Abhandlungen über die Fabel - 2

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es selbst empfunden und hat sich aus der Verlegenheit, welche Lehre er
allein daraus ziehen solle, nicht besser zu reißen gewußt, als wenn er
deren so viele daraus zöge als sich nur immer ziehen ließen. Denn er
schließt:
Quot res contineat hoc argumentum utiles,
Non explicabit alius, quam qui repperit.
Significat primo, saepe, quos ipse alueris,
Tibi inveniri maxime contrarios.
Secundo ostendit, scelera non ira Deûm,
Fatorum dicto sed puniri tempore.
Novissime interdicit, ne cum malefico
Usum bonus consociet ullius rei.

Eine elende Fabel, wenn niemand anders als ihr Erfinder es erklären
kann, wieviel nützliche Dinge sie enthalte! Wir hätten an einem genug!
--Kaum sollte man es glauben, daß einer von den Alten, einer von
diesen großen Meistern in der Einfalt ihrer Plane, uns dieses
Histörchen für eine Fabel [5] verkaufen können.
{Fussnote 5: Phaedrus libr. IV. Fab. 10}

Breitinger

Ich würde von diesem großen Kunstrichter nur wenig gelernt haben, wenn
er in meinen Gedanken noch überall recht hätte.--Er gibt uns aber eine
doppelte Erklärung von der Fabel [1]. Die eine hat er von dem de La
Motte entlehnet, und die andere ist ihm ganz eigen.
{Fussnote 1: Der Critischen Dichtkunst ersten Bandes siebender
Abschnitt, S. 194.}
Nach jener versteht er unter der Fabel eine unter der wohlgeratenen
Allegorie einer ähnlichen Handlung verkleidete Lehre und Unterweisung.
--Der klare, übersetzte de La Motte! Und der ein wenig gewässerte:
könnte man noch dazusetzen. Denn was sollen die Beiwörter:
wohlgeratene Allegorie, ähnliche Handlung? Sie sind höchst
überflüssig.
Doch ich habe eine andere wichtigere Anmerkung auf ihn versparet.
Richer sagt: die Lehre solle unter dem allegorischen Bilde versteckt
(caché) sein. Versteckt! welch ein unschickliches Wort! In manchem
Rätsel sind Wahrheiten, in den Pythagorischen Denksprüchen sind
moralische Lehren versteckt, aber in keiner Fabel. Die Klarheit, die
Lebhaftigkeit, mit welcher die Lehre aus allen Teilen einer guten
Fabel auf einmal hervorstrahlet, hätte durch ein ander Wort als durch
das ganz widersprechende versteckt ausgedrückt zu werden verdienet.
Sein Vorgänger de La Motte hatte sich um ein gut Teil feiner erklärt;
er sagt doch nur verkleidet (deguisé). Aber auch verkleidet ist noch
viel zu unrichtig, weil auch verkleidet den Nebenbegriff einer
mühsamen Erkennung mit sich führet. Und es muß gar keine Mühe kosten,
die Lehre in der Fabel zu erkennen; es müßte vielmehr, wenn ich so
reden darf, Mühe und Zwang kosten, sie darin nicht zu erkennen. Aufs
höchste würde sich dieses verkleidet nur in Ansehung der
zusammengesetzten Fabel entschuldigen lassen. In Ansehung der
einfachen ist es durchaus nicht zu dulden. Von zwei ähnlichen einzeln
Fällen kann zwar einer durch den andern ausgedrückt, einer in den
andern verkleidet werden: aber wie man das Allgemeine in das Besondere
verkleiden könne, das begreife ich ganz und gar nicht. Wollte man mit
aller Gewalt ein ähnliches Wort hier brauchen, so müßte es anstatt
verkleiden wenigstens einkleiden heißen.
Von einem deutschen Kunstrichter hätte ich überhaupt dergleichen
figürliche Wörter in einer Erklärung nicht erwartet. Ein Breitinger
hätte es den schön vernünftelnden Franzosen überlassen sollen, sich
damit aus dem Handel zu wickeln; und ihm würde es sehr wohl
angestanden haben, wenn er uns mit den trocknen Worten der Schule
belehrt hätte, daß die moralische Lehre in die Handlung weder
versteckt noch verkleidet, sondern durch sie der anschauenden
Erkenntnis fähig gemacht werde. Ihm würde es erlaubt gewesen sein,
uns von der Natur dieser auch der rohesten Seele zukommenden
Erkenntnis, von der mit ihr verknüpften schnellen Überzeugung, von
ihrem daraus entspringenden mächtigen Einflusse auf den Willen das
Nötige zu lehren. Eine Materie, die durch den ganzen spekulativischen
Teil der Dichtkunst von dem größten Nutzen ist und von unserm
Weltweisen schon gnugsam erläutert war [2]!--Was Breitinger aber damals
unterlassen, das ist mir, itzt nachzuholen, nicht mehr erlaubt. Die
philosophische Sprache ist seitdem unter uns so bekannt geworden, daß
ich mich der Wörter anschauen, anschauender Erkenntnis gleich von
Anfange als solcher Wörter ohne Bedenken habe bedienen dürfen, mit
welchen nur wenige nicht einerlei Begriff verbinden.
{Fussnote 2: Ich kann meine Verwunderung nicht bergen, daß Herr
Breitinger das, was Wolf schon damals von der Fabel gelehret hatte,
auch nicht im geringsten gekannt zu haben scheinet. Wolfii
Philosophiae practicae universalis pars posterior §§ 302-323. Dieser
Teil erschien 1739, und die Breitingersche Dichtkunst erst das Jahr
darauf.}
Ich käme zu der zweiten Erklärung, die uns Breitinger von der Fabel
gibt. Doch ich bedenke, daß ich diese bequemer an einem andern Orte
werde untersuchen können.--Ich verlasse ihn also.

Batteux

Batteux erkläret die Fabel kurzweg durch die Erzählung einer
allegorischen Handlung [1]. Weil er es zum Wesen der Allegorie macht,
daß sie eine Lehre oder Wahrheit verberge, so hat er ohne Zweifel
geglaubt, des moralischen Satzes, der in der Fabel zum Grunde liegt,
in ihrer Erklärung gar nicht erwähnen zu dürfen. Man siehet sogleich,
was von meinen bisherigen Anmerkungen auch wider diese Erklärung
anzuwenden ist. Ich will mich daher nicht wiederholen, sondern bloß
die fernere Erklärung, welche Batteux von der Handlung gibt,
untersuchen.
{Fussnote 1: Principes de Litterature, Tome II. I. Partie p. V.
L'Apologue est le recit d'une action allegorique etc.}
"Eine Handlung, sagt Batteux, ist eine Unternehmung, die mit Wahl und
Absicht geschiehet.--Die Handlung setzet, außer dem Leben und der
Wirksamkeit, auch Wahl und Endzweck voraus und kömmt nur vernünftigen
Wesen zu."
Wenn diese Erklärung ihre Richtigkeit hat, so mögen wir nur neun
Zehnteile von allen existierenden Fabeln ausstreichen. Aesopus selbst
wird alsdann deren kaum zwei oder drei gemacht haben, welche die Probe
halten.--"Zwei Hähne kämpfen miteinander. Der Besiegte verkriecht
sich. Der Sieger fliegt auf das Dach, schlägt stolz mit den Flügeln
und krähet. Plötzlich schießt ein Adler auf den Sieger herab und
zerfleischt ihn." [2]--Ich habe das allezeit für eine sehr glückliche
Fabel gehalten, und doch fehlt ihr, nach dem Batteux, die Handlung.
Denn wo ist hier eine Unternehmung, die mit Wahl und Absicht
geschähe?--"Der Hirsch betrachtet sich in einer spiegelnden Quelle, er
schämt sich seiner dürren Läufte und freuet sich seines stolzen
Geweihes. Aber nicht lange! Hinter ihm ertönet die Jagd, seine
dürren Läufte bringen ihn glücklich ins Gehölze, da verstrickt ihn
sein stolzes Geweih, er wird erreicht." [3]--Auch hier sehe ich keine
Unternehmung, keine Absicht. Die Jagd ist zwar eine Unternehmung, und
der fliehende Hirsch hat die Absicht, sich zu retten, aber beide
Umstände gehören eigentlich nicht zur Fabel, weil man sie, ohne
Nachteil derselben, weglassen und verändern kann. Und dennoch fehlt
es ihr nicht an Handlung. Denn die Handlung liegt in dem falsch
befundenen Urteile des Hirsches. Der Hirsch urteilet falsch und
lernet gleich darauf aus der Erfahrung, daß er falsch geurteilet habe.
Hier ist also eine Folge von Veränderungen, die einen einzigen
anschauenden Begriff in mir erwecken.--Und das ist meine obige
Erklärung der Handlung, von der ich glaube, daß sie auf alle gute
Fabeln passen wird.
{Fussnote 2: Aesop. Fab. 145.}
{Fussnote 3: Fab. Aesop. 181.}
Gibt es aber doch wohl Kunstrichter, welche einen noch engern, und
zwar so materiellen Begriff mit dem Worte Handlung verbinden, daß sie
nirgends Handlung sehen, als wo die Körper so tätig sind, daß sie eine
gewisse Veränderung des Raumes erfordern. Sie finden in keinem
Trauerspiele Handlung, als wo der Liebhaber zu Füßen fällt, die
Prinzessin ohnmächtig wird, die Helden sich balgen, und in keiner
Fabel, als wo der Fuchs springt, der Wolf zerreißet und der Frosch die
Maus sich an das Bein bindet. Es hat ihnen nie beifallen wollen, daß
auch jeder innere Kampf von Leidenschaften, jede Folge von
verschiedenen Gedanken, wo eine die andere aufhebt, eine Handlung sei;
vielleicht weil sie viel zu mechanisch denken und fühlen, als daß sie
sich irgendeiner Tätigkeit dabei bewußt wären.--Ernsthafter sie zu
widerlegen würde eine unnütze Mühe sein. Es ist aber nur schade, daß
sie sich einigermaßen mit dem Batteux schützen, wenigstens behaupten
können, ihre Erklärung mit ihm aus einerlei Fabeln abstrahieret zu
haben. Denn wirklich, auf welche Fabel die Erklärung des Batteux
passet, passet auch ihre, so abgeschmackt sie immer ist.
Batteux, wie ich wohl darauf wetten wollte, hat bei seiner Erklärung
nur die erste Fabel des Phaedrus vor Augen gehabt, die er, mehr als
einmal, une des plus belles et des plus celebres de l'antiquité nennet.
Es ist wahr, in dieser ist die Handlung ein Unternehmen, das mit
Wahl und Absicht geschiehet. Der Wolf nimmt sich vor, das Schaf zu
zerreißen, fauce improba incitatus; er will es aber nicht so plump zu,
er will es mit einem Scheine des Rechts tun, und also jurgii causam
intulit.--Ich spreche dieser Fabel ihr Lob nicht ab; sie ist so
vollkommen, als sie nur sein kann. Allein sie ist nicht deswegen
vollkommen, weil ihre Handlung ein Unternehmen ist, das mit Wahl und
Absicht geschiehet, sondern weil sie ihrer Moral, die von einem
solchen Unternehmen spricht, ein völliges Genüge tut. Die Moral ist
[4]: oiV proJesiV adikein, par’ autoiV ou dikaiologia iscuei. Wer den
Vorsatz hat, einen Unschuldigen zu unterdrücken, der wird es zwar met’
eulogou aitiaV zu tun suchen; er wird einen scheinbaren Vorwand wählen,
aber sich im geringsten nicht von seinem einmal gefaßten Entschlusse
abbringen lassen, wenn sein Vorwand gleich völlig zuschanden gemacht
wird. Diese Moral redet von einem Vorsatze (dessein); sie redet von
gewissen, vor andern vorzüglich gewählten Mitteln, diesen Vorsatz zu
vollführen (choix): und folglich muß auch in der Fabel etwas sein, was
diesem Vorsatze, diesen gewählten Mitteln entspricht; es muß in der
Fabel sich ein Unternehmen finden, das mit Wahl und Absicht geschiehet.
Bloß dadurch wird sie zu einer vollkommenen Fabel, welches sie nicht
sein würde, wenn sie den geringsten Zug mehr oder weniger enthielte
als, den Lehrsatz anschauend zu machen, nötig ist. Batteux bemerkt
alle ihre kleinen Schönheiten des Ausdrucks und stellet sie von dieser
Seite in ein sehr vorteilhaftes Licht; nur ihre wesentliche
Vortrefflichkeit läßt er unerörtert und verleitet seine Leser sogar,
sie zu verkennen. Er sagt nämlich, die Moral, die aus dieser Fabel
fließe, sei: que le plus faible est souvent opprimé par le plus fort.
Wie seicht! Wie falsch! Wenn sie weiter nichts als dieses lehren
sollte, so hätte wahrlich der Dichter die fictae causae des Wolfs sehr
vergebens, sehr für die Langeweile erfunden; seine Fabel sagte mehr,
als er damit hätte sagen wollen, und wäre, mit einem Worte, schlecht.
{Fussnote 4: Fab. Aesop. 230.}
Ich will mich nicht in mehrere Exempel zerstreuen. Man untersuche es
nur selbst, und man wird durchgängig finden, daß es bloß von der
Beschaffenheit des Lehrsatzes abhängt, ob die Fabel eine solche
Handlung, wie sie Batteux ohne Ausnahme fodert, haben muß oder
entbehren kann. Der Lehrsatz der itzt erwähnten Fabel des Phaedrus
machte sie, wie wir gesehen, notwendig, aber tun es deswegen alle
Lehrsätze? Sind alle Lehrsätze von dieser Art? Oder haben allein die,
welche es sind, das Recht, in eine Fabel eingekleidet zu werden? Ist
z. E. der Erfahrungssatz
Laudatis utiliora quae contemseris
Saepe inveniri

nicht wert, in einem einzeln Falle, welcher die Stelle einer
Demonstration vertreten kann, erkannt zu werden? Und wenn er es ist,
was für ein Unternehmen, was für eine Absicht, was für eine Wahl liegt
darin, welche der Dichter auch in der Fabel auszudrücken gehalten wäre?
So viel ist wahr: wenn aus einem Erfahrungssatze unmittelbar eine
Pflicht, etwas zu tun oder zu lassen, folget, so tut der Dichter
besser, wenn er die Pflicht, als wenn er den bloßen Erfahrungssatz in
seiner Fabel ausdrückt.--"Groß sein ist nicht immer ein Glück"--diesen
Erfahrungssatz in eine schöne Fabel zu bringen möchte kaum möglich
sein. Die obige Fabel von dem Fischer, welcher nur der größten Fische
habhaft bleibet, indem die kleinern glücklich durch das Netz
durchschlupfen, ist, in mehr als einer Betrachtung, ein sehr
mißlungener Versuch. Aber wer heißt auch dem Dichter, die Wahrheit
von dieser schielenden und unfruchtbaren Seite nehmen? Wenn groß sein
nicht immer ein Glück ist, so ist es oft ein Unglück; und wehe dem,
der wider seinen Willen groß ward, den das Glück ohne sein Zutun erhob,
um ihn ohne sein Verschulden desto elender zu machen! Die großen
Fische mußten groß werden; es stand nicht bei ihnen, klein zu bleiben.
Ich danke dem Dichter für kein Bild, in welchem ebenso viele ihr
Unglück als ihr Glück erkennen. Er soll niemanden mit seinen
Umständen unzufrieden machen; und hier macht er doch, daß es die
Großen mit den ihrigen sein müssen. Nicht das Großsein, sondern die
eitele Begierde groß zu werden (kenodoxian), sollte er uns als eine
Quelle des Unglücks zeigen. Und das tat jener Alte [5], der die Fabel
von den Mäusen und Wieseln erzählte. "Die Mäuse glaubten, daß sie nur
deswegen in ihrem Kriege mit den Wieseln so unglücklich wären, weil
sie keine Heerführer hätten, und beschlossen, dergleichen zu wählen.
Wie rang nicht diese und jene ehrgeizige Maus, es zu werden! Und wie
teuer kam ihr am Ende dieser Vorzug zu stehen! Die Eiteln banden sich
Hörner auf,
{Fussnote 5: Fab. Aesop. 243. Phaedrus libr. IV. Fab. 5.}
"-- ut conspicuum in praelio
Haberent signum, quod sequerentur milites,

"und diese Hörner, als ihr Heer dennoch wieder geschlagen ward,
hinderten sie, sich in ihre engen Löcher zu retten,
"Haesere in portis, suntque capti ab hostibus
Quos immolatos victor avidis dentibus
Capacis alvi mersit tartareo specu."

Diese Fabel ist ungleich schöner. Wodurch ist sie es aber anders
geworden, als dadurch, daß der Dichter die Moral bestimmter und
fruchtbarer angenommen hat? Er hat das Bestreben nach einer eiteln
Größe, und nicht die Größe überhaupt, zu seinem Gegenstande gewählet;
und nur durch dieses Bestreben, durch diese eitle Größe, ist
natürlicherweise auch in seine Fabel das Leben gekommen, das uns so
sehr in ihr gefällt.
Überhaupt hat Batteux die Handlung der aesopischen Fabel mit der
Handlung der Epopee und des Drama viel zu sehr verwirrt. Die Handlung
der beiden letztern muß außer der Absicht, welche der Dichter damit
verbindet, auch eine innere, ihr selbst zukommende Absicht haben. Die
Handlung der erstern braucht diese innere Absicht nicht, und sie ist
vollkommen genug, wenn nur der Dichter seine Absicht damit erreichet.
Der heroische und dramatische Dichter machen die Erregung der
Leidenschaften zu ihrem vornehmsten Endzwecke. Er kann sie aber nicht
anders erregen als durch nachgeahmte Leidenschaften; und nachahmen
kann er die Leidenschaften nicht anders, als wenn er ihnen gewisse
Ziele setzet, welchen sie sich zu nähern oder von welchen sie sich zu
entfernen streben. Er muß also in die Handlung selbst Absichten legen,
und diese Absichten unter eine Hauptabsicht so zu bringen wissen, daß
verschiedene Leidenschaften nebeneinander bestehen können. Der
Fabuliste hingegen hat mit unsern Leidenschaften nichts zu tun,
sondern allein mit unserer Erkenntnis. Er will uns von irgendeiner
einzeln moralischen Wahrheit lebendig überzeugen. Das ist seine
Absicht, und diese sucht er, nach Maßgebung der Wahrheit, durch die
sinnliche Vorstellung einer Handlung bald mit, bald ohne Absichten zu
erhalten. Sobald er sie erhalten hat, ist es ihm gleichviel, ob die
von ihm erdichtete Handlung ihre innere Endschaft erreicht hat oder
nicht. Er läßt seine Personen oft mitten auf dem Wege stehen und
denket im geringsten nicht daran, unserer Neugierde ihretwegen ein
Genüge zu tun. "Der Wolf beschuldiget den Fuchs eines Diebstahls.
Der Fuchs leugnet die Tat. Der Affe soll Richter sein. Kläger und
Beklagter bringen ihre Gründe und Gegengründe vor. Endlich schreitet
der Affe zum Urteil [6]:
{Fussnote 6: Phaedrus libr. I. Fab. 10.}
"Tu non videris perdidisse, quod petis;
Te credo surripuisse, quod pulchre negas."

Die Fabel ist aus; denn in dem Urteil des Affen lieget die Moral, die
der Fabulist zum Augenmerke gehabt hat. Ist aber das Unternehmen aus,
das uns der Anfang derselben verspricht? Man bringe diese Geschichte
in Gedanken auf die komische Bühne, und man wird sogleich sehen, daß
sie durch einen sinnreichen Einfall abgeschnitten, aber nicht geendigt
ist. Der Zuschauer ist nicht zufrieden, wenn er voraussiehet, daß die
Streitigkeit hinter der Szene wieder von vorne angehen muß.--"Ein
armer geplagter Greis ward unwillig, warf seine Last von dem Rücken
und rief den Tod. Der Tod erscheinet. Der Greis erschrickt und fühlt
betroffen, daß elend leben doch besser als gar nicht leben ist. Nun,
was soll ich? fragt der Tod. Ach, lieber Tod, mir meine Last wieder
aufhelfen." [7]--Der Fabulist ist glücklich und zu unserm Vergnügen an
seinem Ziele. Aber auch die Geschichte? Wie ging es dem Greise?
Ließ ihn der Tod leben, oder nahm er ihn mit? Um alle solche Fragen
bekümmert sich der Fabulist nicht; der dramatische Dichter aber muß
ihnen vorbauen.
{Fussnote 7: Fab. Aesop. 20.}
Und so wird man hundert Beispiele finden, daß wir uns zu einer
Handlung für die Fabel mit weit wenigerm begnügen als zu einer
Handlung für das Heldengedichte oder das Drama. Will man daher eine
allgemeine Erklärung von der Handlung geben, so kann man unmöglich die
Erklärung des Batteux dafür brauchen, sondern muß sie notwendig so
weitläuftig machen, als ich es oben getan habe.--Aber der
Sprachgebrauch? wird man einwerfen. Ich gestehe es; dem
Sprachgebrauche nach heißt gemeiniglich das eine Handlung, was einem
gewissen Vorsatze zufolge unternommen wird; dem Sprachgebrauche nach
muß dieser Vorsatz ganz erreicht sein, wenn man soll sagen können, daß
die Handlung zu Ende sei. Allein was folgt hieraus? Dieses: wem der
Sprachgebrauch so gar heilig ist, daß er ihn auf keine Weise zu
verletzen wagt, der enthalte sich des Wortes Handlung, insofern es
eine wesentliche Eigenschaft der Fabel ausdrücken soll, ganz und gar.--
Und, alles wohl überlegt, dem Rate werde ich selbst folgen. Ich will
nicht sagen, die moralische Lehre werde in der Fabel durch eine
Handlung ausgedrückt, sondern ich will lieber ein Wort von einem
weitern Umfange suchen und sagen, der allgemeine Satz werde durch die
Fabel auf einen einzeln Fall zurückgeführet. Dieser einzelne Fall
wird allezeit das sein, was ich oben unter dem Worte Handlung
verstanden habe; das aber, was Batteux darunter verstehet, wird er nur
dann und wann sein. Er wird allezeit eine Folge von Veränderungen
sein, die durch die Absicht, die der Fabulist damit verbindet, zu
einem Ganzen werden. Sind sie es auch außer dieser Absicht, desto
besser! Eine Folge von Veränderungen--daß es aber Veränderungen
freier, moralischer Wesen sein müssen, verstehet sich von selbst.
Denn sie sollen einen Fall ausmachen, der unter einem Allgemeinen, das
sich nur von moralischen Wesen sagen läßt, mit begriffen ist. Und
darin hat Batteux freilich recht, daß das, was er die Handlung der
Fabel nennet, bloß vernünftigen Wesen zukomme. Nur kömmt es ihnen
nicht deswegen zu, weil es ein Unternehmen mit Absicht ist, sondern
weil es Freiheit voraussetzt. Denn die Freiheit handelt zwar allezeit
aus Gründen, aber nicht allezeit aus Absichten.---
Sind es meine Leser nun bald müde, mich nichts als widerlegen zu
hören? Ich wenigstens bin es. De La Motte, Richer, Breitinger,
Batteux sind Kunstrichter von allerlei Art, mittelmäßige, gute,
vortreffliche. Man ist in Gefahr, sich auf dem Wege zur Wahrheit zu
verirren, wenn man sich um gar keine Vorgänger bekümmert; und man
versäumt sich ohne Not, wenn man sich um alle bekümmern will.
Wie weit bin ich? Hui, daß mir meine Leser alles, was ich mir so
mühsam erstritten habe, von selbst geschenkt hätten!--In der Fabel
wird nicht eine jede Wahrheit, sondern ein allgemeiner moralischer
Satz nicht unter die Allegorie einer Handlung, sondern auf einen
einzeln Fall nicht versteckt oder verkleidet, sondern so
zurückgeführet, daß ich nicht bloß einige Ähnlichkeiten mit dem
moralischen Satze in ihm entdecke, sondern diesen ganz anschauend
darin erkenne.
Und das ist das Wesen der Fabel? Das ist es, ganz erschöpft?--Ich
wollte es gern meine Leser bereden, wenn ich es nur erst selbst
glaubte.--Ich lese bei dem Aristoteles [1]: "Eine obrigkeitliche Person
durch das Los ernennen ist eben, als wenn ein Schiffsherr, der einen
Steuermann braucht, es auf das Los ankommen ließe, welcher von seinen
Matrosen es sein sollte, anstatt daß er den allergeschicktesten dazu
unter ihnen mit Fleiß aussuchte."--Hier sind zwei besondere Fälle, die
unter eine allgemeine moralische Wahrheit gehören. Der eine ist der
sich eben itzt äußernde, der andere ist der erdichtete. Ist dieser
erdichtete eine Fabel? Niemand wird ihn dafür gelten lassen.--Aber
wenn es bei dem Aristoteles so hieße: "Ihr wollt euren Magistrat durch
das Los ernennen? Ich sorge, es wird euch gehen wie jenem
Schiffsherrn, der, als es ihm an einem Steuermanne fehlte etc." Das
verspricht doch eine Fabel? Und warum? Welche Veränderung ist damit
vorgegangen? Man betrachte alles genau, und man wird keine finden als
diese: Dort ward der Schiffsherr durch ein als wenn eingeführt, er
ward bloß als möglich betrachtet; und hier hat er die Wirklichkeit
erhalten, es ist hier ein gewisser, es ist jener Schiffsherr.
{Fussnote 1: Aristoteles Rhetor. libr. II. cap. 20.}
Das trifft den Punkt! Der einzelne Fall, aus welchem die Fabel
bestehet, muß als wirklich vorgestellet werden. Begnüge ich mich an
der Möglichkeit desselben, so ist es ein Beispiel, eine Parabel.--Es
verlohnt sich der Mühe, diesen wichtigen Unterschied, aus welchem man
allein so viel zweideutigen Fabeln das Urteil sprechen muß, an einigen
Exempeln zu zeigen.--Unter den aesopischen Fabeln des Planudes lieset
man auch folgendes: "Der Biber ist ein vierfüßiges Tier, das meistens
im Wasser wohnet und dessen Geilen in der Medizin von großem Nutzen
sind. Wenn nun dieses Tier von den Menschen verfolgt wird und ihnen
nicht mehr entkommen kann, was tut es? Es beißt sich selbst die
Geilen ab und wirft sie seinen Verfolgern zu. Denn es weiß gar wohl,
daß man ihm nur dieserwegen nachstellet und es sein Leben und seine
Freiheit wohlfeiler nicht erkaufen kann." [2]--Ist das eine Fabel? Es
liegt wenigstens eine vortreffliche Moral darin. Und dennoch wird
sich niemand bedenken, ihr den Namen einer Fabel abzusprechen. Nur
über die Ursache, warum er ihr abzusprechen sei, werden sich
vielleicht die meisten bedenken und uns doch endlich eine falsche
angeben. Es ist nichts als eine Naturgeschichte: würde man vielleicht
mit dem Verfasser der Critischen Briefe [3] sagen. Aber gleichwohl,
würde ich mit ebendiesem Verfasser antworten, handelt hier der Biber
nicht aus bloßem Instinkt, er handelt aus freier Wahl und nach reifer
Überlegung, denn er weiß es, warum er verfolgt wird (ginwskwn ou carin
diwketai). Diese Erhebung des Instinkts zur Vernunft, wenn ich ihm
glauben soll, macht es ja eben, daß eine Begegnis aus dem Reiche der
Tiere zu einer Fabel wird. Warum wird sie es denn hier nicht? Ich
sage: sie wird es deswegen nicht, weil ihr die Wirklichkeit fehlet.
Die Wirklichkeit kömmt nur dem Einzeln, dem Individuo zu, und es läßt
sich keine Wirklichkeit ohne die Individualität gedenken. Was also
hier von dem ganzen Geschlechte der Biber gesagt wird, hätte müssen
nur von einem einzigen Biber gesagt werden, und alsdenn wäre es eine
Fabel geworden.--Ein ander Exempel: "Die Affen, sagt man, bringen zwei
Junge zur Welt, wovon sie das eine sehr heftig lieben und mit aller
möglichen Sorgfalt pflegen, das andere hingegen hassen und versäumen.
Durch ein sonderbares Geschick aber geschieht es, daß die Mutter das
Geliebte unter häufigen Liebkosungen erdrückt, indem das Verachtete
glücklich aufwächset." [4] Auch dieses ist aus ebender Ursache, weil
das, was nur von einem Individuo gesagt werden sollte, von einer
ganzen Art gesagt wird, keine Fabel. Als daher l'Estrange eine Fabel
daraus machen wollte, mußte er ihm diese Allgemeinheit nehmen und die
Individualität dafür erteilen [5]. "Eine Äffin, erzählt er, hatte zwei
Junge; in das eine war sie närrisch verliebt, an dem andern aber war
ihr sehr wenig gelegen. Einsmals überfiel sie ein plötzlicher
Schrecken. Geschwind rafft sie ihren Liebling auf, nimmt ihn in die
Arme, eilt davon, stürzt aber und schlägt mit ihm gegen einen Stein,
daß ihm das Gehirn aus dem zerschmetterten Schädel springt. Das
andere Junge, um das sie sich im geringsten nicht bekümmert hatte, war
ihr von selbst auf den Rücken gesprungen, hatte sich an ihre Schultern
angeklammert und kam glücklich davon."--Hier ist alles bestimmt; und
was dort nur eine Parabel war, ist hier zur Fabel geworden.--Das schon
mehr als einmal angeführte Beispiel von dem Fischer hat den nämlichen
Fehler; denn selten hat eine schlechte Fabel einen Fehler allein. Der
Fall ereignet sich allezeit, sooft das Netz gezogen wird, daß die
Fische, welche kleiner sind als die Gitter des Netzes, durchschlupfen
und die größern hängenbleiben. Für sich selbst ist dieser Fall also
kein individueller Fall, sondern hätte es durch andere mit ihm
verbundene Nebenumstände erst werden müssen.
{Fussnote 2: Fabul. Aesop. 33.}
{Fussnote 3: Critische Briefe. Zürich 1746. S. 168.}
{Fussnote 4: Fab. Aesop. 268.}
{Fussnote 5: In seinen Fabeln, so wie sie Richardson adoptiert hat,
die 187.}
Die Sache hat also ihre Richtigkeit: der besondere Fall, aus welchem
die Fabel bestehet, muß als wirklich vorgestellt werden; er muß das
sein, was wir in dem strengsten Verstande einen einzeln Fall nennen.
Aber warum? Wie steht es um die philosophische Ursache? Warum
begnügt sich das Exempel der praktischen Sittenlehre, wie man die
Fabel nennen kann, nicht mit der bloßen Möglichkeit, mit der sich die
Exempel andrer Wissenschaften begnügen?--Wieviel ließe sich hiervon
plaudern, wenn ich bei meinen Lesern gar keine richtige psychologische
Begriffe voraussetzen wollte. Ich habe mich oben schon geweigert, die
Lehre von der anschauenden Erkenntnis aus unserm Weltweisen
abzuschreiben. Und ich will auch hier nicht mehr davon beibringen als
unumgänglich nötig ist, die Folge meiner Gedanken zu zeigen.
Die anschauende Erkenntnis ist für sich selbst klar. Die symbolische
entlehnet ihre Klarheit von der anschauenden.
Das Allgemeine existierst nur in dem Besondern und kann nur in dem
Besondern anschauend erkannt werden.
Einem allgemeinen symbolischen Schlusse folglich alle die Klarheit zu
geben, deren er fähig ist, das ist, ihn soviel als möglich zu
erläutern, müssen wir ihn auf das Besondere reduzieren, um ihn in
diesem anschauend zu erkennen.
Ein Besonderes, insofern wir das Allgemeine in ihm anschauend erkennen,
heißt ein Exempel.
Die allgemeinen symbolischen Schlüsse werden also durch Exempel
erläutert. Alle Wissenschaften bestehen aus dergleichen symbolischen
Schlüssen; alle Wissenschaften bedürfen daher der Exempel.
Doch die Sittenlehre muß mehr tun als ihre allgemeinen Schlüsse bloß
erläutern; und die Klarheit ist nicht der einzige Vorzug der
anschauenden Erkenntnis.
Weil wir durch diese einen Satz geschwinder übersehen und so in einer
kürzern Zeit mehr Bewegungsgründe in ihm entdecken können, als wenn er
symbolisch ausgedrückt ist: so hat die anschauende Erkenntnis auch
einen weit größern Einfluß in den Willen als die symbolische.
Die Grade dieses Einflusses richten sich nach den Graden ihrer
Lebhaftigkeit; und die Grade ihrer Lebhaftigkeit nach den Graden der
nähern und mehrern Bestimmungen, in die das Besondere gesetzt wird.
Je näher das Besondere bestimmt wird, je mehr sich darin unterscheiden
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