein, unter den Schutz der mangelhaften
Einteilung des Aphthonius. Gleich als ob Aphthonius der Mann wäre,
der alle Gattungen von Fabeln, die in seiner Einteilung nicht Platz
haben, eben dadurch verdammen könnte! Und diesen Mißbrauch einer
erschlichenen Autorität, nenne ich eben die kleine Tücke, deren sich
Batteux in Ansehung des de La Motte hier schuldig gemacht hat.
{Fussnote 1: Nach der Ramlerschen Übersetzung, S. 244.}
Wolf [2] hat die Einteilung des Aphthonius gleichfalls beibehalten,
aber einen weit edlern Gebrauch davon gemacht. Diese Einteilung in
vernünftige und sittliche Fabeln, meinet er, klinge zwar ein wenig
sonderbar; denn man könnte sagen, daß eine jede Fabel sowohl eine
vernünftige als eine sittliche Fabel wäre. Sittlich nämlich sei eine
jede Fabel insofern als sie einer sittlichen Wahrheit zum Besten
erfunden worden, und vernünftig insofern, als diese sittliche Wahrheit
der Vernunft gemäß ist. Doch da es einmal gewöhnlich sei, diesen
Worten hier eine andere Bedeutung zu geben, so wolle er keine Neuerung
machen. Aphthonius habe übrigens bei seiner Einteilung die Absicht
gehabt, die Verschiedenheit der Fabeln ganz zu erschöpfen, und mehr
nach dieser Absicht als nach den Worten, deren er sich dabei bedient
habe, müsse sie beurteilet werden. Absit enim, sagt er--und oh, wenn
alle Liebhaber der Wahrheit so billig dächten!--, absit, ut negemus
accurate cogitasse, qui non satis accurate loquuntur. Puerile est,
erroris redarguere eum, qui ab errore immunem possedit animum,
propterea quod parum apta succurrerint verba, quibus mentem suam
exprimere poterat. Er behält daher die Benennungen der
aphthonianischen Einteilung bei und weiß die Wahrheit, die er nicht
darin gefunden, so scharfsinnig hineinzulegen, daß sie das vollkommene
Ansehen einer richtigen philosophischen Einteilung bekömmt. "Wenn wir
Begebenheiten erdichten, sagt er, so legen wir entweder den Subjekten
solche Handlungen und Leidenschaften, überhaupt solche Prädikate bei
als ihnen zukommen, oder wir legen ihnen solche bei, die ihnen nicht
zukommen. In dem ersten Falle heißen es vernünftige Fabeln, in dem
andern sittliche Fabeln, und vermischte Fabeln heißen es, wenn sie
etwas sowohl von der Eigenschaft der sittlichen als vernünftigen Fabel
haben."
{Fussnote 2: Philosoph. practicae universales pars post. S 303.}
Nach dieser Wolfischen Verbesserung also, beruhet die Verschiedenheit
der Fabel nicht mehr auf der bloßen Verschiedenheit der Subjekte,
sondern auf der Verschiedenheit der Prädikate, die von diesen
Subjekten gesagt werden. Ihr zufolge kann eine Fabel Menschen zu
handelnden Personen haben und dennoch keine vernünftige Fabel sein, so
wie sie eben nicht notwendig eine sittliche Fabel sein muß, weil Tiere
in ihr aufgeführet werden. Die oben angeführte Fabel von den zwei
kämpfenden Hähnen würde nach den Worten des Aphthonius eine sittliche
Fabel sein, weil sie die Eigenschaften und das Betragen gewisser Tiere
nachahmet; wie hingegen Wolf den Sinn des Aphthonius genauer bestimmt
hat, ist sie eine vernünftige Fabel, weil nicht das geringste von den
Hähnen darin gesagt wird, was ihnen nicht eigentlich zukäme. So ist
es mit mehrern: Z. E. der Vogelsteller und die Schlange [3], der Hund
und der Koch [4], der Hund und der Gärtner [5], der Schäfer und der Wolf
[6]: lauter Fabeln, die nach der gemeinen Einteilung unter die
sittlichen und vermischten, nach der verbesserten aber unter die
vernünftigen gehören.
{Fussnote 3: Fab. Aesop. 32.}
{Fussnote 4: Fabul. Aesop. 34.}
{Fussnote 5: Fab. Aesop. 67.}
{Fussnote 6: Fab. Aesop. 71.}
Und nun? Werde ich es bei dieser Einteilung unsers Weltweisen können
bewenden lassen? Ich weiß nicht. Wider ihre logikalische Richtigkeit
habe ich nichts zu erinnern; sie erschöpft alles, was sie erschöpfen
soll. Aber man kann ein guter Dialektiker sein, ohne ein Mann von
Geschmack zu sein; und das letzte war Wolf, leider, wohl nicht. Wie,
wenn es auch ihm hier so gegangen wäre, als er es von dem Aphthonius
vermutet, daß er zwar richtig gedacht, aber sich nicht so vollkommen
gut ausgedrückt hätte, als es besonders die Kunstrichter wohl
verlangen dürften? Er redet von Fabeln, in welchen den Subjekten
Leidenschaften und Handlungen, überhaupt Prädikate, beigelegt werden,
deren sie nicht fähig sind, die ihnen nicht zukommen. Dieses
Nicht-Zukommen kann einen übeln Verstand machen. Der Dichter, kann
man daraus schließen, ist also nicht gehalten, auf die Naturen der
Geschöpfe zu sehen, die er in seinen Fabeln aufführet? Er kann das
Schaf verwegen, den Wolf sanftmütig, den Esel feurig vorstellen; er
kann die Tauben als Falken brauchen und die Hunde von den Hasen jagen
lassen. Alles dieses kömmt ihnen nicht zu; aber der Dichter macht
eine sittliche Fabel, und er darf es ihnen beilegen.--Wie nötig ist es,
dieser gefährlichen Auslegung, diesen mit einer Überschwemmung der
abgeschmacktesten Märchen drohenden Folgerungen vorzubauen!
Man erlaube mir also, mich auf meinen eigenen Weg wieder
zurückzuwenden. Ich will den Weltweisen so wenig als möglich aus dem
Gesichte verlieren; und vielleicht kommen wir, am Ende der Bahn,
zusammen.--Ich habe gesagt und glaube es erwiesen zu haben, daß auf
der Erhebung des einzeln Falles zur Wirklichkeit der wesentliche
Unterschied der Parabel, oder des Exempels überhaupt, und der Fabel
beruhet. Diese Wirklichkeit ist der Fabel so unentbehrlich, daß sie
sich eher von ihrer Möglichkeit als von jener etwas abbrechen läßt.
Es streitet minder mit ihrem Wesen, daß ihr einzelner Fall nicht
schlechterdings möglich ist, daß er nur nach gewissen Voraussetzungen,
unter gewissen Bedingungen möglich ist, als daß er nicht als wirklich
vorgestellt werde. In Ansehung dieser Wirklichkeit folglich ist die
Fabel keiner Verschiedenheit fähig, wohl aber in Ansehung ihrer
Möglichkeit, welche sie veränderlich zu sein erlaubt. Nun ist, wie
gesagt, diese Möglichkeit entweder eine unbedingte oder bedingte
Möglichkeit; der einzelne Fall der Fabel ist entweder schlechterdings
möglich, oder er ist es nur nach gewissen Voraussetzungen, unter
gewissen Bedingungen. Die Fabeln also, deren einzelner Fall
schlechterdings möglich ist, will ich (um gleichfalls bei den alten
Benennungen zu bleiben) vernünftige Fabeln nennen; Fabeln hingegen, wo
er es nur nach gewissen Voraussetzungen ist, mögen sittliche heißen.
Die vernünftigen Fabeln leiden keine fernere Unterabteilung, die
sittlichen aber leiden sie. Denn die Voraussetzungen betreffen
entweder die Subjekte der Fabel oder die Prädikate dieser Subjekte:
der Fall der Fabel ist entweder möglich, vorausgesetzt, daß diese und
jene Wesen existieren, oder er ist es, vorausgesetzt, daß diese und
jene wirklich existierende Wesen (nicht andere Eigenschaften als ihnen
zukommen; denn sonst würden sie zu anderen Wesen werden, sondern) die
ihnen wirklich zukommenden Eigenschaften in einem höhern Grade, in
einem weitern Umfange besitzen. Jene Fabeln, worin die Subjekte
vorausgesetzt werden, wollte ich mythische Fabeln nennen, und diese,
worin nur erhöhtere Eigenschaften wirklicher Subjekte angenommen
werden, würde ich, wenn ich das Wort anders wagen darf, hyperphysische
Fabeln nennen.--
Ich will diese meine Einteilung noch durch einige Beispiele erläutern.
Die Fabeln, der Blinde und der Lahme, die zwei kämpfenden Hähne, der
Vogelsteller und die Schlange, der Hund und der Gärtner, sind lauter
vernünftige Fabeln, obschon bald lauter Tiere, bald Menschen und Tiere
darin vorkommen; denn der darin enthaltene Fall ist schlechterdings
möglich, oder mit Wolfen zu reden, es wird den Subjekten nichts darin
beigelegt, was ihnen nicht zukomme.--Die Fabeln, Apollo und Jupiter [1],
Herkules und Plutus [2], die verschiedene Bäume in ihren besondern
Schutz nehmenden Götter [3], kurz, alle Fabeln, die aus Gottheiten, aus
allegorischen Personen, aus Geistern und Gespenstern, aus andern
erdichteten Wesen, dem Phönix z. E., bestehen, sind sittliche Fabeln,
und zwar mythisch sittliche; denn es wird darin vorausgesetzt, daß
alle diese Wesen existieren oder existieret haben, und der Fall, den
sie enthalten, ist nur unter dieser Voraussetzung möglich.--Der Wolf
und das Lamm [4], der Fuchs und der Storch [5], die Natter und die Feile
[6], die Bäume und der Dornstrauch [7], der Ölbaum und das Rohr [8] etc.
sind gleichfalls sittliche, aber hyperphysisch sittliche Fabeln; denn
die Natur dieser wirklichen Wesen wird erhöhet, die Schranken ihrer
Fähigkeiten werden erweitert. Eines muß ich hierbei erinnern! Man
bilde sich nicht ein, daß diese Gattung von Fabeln sich bloß auf die
Tiere und andere geringere Geschöpfe einschränke: der Dichter kann
auch die Natur des Menschen erhöhen und die Schranken seiner
Fähigkeiten erweitern. Eine Fabel z. E. von einem Propheten würde
eine hyperphysisch sittliche Fabel sein; denn die Gabe zu prophezeien,
kann dem Menschen bloß nach einer erhöhtern Natur zukommen. Oder wenn
man die Erzählung von den himmelstürmenden Riesen als eine aesopische
Fabel behandeln und sie dahin verändern wollte, daß ihr unsinniger Bau
von Bergen auf Bergen endlich von selbst zusammenstürzte und sie unter
den Ruinen begrübe: so würde keine andere als eine hyperphysisch
sittliche Fabel daraus werden können.
{Fussnote 1: Fab. Aesop. 187 [vgl. Lessings Fabel II 12].}
{Fussnote 2: Phaedrus libr. IV. Fab. 11 [vgl. Lessings Fabel II 2].}
{Fussnote 3: Phaedrus libr. III. Fab. 15.}
{Fussnote 4: Phaedrus libr. 1. Fab. 1.}
{Fussnote 5: Phaedrus libr. I. Fab. 25.}
{Fussnote 6: Phaedr.s libr. IV. Fab. 7.}
{Fussnote 7: Fab. Aesop. 313.}
{Fussnote 8: Fabul. Aesop. 143.}
Aus den zwei Hauptgattungen, der vernünftigen und sittlichen Fabel,
entstehet auch bei mir eine vermischte Gattung, wo nämlich der Fall
zum Teil schlechterdings, zum Teil nur unter gewissen Voraussetzungen
möglich ist. Und zwar können dieser vermischten Fabeln dreierlei sein;
die vernünftig mythische Fabel, als Herkules und der Kärrner [9], der
arme Mann und der Tod [10], die vernünftig hyperphysische Fabel, als
der Holzschläger und der Fuchs [11], der Jäger und der Löwe [12]; und
endlich die hyperphysisch mythische Fabel, als Jupiter und das Kamel
[13], Jupiter und die Schlange [4] etc.
{Fussnote 9: Fabul. Aesop. 336.}
{Fussnote 10: Fabul. Aesop. 20.}
{Fussnote 11: Fabul. Aesop. 127.}
{Fussnote 12: Fabul. Aesop. 280.}
{Fussnote 13: Fabul. Aesop. 197.}
{Fussnote 14: Fabul. Aesop. 189.}
Und diese Einteilung erschöpft die Mannigfaltigkeit der Fabeln ganz
gewiß, ja man wird, hoffe ich, keine anführen können, deren Stelle ihr
zufolge zweifelhaft bleibe, welches bei allen andern Einteilungen
geschehen muß, die sich bloß auf die Verschiedenheit der handelnden
Personen beziehen. Die Breitingersche Einteilung ist davon nicht
ausgeschlossen, ob er schon dabei die Grade des Wunderbaren zum Grunde
gelegt hat. Denn da bei ihm die Grade des Wunderbaren, wie wir
gesehen haben, größtenteils auf die Beschaffenheit der handelnden
Personen ankommen, so klingen seine Worte nur gründlicher, und er ist
in der Tat in die Sache nichts tiefer eingedrungen. "Das Wunderbare
der Fabel, sagt er, hat seine verschiedene Grade--Der niedrigste Grad
des Wunderbaren findet sich in derjenigen Gattung der Fabeln, in
welchen ordentliche Menschen aufgeführet werden--Weil in denselben das
Wahrscheinliche über das Wunderbare weit die Oberhand hat, so können
sie mit Fug wahrscheinliche oder in Absicht auf die Personen
menschliche Fabeln benennet werden. Ein mehrerer Grad des Wunderbaren
äußert sich in derjenigen Klasse der Fabeln, in welchen ganz andere
als menschliche Personen aufgeführet werden.--Diese sind entweder von
einer vortrefflichern und höhern Natur als die menschliche ist, z. E.
die heidnischen Gottheiten--oder sie sind in Ansehung ihres Ursprungs
und ihrer natürlichen Geschicklichkeit von einem geringern Rang als
die Menschen, als z. E. die Tiere, Pflanzen etc.--Weil in diesen
Fabeln das Wunderbare über das Wahrscheinliche nach verschiedenen
Graden herrschet, werden sie deswegen nicht unfüglich wunderbare und
in Absicht auf die Personen entweder göttliche oder tierische Fabeln
genannt--" Und die Fabel von den zwei Töpfen, die Fabel von den Bäumen
und dem Dornstrauche? Sollen die auch tierische Fabeln heißen? Oder
sollen sie und ihresgleichen eigne Benennungen erhalten? Wie sehr
wird diese Namenrolle anwachsen, besonders wenn man auch alle Arten
der vermischten Gattung benennen sollte! Aber ein Exempel zu geben,
daß man, nach dieser Breitingerschen Einteilung, oft zweifelhaft sein
kann, zu welcher Klasse man diese oder jene Fabel rechnen soll, so
betrachte man die schon angeführte Fabel von dem Gärtner und seinem
Hunde oder die noch bekanntere von dem Ackersmanne und der Schlange;
aber nicht so, wie sie Phaedrus erzählet, sondern wie sie unter den
griechischen Fabeln vorkommt. Beide haben einen so geringen Grad des
Wunderbaren, daß man sie notwendig zu den wahrscheinlichen, das ist
menschlichen Fabeln, rechnen müßte. In beiden aber kommen auch Tiere
vor; und in Betrachtung dieser würden sie zu den vermischten Fabeln
gehören, in welchen das Wunderbare weit mehr über das Wahrscheinliche
herrscht als in jenen. Folglich würde man erst ausmachen müssen, ob
die Schlange und der Hund hier als handelnde Personen der Fabel
anzusehen wären oder nicht, ehe man der Fabel selbst ihre Klasse
anweisen könnte.
Ich will mich bei diesen Kleinigkeiten nicht länger aufhalten, sondern
mit einer Anmerkung schließen, die sich überhaupt auf die
hyperphysischen Fabeln beziehet und die ich, zur richtigern
Beurteilung einiger von meinen eigenen Versuchen, nicht gern
anzubringen vergessen möchte.--Es ist bei dieser Gattung von Fabeln
die Frage, wie weit der Fabulist die Natur der Tiere und andrer
niedrigern Geschöpfe erhöhen und wie nahe er sie der menschlichen
Natur bringen dürfe? Ich antworte kurz: so weit und so nahe er immer
will. Nur mit der einzigen Bedingung, daß aus allem, was er sie
denken, reden und handeln läßt, der Charakter hervorscheine, um dessen
willen er sie seiner Absicht bequemer fand als alle andere Individua.
Ist dieses, denken, reden und tun sie durchaus nichts, was ein ander
Individuum von einem andern oder gar ohne Charakter ebensogut denken,
reden und tun könnte: so wird uns ihr Betragen im geringsten nicht
befremden, wenn es auch noch soviel Witz, Scharfsinnigkeit und
Vernunft voraussetzt. Und wie könnte es auch? Haben wir ihnen einmal
Freiheit und Sprache zugestanden, so müssen wir ihnen zugleich alle
Modifikationen des Willens und alle Erkenntnisse zugestehen, die aus
jenen Eigenschaften folgen können, auf welchen unser Vorzug vor ihnen
einzig und allein beruhet. Nur ihren Charakter, wie gesagt, müssen
wir durch die ganze Fabel finden; und finden wir diesen, so erfolgt
die Illusion, daß es wirkliche Tiere sind, ob wir sie gleich reden
hören und ob sie gleich noch so feine Anmerkungen, noch so
scharfsinnige Schlüsse machen. Es ist unbeschreiblich, wieviel
Sophismata non causae ut causae die Kunstrichter in dieser Materie
gemacht haben. Unter andern der Verfasser der Critischen Briefe, wenn
er von seinem Hermann Axel sagt: "Daher schreibt er auch den
unvernünftigen Tieren, die er aufführt, niemals eine Reihe von
Anschlägen zu, die in einem System, in einer Verknüpfung stehen und zu
einem Endzwecke von weitem her angeordnet sind. Denn dazu gehöret
eine Stärke der Vernunft, welche über den Instinkt ist. Ihr Instinkt
gibt nur flüchtige und dunkle Strahlen einer Vernunft von sich, die
sich nicht lange emporhalten kann. Aus dieser Ursache werden diese
Fabeln mit Tierpersonen ganz kurz und bestehen nur aus einem sehr
einfachen Anschlage oder Anliegen. Sie reichen nicht zu, einen
menschlichen Charakter in mehr als einem Lichte vorzustellen; ja der
Fabulist muß zufrieden sein, wenn er nur einen Zug eines Charakters
vorstellen kann. Es ist eine ausschweifende Idee des Pater Bossu, daß
die aesopische Fabel sich in dieselbe Länge wie die epische Fabel
ausdehnen lasse. Denn das kann nicht geschehen, es sei denn, daß man
die Tiere nichts von den Tieren behalten lasse, sondern sie in
Menschen verwandle, welches nur in possierlichen Gedichten angehet, wo
man die Tiere mit gewissem Vorsatz in Masken aufführet und die
Verrichtungen der Menschen nachäffen läßt etc."--Wie sonderbar ist
hier das aus dem Wesen der Tiere hergeleitet, was der Kunstrichter aus
dem Wesen der anschauenden Erkenntnis, und aus der Einheit des
moralischen Lehrsatzes in der Fabel hätte herleiten sollen! Ich gebe
es zu, daß der Einfall des Pater Bossu nichts taugt. Die aesopische
Fabel, in die Länge einer epischen Fabel ausgedehnet, höret auf, eine
aesopische Fabel zu sein; aber nicht deswegen, weil man den Tieren,
nachdem man ihnen Freiheit und Sprache erteilet hat, nicht auch eine
Folge von Gedanken, dergleichen die Folge von Handlungen in der Epopee
erfordern würde, erteilen dürfte, nicht deswegen, weil die Tiere
alsdenn zu viel Menschliches haben würden: sondern deswegen, weil
die Einheit des moralischen Lehrsatzes verlorengehen würde,
weil man diesen Lehrsatz in der Fabel, deren Teile so gewaltsam
auseinandergedehnet und mit fremden Teilen vermischt worden, nicht
länger anschauend erkennen würde. Denn die anschauende Erkenntnis
erfordert unumgänglich, daß wir den einzeln Fall auf einmal übersehen
können; können wir es nicht, weil er entweder allzuviel Teile hat oder
seine Teile allzuweit auseinanderliegen, so kann auch die Intuition
des Allgemeinen nicht erfolgen. Und nur dieses, wenn ich nicht sehr
irre, ist der wahre Grund, warum man es dem dramatischen Dichter, noch
williger aber dem Epopeendichter, erlassen hat, in ihre Werke eine
einzige Hauptlehre zu legen. Denn was hilft es, wenn sie auch eine
hineinlegen? Wir können sie doch nicht darin erkennen, weil ihre
Werke viel zu weitläuftig sind, als daß wir sie auf einmal zu
übersehen vermöchten. In dem Skelette derselben müßte sie sich wohl
endlich zeigen; aber das Skelett gehöret für den kalten Kunstrichter,
und wenn dieser einmal glaubt, daß eine solche Hauptlehre darin liegen
müsse, so wird er sie gewiß herausgrübeln, wenn sie der Dichter auch
gleich nicht hineingelegt hat. Daß übrigens das eingeschränkte Wesen
der Tiere von dieser nicht zu erlaubenden Ausdehnung der aesopischen
Fabel die wahre Ursach nicht sei, hätte der kritische Briefsteller
gleich daher abnehmen können, weil nicht bloß die tierische Fabel,
sondern auch jede andere aesopische Fabel, wenn sie schon aus
vernünftigen Wesen bestehet, derselben unfähig ist. Die Fabel von dem
Lahmen und Blinden, oder von dem armen Mann und dem Tode, läßt sich
ebensowenig zur Länge des epischen Gedichts erstrecken als die Fabel
von dem Lamme und dem Wolfe, oder von dem Fuchse und dem Raben. Kann
es also an der Natur der Tiere liegen? Und wenn man mit Beispielen
streiten wollte, wieviel sehr gute Fabeln ließen sich ihm nicht
entgegensetzen, in welchen den Tieren weit mehr als flüchtige und
dunkle Strahlen einer Vernunft beigelegt wird und man sie ihre
Anschläge ziemlich von weitem her zu einem Endzwecke anwenden siehet.
Z. E. der Adler und der Käfer [15]; der Adler, die Katze und das
Schwein [16] etc.
{Fussnote 15: Fab. Aesop. 2.}
{Fussnote 16: Phaedrus libr. II. Fab. 4.}
Unterdessen, dachte ich einsmals bei mir selbst, wenn man
demohngeachtet eine aesopische Fabel von einer ungewöhnlichen Länge
machen wollte, wie müßte man es anfangen, daß die itztberührten
Unbequemlichkeiten dieser Länge wegfielen? Wie müßte unser Reinicke
Fuchs aussehen, wenn ihm der Name eines aesopischen Heldengedichts
zukommen sollte? Mein Einfall war dieser: Vors erste müßte nur ein
einziger moralischer Satz in dem Ganzen zum Grunde liegen; vors zweite
müßten die vielen und mannigfaltigen Teile dieses Ganzen, unter
gewisse Hauptteile gebracht werden, damit man sie wenigstens in diesen
Hauptteilen auf einmal übersehen könnte; vors dritte müßte jeder
dieser Hauptteile ein besonders Ganze, eine für sich bestehende Fabel,
sein können, damit das große Ganze aus gleichartigen Teilen bestünde.
Es müßte, um alles zusammenzunehmen, der allgemeine moralische Satz in
seine einzelne Begriffe aufgelöset werden; jeder von diesen einzelnen
Begriffen müßte in einer besondern Fabel zur Intuition gebracht werden,
und alle diese besondern Fabeln müßten zusammen nur eine einzige
Fabel ausmachen. Wie wenig hat der Reinicke Fuchs von diesen
Requisitis! Am besten also, ich mache selbst die Probe, ob sich mein
Einfall auch wirklich ausführen läßt.--Und nun urteile man, wie diese
Probe ausgefallen ist! Es ist die sechzehnte Fabel meines dritten
Buchs und heißt die Geschichte des alten Wolfs in sieben Fabeln. Die
Lehre, welche in allen sieben Fabeln zusammengenommen liegt, ist diese:
"Man muß einen alten Bösewicht nicht auf das Äußerste bringen und ihm
alle Mittel zur Besserung, so spät und erzwungen sie auch sein mag,
benehmen." Dieses Äußerste, diese Benehmung aller Mittel zerstückte
ich, machte verschiedene mißlungene Versuche des Wolfs daraus, des
gefährlichen Raubens künftig müßig gehen zu können, und bearbeitete
jeden dieser Versuche als eine besondere Fabel, die ihre eigene und
mit der Hauptmoral in keiner Verbindung stehende Lehre hat.--Was ich
hier bis auf sieben und mit dem Rangstreite der Tiere auf vier Fabeln
gebracht habe, wird ein andrer mit einer andern noch fruchtbarern
Moral leicht auf mehrere bringen können. Ich begnüge mich, die
Möglichkeit gezeigt zu haben.


IV. Von dem Vortrage der Fabeln

Wie soll die Fabel vorgetragen werden? Ist hierin Aesopus oder ist
Phaedrus oder ist La Fontaine das wahre Muster?
Es ist nicht ausgemacht, ob Aesopus seine Fabeln selbst aufgeschrieben
und in ein Buch zusammengetragen hat. Aber das ist so gut als
ausgemacht, daß, wenn er es auch getan hat, doch keine einzige davon
durchaus mit seinen eigenen Worten auf uns gekommen ist. Ich verstehe
also hier die allerschönsten Fabeln in den verschiedenen griechischen
Sammlungen, welchen man seinen Namen vorgesetzt hat. Nach diesen zu
urteilen, war sein Vortrag von der äußersten Präzision; er hielt sich
nirgends bei Beschreibungen auf; er kam sogleich zur Sache und eilte
mit jedem Worte näher zum Ende; er kannte kein Mittel zwischen dem
Notwendigen und Unnützen. So charakterisiert ihn de La Motte, und
richtig. Diese Präzision und Kürze, worin er ein so großes Muster war,
fanden die Alten der Natur der Fabel auch so angemessen, daß sie eine
allgemeine Regel daraus machten. Theon unter andern dringet mit den
ausdrücklichsten Worten darauf.
Auch Phaedrus, der sich vornahm die Erfindungen des Aesopus in Versen
auszubilden, hat offenbar den festen Vorsatz gehabt, sich an diese
Regel zu halten; und wo er davon abgekommen ist, scheinet ihn das
Silbenmaß und der poetischere Stil, in welchen uns auch das
allersimpelste Silbenmaß wie unvermeidlich verstrickt, gleichsam wider
seinen Willen davon abgebracht zu haben.
Aber La Fontaine? Dieses sonderbare Genie! La Fontaine! Nein wider
ihn selbst habe ich nichts; aber wider seine Nachahmer, wider seine
blinden Verehrer! La Fontaine kannte die Alten zu gut, als daß er
nicht hätte wissen sollen, was ihre Muster und die Natur zu einer
vollkommenen Fabel erforderten. Er wußte es, daß die Kürze die Seele
der Fabel sei; er gestand es zu, daß es ihr vornehmster Schmuck sei,
ganz und gar keinen Schmuck zu haben. Er bekannte[1] mit der
liebenswürdigsten Aufrichtigkeit, "daß man die zierliche Präzision und
die außerordentliche Kürze, durch die sich Phaedrus so sehr empfehle,
in seinen Fabeln nicht finden werde. Es wären dieses Eigenschaften,
die zu erreichen, ihn seine Sprache zum Teil verhindert hätte; und
bloß deswegen, weil er den Phaedrus darin nicht nachahmen können, habe
er geglaubt, qu'il falloit en recompense egayer l'ouvrage plus qu'il
n'a fait." Alle die Lustigkeit, sagt er, durch die ich meine Fabeln
aufgestützt habe, soll weiter nichts als eine etwanige Schadloshaltung
für wesentlichere Schönheiten sein, die ich ihnen zu erteilen zu
unvermögend gewesen bin.--Welch Bekenntnis! In meinen Augen macht ihm
dieses Bekenntnis mehr Ehre als ihm alle seine Fabeln machen! Aber
wie wunderbar ward es von dem französischen Publico aufgenommen! Es
glaubte, La Fontaine wolle ein bloßes Kompliment machen, und hielt die
Schadloshaltung unendlich höher als das, wofür sie geleistet war.
Kaum konnte es auch anders sein; denn die Schadloshaltung hatte
allzuviel reizendes für Franzosen, bei welchen nichts über die
Lustigkeit gehet. Ein witziger Kopf unter ihnen, der hernach das
Unglück hatte, hundert Jahr witzig zu bleiben[2], meinte sogar, La
Fontaine habe sich aus bloßer Albernheit (par betise) dem Phaedrus
nachgesetzt; und de La Motte schrie über diesen Einfall: mot plaisant,
mais solide!
{Fussnote 1: In der Vorrede zu seinen Fabeln.}
{Fussnote 2: Fontenelle.}
Unterdessen, da La Fontaine seine lustige Schwatzhaftigkeit, durch ein
so großes Muster, als ihm Phaedrus schien, verdammt glaubte, wollte er
doch nicht ganz ohne Bedeckung von seiten des Altertums bleiben. Er
setzte also hinzu: "Und meinen Fabeln diese Lustigkeit zu erteilen,
habe ich um so viel eher wagen dürfen, da Quintilian lehret, man könne
die Erzählungen nicht lustig genug machen (egayer). Ich brauche keine
Ursache hiervon anzugeben; genug, daß es Quintilian sagt."--Ich habe
wider diese Autorität zweierlei zu erinnern. Es ist wahr, Quintilian
sagt: Ego vero narrationem, ut si ullam partem orationis, omni, qua
potest, gratia et venere exornandam puto[3], und dieses muß die Stelle
sein, worauf sich La Fontaine stützet. Aber ist diese Grazie, diese
Venus, die er der Erzählung soviel als möglich, obgleich nach
Maßgebung der Sache [4], zu erteilen befiehlet, ist dieses Lustigkeit?
Ich sollte meinen, daß gerade die Lustigkeit dadurch ausgeschlossen
werde. Doch der Hauptpunkt ist hier dieser: Quintilian redet von der
Erzählung des Facti in einer gerichtlichen Rede, und was er von dieser
sagt, ziehet La Fontaine, wider die ausdrückliche Regel der Alten, auf
die Fabel. Er hätte diese Regel unter andern bei dem Theon finden
können. Der Grieche redet von dem Vortrage der Erzählung in der
Chrie--wie plan, wie kurz muß die Erzählung in einer Chrie sein!--und
setzt hinzu: en de toiV muJoiV aplousteran thn ermhneian einai dei kai
prosjuh· kai wV dunaton, akataskeuon te kai sajh: Die Erzählung der
Fabel soll noch planer sein, sie soll zusammengepreßt, soviel als
möglich ohne alle Zieraten und Figuren, mit der einzigen Deutlichkeit
zufrieden sein.
{Fussnote 3: Quinctilianus Inst. Orat. lib. IV. cap. 2.}
{Fussnote 4: Sed plurimum refert, quae sit natura ejus rei, quam
exponimus. Idem, ibidem.}
Dem La Fontaine vergebe ich den Mißbrauch dieser Autorität des
Quintilians gar gern. Man weiß ja, wie die Franzosen überhaupt die
Alten lesen! Lesen sie doch ihre eigene Autores mit der
unverzeihlichsten Flatterhaftigkeit. Hier ist gleich ein Exempel! De
La Motte sagt von dem La Fontaine: Tout Original qu'il est dans les
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