Abhandlungen über die Fabel - 3

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läßt, desto größer ist die Lebhaftigkeit der anschauenden Erkenntnis.
Die Möglichkeit ist eine Art des Allgemeinen; denn alles was möglich
ist, ist auf verschiedene Art möglich.
Ein Besonderes also, bloß als möglich betrachtet, ist gewissermaßen
noch etwas Allgemeines und hindert, als dieses, die Lebhaftigkeit der
anschauenden Erkenntnis.
Folglich muß es als wirklich betrachtet werden und die Individualität
erhalten, unter der es allein wirklich sein kann, wenn die anschauende
Erkenntnis den höchsten Grad ihrer Lebhaftigkeit erreichen und so
mächtig als möglich auf den Willen wirken soll.
Das Mehrere aber, das die Sittenlehre, außer der Erläuterung, ihren
allgemeinen Schlüssen schuldig ist, bestehet eben in dieser ihnen zu
erteilenden Fähigkeit auf den Willen zu wirken, die sie durch die
anschauende Erkenntnis in dem Wirklichen erhalten, da andere
Wissenschaften, denen es um die bloße Erläuterung zu tun ist, sich mit
einer geringern Lebhaftigkeit der anschauenden Erkenntnis, deren das
Besondere, als bloß möglich betrachtet, fähig ist, begnügen.
Hier bin ich also! Die Fabel erfordert deswegen einen wirklichen Fall,
weil man in einem wirklichen Falle mehr Bewegungsgründe und
deutlicher unterscheiden kann als in einem möglichen, weil das
Wirkliche eine lebhaftere Überzeugung mit sich führet als das bloß
Mögliche.
Aristoteles scheinet diese Kraft des Wirklichen zwar gekannt zu haben;
weil er sie aber aus einer unrechten Quelle herleitet, so konnte es
nicht fehlen, er mußte eine falsche Anwendung davon machen. Es wird
nicht undienlich sein, seine ganze Lehre von dem Exempel (peri
paradeigmatoV) hier zu übersehen [6]. Erst von seiner Einteilung des
Exempels: Paradeigmatwn d’ eidh duo estin, sagt er, en men gar esti
paradeigmatoV eidoV, to legein pragmata progegenhmena, en de, to auta
poiein. Toutou d’ en men parabolh: en de logoi: oion oi aiswpeioi kai
libukoi. Die Einteilung überhaupt ist richtig; von einem Kommentator
aber würde ich verlangen, daß er uns den Grund von der Unterabteilung
der erdichteten Exempel beibrächte und uns lehrte, warum es deren nur
zweierlei Arten gäbe und mehrere nicht geben könne. Er würde diesen
Grund, wie ich es oben getan habe, leicht aus den Beispielen selbst
abstrahieren können, die Aristoteles davon gibt. Die Parabel nämlich
führt er durch ein wsper ei tiV ein; und die Fabeln erzählt er als
etwas wirklich Geschehenes. Der Kommentator müßte also diese Stelle
so umschreiben: Die Exempel werden entweder aus der Geschichte
genommen oder in Ermangelung derselben erdichtet. Bei jedem
geschehenen Dinge läßt sich die innere Möglichkeit von seiner
Wirklichkeit unterscheiden, obgleich nicht trennen, wenn es ein
geschehenes Ding bleiben soll. Die Kraft, die es als ein Exempel
haben soll, liegt also entweder in seiner bloßen Möglichkeit oder
zugleich in seiner Wirklichkeit. Soll sie bloß in jener liegen, so
brauchen wir, in seiner Ermangelung, auch nur ein bloß mögliches Ding
zu erdichten; soll sie aber in dieser liegen, so müssen wir auch
unsere Erdichtung von der Möglichkeit zur Wirklichkeit erheben. In
dem ersten Falle erdichten wir eine Parabel und in dem andern eine
Fabel.--(Was für eine weitere Einteilung der Fabel hieraus folge, wird
sich in der dritten Abhandlung zeigen.)
{Fussnote 6: Aristoteles Rhetor. lib. II. cap. 20.}
Und so weit ist wider die Lehre des Griechen eigentlich nichts zu
erinnern. Aber nunmehr kömmt er auf den Wert dieser verschiedenen
Arten von Exempeln und sagt: Eisi d’ oi logoi dhmhgorikoi: kai ecousin
agaJon touto, oti pragmata men eurein omoia gegenhmena, calepon,
logouV de raon. Poihsai gar dei wsper kai parabolaV, an tiV dunhtai
to omoion oran, oper raon estin ek jilosojiaV. Raw men oun porisasJai
ta dia twn logwn: crhsimwtera de proV to bouleusasJai, ta dia twn
pragmatwn: omoia gar, wV epi to polu, ta mellonta toiV gegonosi. Ich
will mich itzt nur an den letzten Ausspruch dieser Stelle halten.
Aristoteles sagt, die historischen Exempel hätten deswegen eine
größere Kraft zu überzeugen als die Fabeln, weil das Vergangene
gemeiniglich dem Zukünftigen ähnlich sei. Und hierin, glaube ich, hat
sich Aristoteles geirret. Von der Wirklichkeit eines Falles, den ich
nicht selbst erfahren habe, kann ich nicht anders als aus Gründen der
Wahrscheinlichkeit überzeugt werden. Ich glaube bloß deswegen, daß
ein Ding geschehen und daß es soundso geschehen ist, weil es höchst
wahrscheinlich ist und höchst unwahrscheinlich sein würde, wenn es
nicht oder wenn es anders geschehen wäre. Da also einzig und allein
die innere Wahrscheinlichkeit mich die ehemalige Wirklichkeit eines
Falles glauben macht und diese innere Wahrscheinlichkeit sich
ebensowohl in einem erdichteten Falle finden kann: was kann die
Wirklichkeit des erstern für eine größere Kraft auf meine Überzeugung
haben als die Wirklichkeit des andern? Ja noch mehr. Da das
historische Wahre nicht immer auch wahrscheinlich ist, da Aristoteles
selbst die Sentenz des Agatho billiget:
Tac’ an tiV eikoV auto tout’ einai legoi:
Brotoisi polla tugcanein ouk eikota,

da er hier selbst sagt, daß das Vergangene nur gemeiniglich (epi to
polu) dem Zukünftigen ähnlich sei, der Dichter aber die freie Gewalt
hat, hierin von der Natur abzugehen und alles, was er für wahr ausgibt,
auch wahrscheinlich zu machen: so sollte ich meinen, wäre es wohl
klar, daß den Fabeln, überhaupt zu reden, in Ansehung der
Überzeugungskraft, der Vorzug vor den historischen Exempeln gebühre
etc.
Und nunmehr glaube ich meine Meinung von dem Wesen der Fabel genugsam
vorbereitete zu haben. Ich fasse daher alles zusammen und sage: Wenn
wir einen allgemeinen moralischen Satz auf einen besondern Fall
zurückführen, diesem besondern Falle die Wirklichkeit erteilen und
eine Geschichte daraus dichten, in welcher man den allgemeinen Satz
anschauend erkennt: so heißt diese Erdichtung eine Fabel.
Das ist meine Erklärung, und ich hoffe, daß man sie, bei der Anwendung,
ebenso richtig als fruchtbar finden wird.


II. Von dem Gebrauche der Tiere in der Fabel

Der größte Teil der Fabeln hat Tiere, und wohl noch geringere
Geschöpfe, zu handelnden Personen.--Was ist hiervon zu halten? Ist es
eine wesentliche Eigenschaft der Fabel, daß die Tiere darin zu
moralischen Wesen erhoben werden? Ist es ein Handgriff, der dem
Dichter die Erreichung seiner Absicht verkürzt und erleichtert? Ist
es ein Gebrauch, der eigentlich keinen ernstlichen Nutzen hat, den man
aber, zu Ehren des ersten Erfinders, beibehält, weil er wenigstens
schnackisch ist--quod risum movet? Oder was ist es?
Batteux hat diese Fragen entweder gar nicht vorausgesehen, oder er war
listig genug, daß er ihnen damit zu entkommen glaubte, wenn er den
Gebrauch der Tiere seiner Erklärung sogleich mit anflickte. Die Fabel,
sagt er, ist die Erzählung einer allegorischen Handlung, die
gemeiniglich den Tieren beigelegt wird.--Vollkommen à la Françoise!
Oder wie der Hahn über die Kohlen!--Warum, möchten wir gerne wissen,
warum wird sie gemeiniglich den Tieren beigelegt? Oh, was ein
langsamer Deutscher nicht alles fragt!
Überhaupt ist unter allen Kunstrichtern Breitinger der einzige, der
diesen Punkt berührt hat. Er verdient es also um so viel mehr, daß
wir ihn hören. "Weil Aesopus, sagt er, die Fabel zum Unterrichte des
gemeinen bürgerlichen Lebens angewendet, so waren seine Lehren
meistens ganz bekannte Sätze und Lebensregeln, und also mußte er auch
zu den allegorischen Vorstellungen derselben ganz gewohnte Handlungen
und Beispiele aus dem gemeinen Leben der Menschen entlehnen: Da nun
aber die täglichen Geschäfte und Handlungen der Menschen nichts
Ungemeines oder merkwürdig Reizendes an sich haben, so mußte man
notwendig auf ein neues Mittel bedacht sein, auch der allegorischen
Erzählung eine anzügliche Kraft und ein reizendes Ansehen mitzuteilen,
um ihr also dadurch einen sichern Eingang in das menschliche Herz
aufzuschließen. Nachdem man nun wahrgenommen, daß allein das Seltene,
Neue und Wunderbare eine solche erweckende und angenehm entzückende
Kraft auf das menschliche Gemüt mit sich führet, so war man bedacht,
die Erzählung durch die Neuheit und Seltsamkeit der Vorstellungen
wunderbar zu machen und also dem Körper der Fabel eine ungemeine und
reizende Schönheit beizulegen. Die Erzählung bestehet aus zween
wesentlichen Hauptumständen, dem Umstande der Person, und der Sache
oder Handlung; ohne diese kann keine Erzählung Platz haben. Also muß
das Wunderbare, welches in der Erzählung herrschen soll, sich entweder
auf die Handlung selbst oder auf die Personen, denen selbige
zugeschrieben wird, beziehen. Das Wunderbare, das in den täglichen
Geschäften und Handlungen der Menschen vorkömmt, bestehet vornehmlich
in dem Unvermuteten, sowohl in Absicht auf die Vermessenheit im
Unterfangen als die Bosheit oder Torheit im Ausführen, zuweilen auch
in einem ganz unerwarteten Ausgange einer Sache: Weil aber dergleichen
wunderbare Handlungen in dem gemeinen Leben der Menschen etwas
Ungewohntes und Seltenes sind, da hingegen die meisten gewöhnlichen
Handlungen gar nichts Ungemeines oder Merkwürdiges an sich haben, so
sah man sich gemüßiget, damit die Erzählung als der Körper der Fabel
nicht verächtlich würde, derselben durch die Veränderung und
Verwandlung der Personen einen angenehmen Schein des Wunderbaren
mitzuteilen. Da nun die Menschen, bei aller ihrer Verschiedenheit,
dennoch überhaupt betrachtet in einer wesentlichen Gleichheit und
Verwandtschaft stehen, so besann man sich, Wesen von einer höhern
Natur, die man wirklich zu sein glaubte, als Götter und Genios oder
solche, die man durch die Freiheit der Dichter zu Wesen erschuf, als
die Tugenden, die Kräfte der Seele, das Glück, die Gelegenheit etc. in
die Erzählung einzuführen; vornehmlich aber nahm man sich die Freiheit
heraus, die Tiere, die Pflanzen und noch geringere Wesen, nämlich die
leblosen Geschöpfe, zu der höhern Natur der vernünftigen Wesen zu
erheben, indem man ihnen menschliche Vernunft und Rede mitteilte,
damit sie also fähig würden, uns ihren Zustand und ihre Begegnisse in
einer uns vernehmlichen Sprache zu erklären und durch ihr Exempel von
ähnlichen moralischen Handlungen unsre Lehrer abzugeben etc."--
Breitinger also behauptet, daß die Erreichung des Wunderbaren die
Ursache sei, warum man in der Fabel die Tiere und andere niedrigere
Geschöpfe reden und vernunftmäßig handeln lasse. Und eben weil er
dieses für die Ursache hält, glaubt er, daß die Fabel überhaupt, in
ihrem Wesen und Ursprunge betrachtet, nichts anders als ein
lehrreiches Wunderbare sei. Diese seine zweite Erklärung ist es,
welche ich hier, versprochnermaßen, untersuchen muß.
Es wird aber bei dieser Untersuchung vornehmlich darauf ankommen, ob
die Einführung der Tiere in der Fabel wirklich wunderbar ist. Ist sie
es, so hat Breitinger viel gewonnen; ist sie es aber nicht, so liegt
auch sein ganzes Fabelsystem, mit einmal, über dem Haufen.
Wunderbar soll diese Einführung sein? Das Wunderbare, sagt ebendieser
Kunstrichter, legt den Schein der Wahrheit und Möglichkeit ab. Diese
anscheinende Unmöglichkeit also gehöret zu dem Wesen des Wunderbaren;
und wie soll ich nunmehr jenen Gebrauch der Alten, den sie selbst
schon zu einer Regel gemacht hatten, damit vergleichen? Die Alten
nämlich fingen ihre Fabeln am liebsten mit dem Fasi und dem darauf
folgenden Klagefalle an. Die griechischen Rhetores nennen dieses kurz,
die Fabel in dem Klagefalle (taiV aitiatikaiV) vortragen; und Theon,
wenn er in seinen Vorübungen [1] hierauf kömmt, führet eine Stelle des
Aristoteles an, wo der Philosoph diesen Gebrauch billiget und es zwar
deswegen für ratsamer erkläret, sich bei Einführung einer Fabel lieber
auf das Altertum zu berufen, als in der eigenen Person zu sprechen,
damit man den Anschein, als erzähle man etwas Unmögliches, vermindere
(ina paramuJhswntai to dokein adunata legein). War also das der Alten
ihre Denkungsart, wollten sie den Schein der Unmöglichkeit in der
Fabel soviel als möglich vermindert wissen: so mußten sie notwendig
weit davon entfernt sein, in der Fabel etwas Wunderbares zu suchen
oder zur Absicht zu haben; denn das Wunderbare muß sich auf diesen
Schein der Unmöglichkeit gründen.
{Fussnote 1: Nach der Ausgabe des Camerarius, S. 28.}
Weiter! Das Wunderbare, sagt Breitinger an mehr als einem Orte, sei
der höchste Grad des Neuen. Diese Neuheit aber muß das Wunderbare,
wenn es seine gehörige Wirkung auf uns tun soll, nicht allein bloß in
Ansehung seiner selbst, sondern auch in Ansehung unsrer Vorstellungen
haben. Nur das ist wunderbar, was sich sehr selten in der Reihe der
natürlichen Dinge eräugnet. Und nur das Wunderbare behält seinen
Eindruck auf uns, dessen Vorstellung in der Reihe unsrer Vorstellungen
ebenso selten vorkommt. Auf einen fleißigen Bibelleser wird das
größte Wunder, das in der Schrift aufgezeichnet ist, den Eindruck bei
weitem nicht mehr machen, den es das erstemal auf ihn gemacht hat. Er
lieset es endlich mit ebenso wenigem Erstaunen, daß die Sonne einmal
stillegestanden, als er sie täglich auf- und niedergehen sieht. Das
Wunder bleibt immer dasselbe; aber nicht unsere Gemütsverfassung, wenn
wir es zu oft denken.--Folglich würde auch die Einführung der Tiere
uns höchstens nur in den ersten Fabeln wunderbar vorkommen; fänden wir
aber, daß die Tiere fast in allen Fabeln sprächen und urteilten, so
würde diese Sonderbarkeit, so groß sie auch an und vor sich selbst
wäre, doch gar bald nichts Sonderbares mehr für uns haben.
Aber wozu alle diese Umschweife? Was sich auf einmal umreißen läßt,
braucht man das erst zu erschüttern?--Darum kurz: daß die Tiere, und
andere niedrigere Geschöpfe, Sprache und Vernunft haben, wird in der
Fabel vorausgesetzt; es wird angenommen und soll nichts weniger als
wunderbar sein.--Wenn ich in der Schrift lese [2]: "Da tat der Herr der
Eselin den Mund auf, und sie sprach zu Bileam etc.", so lese ich etwas
Wunderbares. Aber wenn ich bei dem Aesopus lese [3]: Fasin, ote
jwnhneta hn ta zwa, thn oin proV ton despothn eipein: "Damals, als die
Tiere noch redeten, soll das Schaf zu seinem Hirten gesagt haben", so
ist es ja wohl offenbar, daß mir der Fabulist nichts Wunderbares
erzählen will, sondern vielmehr etwas, das zu der Zeit, die er mit
Erlaubnis seines Lesers annimmt, dem gemeinen Laufe der Natur
vollkommen gemäß war.
{Fussnote 2: 4. B. Mos. XXII. 28.}
{Fussnote 3: Fab. Aesop. 316.}
Und das ist so begreiflich, sollte ich meinen, daß ich mich schämen
muß, noch ein Wort hinzuzutun. Ich komme vielmehr sogleich auf die
wahre Ursache--die ich wenigstens für die wahre halte--, warum der
Fabulist die Tiere oft zu seiner Absicht bequemer findet als die
Menschen.--Ich setze sie in die allgemein bekannte Bestandheit der
Charaktere.--Gesetzt auch, es wäre noch so leicht, in der Geschichte
ein Exempel zu finden, in welchem sich diese oder jene moralische
Wahrheit anschauend erkennen ließe. Wird sie sich deswegen von jedem,
ohne Ausnahme, darin erkennen lassen? Auch von dem, der mit den
Charakteren der dabei interessierten Personen nicht vertraut ist?
Unmöglich! Und wieviel Personen sind wohl in der Geschichte so
allgemein bekannt, daß man sie nur nennen dürfte, um sogleich bei
einem jeden den Begriff von der ihnen zukommenden Denkungsart und
andern Eigenschaften zu erwecken? Die umständliche Charakterisierung
daher zu vermeiden, bei welcher es doch noch immer zweifelhaft ist, ob
sie bei allen die nämlichen Ideen hervorbringt, war man gezwungen,
sich lieber in die kleine Sphäre derjenigen Wesen einzuschränken, von
denen man es zuverlässig weiß, daß auch bei den Unwissendsten ihren
Benennungen diese und keine andere Idee entspricht. Und weil von
diesen Wesen die wenigsten ihrer Natur nach geschickt waren, die
Rollen freier Wesen über sich zu nehmen, so erweiterte man lieber die
Schranken ihrer Natur und machte sie, unter gewissen wahrscheinlichen
Voraussetzungen, dazu geschickt.
Man hört: Britannicus und Nero. Wie viele wissen, was sie hören? Wer
war dieser? Wer jener? In welchem Verhältnisse stehen sie
gegeneinander?--Aber man hört: der Wolf und das Lamm; sogleich weiß
jeder, was er höret, und weiß, wie sich das eine zu dem andern verhält.
Diese Wörter, welche stracks ihre gewissen Bilder in uns erwecken,
befördern die anschauende Erkenntnis, die durch jene Namen, bei
welchen auch die, denen sie nicht unbekannt sind, gewiß nicht alle
vollkommen ebendasselbe denken, verhindert wird. Wenn daher der
Fabulist keine vernünftigen Individua auftreiben kann, die sich durch
ihre bloße Benennungen in unsere Einbildungskraft schildern, so ist es
ihm erlaubt, und er hat Fug und Recht, dergleichen unter den Tieren
oder unter noch geringem Geschöpfen zu suchen. Man setze, in der
Fabel von dem Wolfe und dem Lamme, anstatt des Wolfes den Nero,
anstatt des Lammes den Britannicus, und die Fabel hat auf einmal alles
verloren, was sie zu einer Fabel für das ganze menschliche Geschlecht
macht. Aber man setze anstatt des Lammes und des Wolfes den Riesen
und den Zwerg, und sie verlieret schon weniger; denn auch der Riese
und der Zwerg sind Individua, deren Charakter, ohne weitere Hinzutuung,
ziemlich aus der Benennung erhellet. Oder man verwandle sie lieber
gar in folgende menschliche Fabel: "Ein Priester kam zu dem armen
Manne des Propheten [4] und sagte: Bringe dein weißes Lamm vor den
Altar, denn die Götter fordern ein Opfer. Der Arme erwiderte: mein
Nachbar hat eine zahlreiche Herde, und ich habe nur das einzige Lamm.
Du hast aber den Göttern ein Gelübde getan, versetzte dieser, weil sie
deine Felder gesegnet.--Ich habe kein Feld, war die Antwort.--Nun so
war es damals, als sie deinen Sohn von seiner Krankheit genesen
ließen--Oh, sagte der Arme, die Götter haben ihn selbst zum Opfer
hingenommen. Gottloser! zürnte der Priester, du lästerst! und riß das
Lamm aus seinem Schoße etc."--Und wenn in dieser Verwandlung die Fabel
noch weniger verloren hat, so kömmt es bloß daher, weil man mit dem
Worte Priester den Charakter der Habsüchtigkeit, leider, noch weit
geschwinder verbindet als den Charakter der Blutdürstigkeit mit dem
Worte Riese und durch den armen Mann des Propheten die Idee der
unterdrückten Unschuld noch leichter erregt wird als durch den Zwerg.
--Der beste Abdruck dieser Fabel, in welchem sie ohne Zweifel am
allerwenigsten verloren hat, ist die Fabel von der Katze und dem Hahne
[5]. Doch weil man auch hier sich das Verhältnis der Katze gegen den
Hahn nicht so geschwind denkt als dort das Verhältnis des Wolfes zum
Lamme, so sind diese noch immer die allerbequemsten Wesen, die der
Fabulist zu seiner Absicht hat wählen können.
{Fussnote 4: 2. B. Samuelis XII.}
{Fussnote 5: Fab. Aesop. 6.}
Der Verfasser der oben angeführten Critischen Briefe ist mit
Breitingern einerlei Meinung und sagt unter andern, in der erdichteten
Person des Hermann Axels [6]: "Die Fabel bekommt durch diese sonderbare
Personen ein wunderliches Ansehen. Es wäre keine ungeschickte Fabel,
wenn man dichtete: Ein Mensch sah auf einem hohen Baume die schönsten
Birnen hangen, die seine Lust, davon zu essen, mächtig reizeten. Er
bemühte sich lange, auf denselben hinaufzuklimmen, aber es war umsonst,
er mußte es endlich aufgeben. Indem er wegging, sagte er: Es ist mir
gesunder, daß ich sie noch länger stehenlasse, sie sind doch noch
nicht zeitig genug. Aber dieses Geschichtchen reizet nicht stark
genug; es ist zu platt etc."--Ich gestehe es Hermann Axeln zu; das
Geschichtchen ist sehr platt und verdienet nichts weniger als den
Namen einer guten Fabel. Aber ist es bloß deswegen so platt geworden,
weil kein Tier darin redet und handelt? Gewiß nicht; sondern es ist
es dadurch geworden, weil er das Individuum, den Fuchs, mit dessen
bloßem Namen wir einen gewissen Charakter verbinden, aus welchem sich
der Grund von der ihm zugeschriebenen Handlung angeben läßt, in ein
anders Individuum verwandelt hat, dessen Name keine Idee eines
bestimmten Charakters in uns erwecket. "Ein Mensch!" Das ist ein viel
zu allgemeiner Begriff für die Fabel. An was für eine Art von
Menschen soll ich dabei denken? Es gibt deren so viele! Aber "ein
Fuchs!" Der Fabulist weiß nur von einem Fuchse, und sobald er mir das
Wort nennt, fallen auch meine Gedanken sogleich nur auf einen
Charakter. Anstatt des Menschen überhaupt hätte Hermann Axel also
wenigstens einen Gasconier setzen müssen. Und alsdenn würde er wohl
gefunden haben, daß die Fabel, durch die bloße Weglassung des Tieres,
so viel eben nicht verlöre, besonders wenn er in dem nämlichen
Verhältnisse auch die übrigen Umstände geändert und den Gasconier nach
etwas mehr als nach Birnen lüstern gemacht hätte.
{Fussnote 6: S. 166.}
Da also die allgemein bekannten und unveränderlichen Charaktere der
Tiere die eigentliche Ursache sind, warum sie der Fabulist zu
moralischen Wesen erhebt, so kömmt mir es sehr sonderbar vor, wenn man
es einem zum besondern Ruhme machen will, "daß der Schwan in seinen
Fabeln nicht singe, noch der Pelikan sein Blut für seine Jungen
vergieße" [7].--Als ob man in den Fabelbüchern die Naturgeschichte
studieren sollte! Wenn dergleichen Eigenschaften allgemein bekannt
sind, so sind sie wert, gebraucht zu werden, der Naturalist mag sie
bekräftigen oder nicht. Und derjenige, der sie uns, es sei durch
seine Exempel oder durch seine Lehre, aus den Händen spielen will, der
nenne uns erst andere Individua, von denen es bekannt ist, daß ihnen
die nämlichen Eigenschaften in der Tat zukommen.
{Fussnote 7: Man sehe die kritische Vorrede zu M. v. K. neuen Fabeln.}
Je tiefer wir auf der Leiter der Wesen herabsteigen, desto seltner
kommen uns dergleichen allgemein bekannte Charaktere vor. Dieses ist
denn auch die Ursache, warum sich der Fabulist so selten in dem
Pflanzenreiche, noch seltener in dem Steinreiche und am
allerseltensten vielleicht unter den Werken der Kunst finden läßt.
Denn daß es deswegen geschehen sollte, weil es stufenweise immer
unwahrscheinlicher werde, daß diese geringern Werke der Natur und
Kunst empfinden, denken und sprechen könnten, will mir nicht ein. Die
Fabel von dem ehernen und dem irdenen Topfe ist nicht um ein Haar
schlechter oder unwahrscheinlicher als die beste Fabel z. E. von
einem Affen, so nahe auch dieser dem Menschen verwandt ist, und so
unendlich weit jene von ihm abstehen.
Indem ich aber die Charaktere der Tiere zur eigentlichen Ursache ihres
vorzüglichen Gebrauchs in der Fabel mache, will ich nicht sagen, daß
die Tiere dem Fabulisten sonst zu weiter gar nichts nützten. Ich weiß
es sehr wohl, daß sie unter andern in der zusammengesetzten Fabel das
Vergnügen der Vergleichung um ein großes vermehren, welches alsdenn
kaum merklich ist, wenn, sowohl der wahre als der erdichtete einzelne
Fall, beide aus handelnden Personen von einerlei Art, aus Menschen,
bestehen. Da aber dieser Nutzen, wie gesagt, nur in der
zusammengesetzten Fabel stattfindet, so kann er die Ursache nicht sein,
warum die Tiere auch in der einfachen Fabel, und also in der Fabel
überhaupt, dem Dichter sich gemeiniglich mehr empfehlen als die
Menschen.
Ja, ich will es wagen, den Tieren und andern geringern Geschöpfen in
der Fabel noch einen Nutzen zuzuschreiben, auf welchen ich vielleicht
durch Schlüsse nie gekommen wäre, wenn mich nicht mein Gefühl darauf
gebracht hätte. Die Fabel hat unsere klare und lebendige Erkenntnis
eines moralischen Satzes zur Absicht. Nichts verdunkelt unsere
Erkenntnis mehr als die Leidenschaften. Folglich muß der Fabulist die
Erregung der Leidenschaften soviel als möglich vermeiden. Wie kann er
aber anders z. B. die Erregung des Mitleids vermeiden, als wenn er
die Gegenstände desselben unvollkommener macht und anstatt der
Menschen Tiere oder noch geringere Geschöpfe annimmt? Man erinnere
sich noch einmal der Fabel von dem Wolfe und Lamme, wie sie oben in
die Fabel von dem Priester und dem armen Manne des Propheten
verwandelt worden. Wir haben Mitleiden mit dem Lamme; aber dieses
Mitleiden ist so schwach, daß es unserer anschauenden Erkenntnis des
moralischen Satzes keinen merklichen Eintrag tut. Hingegen wie ist es
mit dem armen Manne? Kömmt es mir nur so vor, oder ist es wirklich
wahr, daß wir mit diesem viel zuviel Mitleiden haben und gegen den
Priester viel zuviel Unwillen empfinden, als daß die anschauende
Erkenntnis des moralischen Satzes hier ebenso klar sein könnte, als
sie dort ist?


III. Von der Einteilung der Fabeln

Die Fabeln sind verschiedener Einteilungen fähig. Von einer, die sich
aus der verschiednen Anwendung derselben ergibt, habe ich gleich
anfangs geredet. Die Fabeln nämlich werden entweder bloß auf einen
allgemeinen moralischen Satz angewendet und heißen einfache Fabeln,
oder sie werden auf einen wirklichen Fall angewendet, der mit der
Fabel unter einem und ebendemselben moralischen Satze enthalten ist,
und heißen zusammengesetzte Fabeln. Der Nutzen dieser Einteilung hat
sich bereits an mehr als einer Stelle gezeiget.
Eine andere Einteilung würde sich aus der verschiednen Beschaffenheit
des moralischen Satzes herholen lassen. Es gibt nämlich moralische
Sätze, die sich besser in einem einzeln Falle ihres Gegenteils als in
einem einzeln Falle, der unmittelbar unter ihnen begriffen ist,
anschauend erkennen lassen. Fabeln also, welche den moralischen Satz
in einem einzeln Falle des Gegenteils zur Intuition bringen, würde man
vielleicht indirekte Fabeln, so wie die andern direkte Fabeln nennen
können.
Doch von diesen Einteilungen ist hier nicht die Frage; noch viel
weniger von jener unphilosophischen Einteilung nach den verschiedenen
Erfindern oder Dichtern, die sich einen vorzüglichen Namen damit
gemacht haben. Es hat den Kunstrichtern gefallen, ihre gewöhnliche
Einteilung der Fabel von einer Verschiedenheit herzunehmen, die mehr
in die Augen fällt; von der Verschiedenheit nämlich der darin
handelnden Personen. Und diese Einteilung ist es, die ich hier näher
betrachten will.
Aphthonius ist ohne Zweifel der älteste Skribent, der ihrer erwähnst.
Tou de muJou, sagt er in seinen Vorübungen, to men esti logikon, to de
hJikon, to de mikton. Kai logikon men en w ti poiwn anJrwpoV
peplastai: mikton de to ex amjoterwn alogou kai logikou. Es gibt drei
Gattungen von Fabeln, die vernünftige, in welcher der Mensch die
handelnde Person ist, die sittliche, in welcher unvernünftige Wesen
aufgeführet werden, die vermischte, in welcher sowohl unvernünftige
als vernünftige Wesen vorkommen.--Der Hauptfehler dieser Einteilung,
welcher sogleich einem jeden in die Augen leuchtet, ist der, daß sie
das nicht erschöpft, was sie erschöpfen sollte. Denn wo bleiben
diejenigen Fabeln, die aus Gottheiten und allegorischen Personen
bestehen? Aphthonius hat die vernünftige Gattung ausdrücklich auf den
einzigen Menschen eingeschränkt. Doch wenn diesem Fehler auch
abzuhelfen wäre, was kann dem ohngeachtet roher und mehr von der
obersten Fläche abgeschöpft sein als diese Einteilung? Öffnet sie
uns nur auch die geringste freiere Einsicht in das Wesen der Fabel?
Batteux würde daher ohne Zweifel ebenso wohl getan haben, wenn er von
der Einteilung der Fabel gar geschwiegen hätte, als daß er uns mit
jener kahlen aphthonianischen abspeisen will. Aber was wird man
vollends von ihm sagen, wenn ich zeige, daß er sich hier auf einer
kleinen Tücke treffen läßt? Kurz zuvor sagt er unter andern von den
Personen der Fabel: "Man hat hier nicht allein den Wolf und das Lamm,
die Eiche und das Schilf, sondern auch den eisernen und den irdenen
Topf ihre Rollen spielen sehen. Nur der Herr Verstand und das
Fräulein Einbildungskraft und alles, was ihnen ähnlich siehet, sind
von diesem Theater ausgeschlossen worden, weil es ohne Zweifel
schwerer ist, diesen bloß geistigen Wesen einen charaktermäßigen
Körper zu geben, als Körpern, die einige Analogie mit unsern Organen
haben, Geist und Seele zu geben." [1]--Merkt man, wider wen dieses
geht? Wider den de La Motte, der sich in seinen Fabeln der
allegorischen Wesen sehr häufig bedienet. Da dieses nun nicht nach
dem Geschmacke unsers oft mehr eckeln als feinen Kunstrichters war, so
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